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Kritische Reflexion der sexuellen Selbstbestimmung der Befragten

Im folgenden Abschnitt wird eine erste kritische Reflexion der sexuellen Selbst-bestimmung der Befragten vorgenommen. Dabei werden Aspekte hervorgehoben und Fragen gestellt, die für eine vollständige Reflexion der sexuellen Selbstbestimmung von Nöten sind. In diesem Zusammenhang sprach ich zudem mit drei Mitarbeitenden (kurz: G, H und I) der Einrichtung bei denen die Befragten wohnhaft sind.

Im Vorfeld der Gespräche mit den Bewohner/innen wurde eine Einwilligungserklärung von Seiten der gesetzlichen Betreuer/innen eingeholt. Die Einwilligungserklärung wurde zudem den teilnehmenden Bewohner/innen in leichter Sprache erklärt. Ein Vordruck dieser Einwilligungserklärung befindet sich in Anhang 5. Alle der Befragten erklärten sich im Vorhinein damit einverstanden, nachdem ich ihnen in einfacher Sprache erklärte worum es geht. So stellt sich mir hier die Frage, wieso die Einwilligung der Bewohner/innen selbst nicht genügt an einem solchen Gespräch teilzunehmen, wenn dies ihnen im Vorhinein adäquat erklärt wurde? Was sagt das über ihre Selbstbestimmung aus, wenn stets eine Einverständniserklärung seitens der gesetzlichen Betreuung von Nöten ist? Darüber hinaus was signalisiert dies für die Befragten? Auch wenn die Bedenken auf Seiten der Verantwortlichen nachvollziehbar

sind, verdeutlicht dies dennoch, dass auch hier die ausgesprochene Zusage seitens der Befragten mit einer geistigen Behinderung erst dann einen Wert hat, wenn die gesetzliche Betreuung einwilligt.

Auf der Suche nach Freiwilligen, die sich bereit erklären innerhalb eines Gesprächs mir über ihre sexuelle Erfahrungswelt zu berichten, sprach ich einen weiteren Bewohner an. Aufgrund des schwierigen Verhältnisses zur gesetzlichen Betreuung wurde mir geraten diesen außen vorzulassen mit der Begründung, dass das Thema um die Sexualität sehr sensibel sei. Man wisse nicht, wie die gesetzliche Betreuung darauf reagiere. Der besagte Bewohner jedoch schien für die Teilnahme an einem Gespräch offen. Er fragte mehrmals nach diesem Gespräch sowie über den Fortschritt meiner Arbeit. So erscheint es mir, dass dem Wunsch dieses Bewohners nicht nachgegangen wurde und er folglich durch Rahmenbedingungen, Handhabung seitens der Mitarbeitenden sowie seiner gesetzlichen Betreuung seine Selbstbestimmung eingeschränkt wurde.

Aus den Gesprächsausschnitten in Abschnitt 3.2 wird zudem deutlich, dass die Befragten unterschiedlich selbstbestimmt in ihrer Sexualität leben. So sind B und F sich über ihre Sexualität bewusst und leben diese nach ihren Wünschen aus.

Besonders bei F ist die sexuelle Selbstbestimmung besonders ausgeprägt wie der folgende Gesprächsausschnitt zeigt:

Ich verstehe unter Sexualität besonders, wenn man etwas nicht möchte und die Partnerin sagt, nein ich möchte das nicht, dass es eben wichtig ist eben auch akzeptieren tut. Wenn man nicht kuscheln möchte, dass man das eben auch akzeptieren tut. Das ist mir halt auch wichtig.

Diese Aussage signalisiert, dass nicht nur nach den eigenen Wünschen gehandelt wird, sondern diese auch in einer Beziehung zu dem Gegenüber stehen. Dies drückt den zu Anfangs genannten Aspekt der Selbstbestimmung als „eigenverantwortliche Entscheiden und autonomes Handeln in der Beziehung zum Du“ aus (Theunissen, 2013, S. 43).

Den Aspekt der „Beziehung zum Du“ ist jedoch bei B nicht vorhanden. Das wird bei ihrem Kinderwunsch deutlich. Sie bezieht eben nicht in ihrem Wunsch nach eigenen Kindern die Beziehung zu dem Gegenüber mit ein, sprich in diesem Fall die Beziehung zu den Pflegekindern und/oder ihrem Freund. Die Pflegekinder scheinen als Mittel (sprich: dem Lernen) zum Zweck (sprich: für eigene Kinder) zu dienen. Sie äußerte in unserem Gespräch zudem, dass sie nicht verhüten wolle, weil sie eben Kinder haben möchte. Ihr Freund findet keine Erwähnung in diesen Zusammenhängen.

G erzählte mir als Bezugsbetreuende folgendes in diesem Zusammenhang:

Ich habe noch nicht die Zeit bezüglich B. mich auseinander zu setzten. Sie ist

auch erst einmal an mich herangetreten. Beim Zimmer aufräumen hat sie mir das erzählt.

