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2 Theoretische Grundlagen und empirische Befunde

2.3 Erklärungsmodelle zur Ätiologie und Aufrechterhaltung

2.3.2 Schutzfaktoren für die Entstehung von Essstörungen

2.3.2.1 Schutzfaktoren – allgemeine Aspekte

Da die im Kapitel 2.3.3.2 vorgestellte Typologie von Kraemer et al. (1997) sowie die damit verbundenen Methoden prinzipiell auch auf Schutzfaktoren für das Nicht-Eintreten einer Erkrankung o. ä. anwendbar sind (Jacobi & Esser, 2003), soll an dieser Stelle kurz auf die Rolle von Schutzfaktoren für Essstörungen eingegangen werden, zumal laut Bürgin und Steck (2008) „eine isolierte Betrachtung von Risiken, die nicht gleichzeitig auch protektive Prozesse berücksichtigt, in mancher Hinsicht als künstlich und wenig fruchtbar“ erscheint (S. 481).

Schutzfaktoren sind Einflussfaktoren, durch welche das Risiko zu erkranken im posi-tiven Sinne modifiziert werden kann. Die schädlichen Auswirkungen von Risikofakto-ren oder risikobehafteten Situationen werden abgeschwächt oder aufgehoben (Egle, Hoffmann & Steffens, 1997). Zwei Arten protektiver Faktoren werden in der Forschung

unterschieden: Schutzfaktoren, die in der Person verortet sind (personale Ressourcen, Resilienz = psychische Widerstandskraft), und Schutzfaktoren der Betreuungsumwelt des Kindes (soziale Ressourcen) (Jacobi & Esser, 2003).

Bei dieser Unterteilung gilt es zu berücksichtigen, dass sich nicht wenige personale Resilienzfaktoren in Beziehungen, in Interaktion mit dem familialen, sozialen und kul-turellen Umfeld, entwickeln. Resilienz sollte dabei nicht als eine statische Eigenschaft, sondern vielmehr als ein interaktives Konzept verstanden werden, als eine Handlungs-, Orientierungs- oder Verarbeitungsweise, die sich in verschiedenen Lebensphasen in unterschiedlicher Form manifestieren kann, und stets im Kontext vorhandener Risiken bestimmt werden muss (Bürgin & Steck, 2008; Rutter, 2006).

Rutter (1990) formuliert diesen Zusammenhang zwischen protektiven Prozessen und Risikomechanismen folgendermaßen:

Instead of searching for broadly based protective factors, we need to focus on protective mechanisms and processes (S. 182) ..., the crucial difference between vulnerability/protection processes and risk mechanisms is that the latter lead directly to disorder (either strongly or weakly), whereas the former operate indirectly, with their effects apparent only by virtue of their interactions with the risk variable. (S. 188)

Schützende Prozesse – und nicht bestimmte Variablen an sich – führen mittels Interak-tionen mit Risikofaktoren zu einer direkten Reduktion des Einflusses von Risikobedin-gungen und/oder reduzieren negative Kettenreaktionen, die infolge des Vorliegens von Risikofaktoren auftreten können. Risikoauswirkungen werden also durch bestimmte protektive Prozesse in eine günstige Richtung modifiziert (Luthar, 1993; Rutter, 1990).

Um die Widerstandsfähigkeit bestimmter Individuen angesichts eines hohen Ausma-ßes an Belastung besser zu verstehen, sollten demnach spezifisch Fragen nach Art und Weise der beteiligten Prozesse gestellt werden (Luthar, 1993; Luthar, Sawyer & Brown, 2006; Rutter, 1990): „What are the types of processes via which a particular attribute might moderate the effects of risk, with reference to a specific aspect of competence?“

(Luthar, 1993, S. 451). In den letzen Jahren gewinnen in diesem Zusammenhang zu-nehmend Studien an Bedeutung, welche versuchen, eine biologische Perspektive in the-oretische Konzepte und empirische Untersuchungen der Resilienzforschung (und der Risikoforschung) zu integrieren (Curtis & Cicchetti, 2003; O’Connor & Rutter, 1996;

Rutter, 2006).

Folgende personale und soziale Ressourcen, dargestellt in Tabelle 2.6, werden in der Literatur diskutiert.