Hier wird eine weitere Eigenschaft der Kategorie „abhängige Sexualität“ deutlich. Der Mensch ist abhängig von Zeit und Engagement der Bezugsbetreuer, ob er / sie die Förderung beispielsweise in Form von Aufklärung über Familienplanung sowie den Besuch von Beratungsstellen erhält, um überhaupt sexuell selbstbestimmt leben zu können. Einen weiteren Aspekt dieser Abhängigkeit in der Förderung der sexuellen Selbstbestimmung macht folgendes Beispiel von H deutlich. H erzählte mir in unserem Gespräch von einer Situation bei der er zwei Bewohner/innen in einem Zimmer überraschte während sie einen pornographischen Film schauten. Er verließ darauf hin das Zimmer. Auf die Frage, ob er zu den beiden nochmals das Gespräch suchte, antwortete er mit „Nein“. Auch wenn die Wahrung der Privatsphäre der beiden Bewohner/innen hier zum Tragen kommt, stellt sich jedoch zeitgleich auch die Frage, wieso das offensichtliche Interesse an Sexualität nicht zum Anlass genommen wurde das Gespräch mit diesen Bewohner/innen in einer neutraleren Situation zu suchen. Der Hintergrund ist folgender: ein solches Gespräch kann den Kenntnisstand der Bewohner/innen über Sexualität in Erfahrung bringen. Dies birgt zudem die Möglichkeit auf einen möglichen Bedarf pädagogisch reagieren zu können und die Bewohner/innen dahingehend aufzuklären, dass das was in pornografischen Filmen gezeigt wird, nur einen Bruchteil von Sexualität darstellt.

G erwähnte einen weiteren Aspekt, der im Hinblick auf die sexuelle Selbstbestimmung der Befragten einen Einfluss haben könnte:

Einige Frauen gibt es hier, die wissen, dass es Dessous gibt und diese haben möchten, aber von zu Hause wie Kinder behandelt wurden und hier erst die Erwachsenen-Seite kennengelernt haben und sich auszuprobieren, jetzt Klamotten mäßig. (…) Wenn du immer klein gehalten wirst, immer als Kind behandelt wirst... Ich glaube, dass heutzutage die Generation der geistig-behinderten Menschen anders erzogen, offener erzogen werden, als die alte Generation. Mein armes behindertes Kind bleibt immer mein armes behindertes Kind und hat nichts mit der Erwachsenenwelt zu suchen, gerade bezüglich der Sexualität.

Besonders im Hinblick auf die Gesprächsausschnitte der Befragten A, C, D und E ist die Frage nach der sexuellen Selbstbestimmung auch im Hinblick auf den individuellen familiären Umgang zu durchleuchten. Dafür fehlen jedoch Informationen über den jeweiligen familialen ISA der Befragten. Erst dann kann deutlich reflektiert werden, inwieweit die widersprüchlichen Aussagen beispielsweise von A oder C ihre eigenen Wünsche reflektieren oder doch sogar beeinflusst wurden von ihrem familiären Umfeld und der Handhabung ihrer Sexualität im Elternhaus. Auch H weist auf diesen Aspekt hin:

Das was lange Jahre und was immer noch ein Problem ist, dass ihnen Sexualität abgesprochen wird. Ich glaube, dass viele Menschen daran nur an den Geschlechtsakt denken und und und... dass aber viel mehr dahinter hängt, wie z.B. die Umarmung am Morgen ist, so, oder ich renn mal eben nackig über den Flur, so, oder ich lasse prinzipiell beim Duschen meine Badezimmertür auf, hat ja alles mit Sexualität zu tun, sich zu definieren.

Folglich erscheint es mir zum jetzigen Stand der Datenerhebung als schwierig ein abschließendes Urteil aus den erhobenen Daten über die sexuelle Selbstbestimmung der Befragten zu formulieren. Viel mehr offenbart die Reflexion über ihrer sexuelle Selbstbestimmung weitere Ansatzpunkte für eine zukünftige Datenerhebung und weiterführende Fragen. Darüber hinaus lassen sich weitere Eigenschaften der Kategorie „Sexualität im Wandel“, „Sexualität als Problem“ und „Sexualität als Nicht-Existent“ aus den Gesprächsausschnitten heraus kristallisieren wie beispielsweise klein gehalten zu werden, als Kinder behandelt zu werden, das Wohnhaus als Ort des Kennenlernens der Erwachsenen-Seite des Lebens, Aberkennung der Sexualität, Begrenzung der Sexualität auf den Geschlechtsakt sowie eine Generationena-bhängigkeit. (Für eine zusammengefasste Darstellungen aller Kategorien mit ihren Eigenschaften und den weiterführenden Fragen siehe Anhang 4.)

Nach erster Reflexion kann geschlussfolgert werden, dass die sexuelle Selbst-bestimmung bei den Befragten unterschiedlich ausgeprägt ist auf Grund eines unterschiedlichen Levels des Verständnisses und der Aufklärung von und über Sexualität. Deutlich wird auch, dass die Förderung zu einem sexuell selbstbestimmten Leben in Abhängigkeit von Zeit, Engagement und Einstellungen der Mitarbeitenden steht. Des Weiteren scheint der familale ISA eine entscheidende Rolle dabei zu spielen. Ob dies tatsächlich so ist, müsste eine entsprechende vertiefende Datenerhebung zeigen.

4 Praxisbezug am Beispiel der Sexualität-AG der Lebenshilfe Osterholz

Im folgenden Kapitel wird zunächst das Konzept der Arbeitsgruppe Sexualität der Lebenshilfe Osterholz vorgestellt. Im Anschluss wird dieses analog zu den Erkenntnissen aus Kapitel 3 im Hinblick auf die Förderung der sexuellen Selbstbestimmung auf Seiten der Bewohner/innen evaluiert. Abschließend werden erste Empfehlungen für die Praxis ausgesprochen und die noch offenen Fragen für eine praktische Umsetzung aufgeworfen.

4.1. Das Konzept der Lebenshilfe Osterholz im Umgang mit