Tabelle 2.6: Protektive Faktoren nach Laucht, Esser und Schmidt (1997)

Personale Ressourcen Soziale Ressourcen

Weibliches Geschlecht (in der Kindheit) Stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson

Erstgeborenes Kind Offenes, unterstützendes Erziehungs-klima

Positives Temperament (flexibel, aktiv, offen)

Familiärer Zusammenhalt Positives Selbstwertgefühl

(Selbstwirksamkeit)

Modelle positiver Bewältigung Intelligenz (> Durchschnitt) Soziale Unterstützung

Positives Sozialverhalten (sozial attraktiv)

Positive Freundschaftsbeziehungen Aktive Stressbewältigung Positive Schulerfahrungen

Zu den gesicherten Schutzfaktoren innerhalb familialer Beziehungen werden von Bür-gin und Steck (2008) zudem konkretisierend ein seelisch gesunder Ehe- und Bezie-hungspartner, der Aufbau und die Erhaltung einer guten Beziehung zu mindestens ei-nem Elternteil/einer primären Betreuungsperson, familiäre Harmonie sowie ein „easy temperament“ genannt.

Darüber hinaus können eine bessere sozioökonomische Situation, männliches Ge-schlecht nach der Präpubertät, keine organischen Defizite, ein jüngeres Alter zur Zeit eines Traumas, keine frühkindlichen Trennungen oder Verlusterfahrungen, eine gute Ausbildung, Engagement in organisierter religiöser Aktivität und im Glauben, Empathie und ein guter Sinn für Humor unter das Konzept der Schutzfaktoren subsumiert werden (Bürgin & Steck, 2008). Eine weitere Zusammenfassung von in Längs- und Quer-schnittstudien gesicherten protektiven Faktoren im Hinblick auf die Entstehung psychi-scher und psychosomatipsychi-scher Erkrankungen findet sich bei Egle et al. (1997).

Obwohl es v. a. in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer deutlichen Zunahme an Studien in dem Bereich Schutz- und Resilienzfaktoren gekommen ist, wurde von nicht wenigen Autoren die Nützlichkeit und die theoretische Fundierung des Resilienz-konstrukts in Frage gestellt (ein Überblick und eine Diskussion der geäußerten Kritik-punkte finden sich bei Luthar, Cicchetti und B. Becker, 2000).

Wenn man diese Auflistung potenzieller Schutzfaktoren betrachtet, wird laut Laucht et al. (1997), neben dem Problem begrifflicher Unschärfen, eines der Kernprobleme des Schutzfaktorenkonzepts deutlich: Nach Ansicht der Autoren besteht u. a. die Gefahr, dass protektive Faktoren begrifflich und methodisch nicht eindeutig von Risikofaktoren

abgegrenzt werden und lediglich das Fehlen von Risiken erfassen: Schutzfaktoren ge-wissermaßen als „ … the reverse side of the coin of risk“ (Garmezy & Masten, 1986, S.

510).

Beispielsweise wird ein positives Selbstwertgefühl als protektiver Faktor genannt (vgl. Tabelle 2.6), ein negatives Selbstwertgefühl gilt jedoch bereits als ein empirisch gut bestätigter Risikofaktor für diverse psychische Störungen (u. a. für Essstörungen).

Aufgrund dieses Problems und weiterer konzeptueller und methodischer Schwierigkei-ten schlussfolgern Laucht und Kollegen (1997)

..., daß das Konzept der protektiven Faktoren kritisch zu betrachten ist. So wie es in vielen Fällen verwendet wird, stellt sich die Frage, ob es im Sinne theoretischer Sparsamkeit wirklich notwendig ist – ob es einen Nutzen besitzt jenseits des Risikokonzepts. (Laucht et al., 1997, S. 267)

Aus diesem Grund werden von verschiedenen Autoren strenge Voraussetzungen für eine sinnvolle Verwendung des Schutzfaktorenkonzepts formuliert. So müssen Schutz-faktoren u. a. begrifflich und methodisch eindeutig von RisikoSchutz-faktoren abgegrenzt wer-den und die Definition sowie die Operationalisierung von Schutzfaktoren müssen unab-hängig von derjenigen für Risikofaktoren erfolgen. Darüber hinaus wird methodisch der Nachweis einer spezifischen Interaktion von Risiko- und Schutzfaktoren postuliert:

Ausschließlich dann, wenn eine Gefährdung vorliegt, ist ein protektiver Faktor beson-ders oder ausschließlich wirksam, werden entwicklungshemmende Einflüsse des Risi-kos gemildert oder beseitigt (Puffermodell). Weiterhin muss bei dem Nachweis von wirksamen Resilienzfaktoren beachtet werden, dass ein und dasselbe Merkmal nicht einmal als protektiver Faktor und einmal als Ergebnis einer geschützten Entwicklung betrachtet wird. Ein protektiver Faktor sollte zudem zeitlich vor einem Risikofaktor nachweisbar sein (Postulat von Längsschnittstudien) (Holtmann & Schmidt, 2004;

Laucht, 1999; Laucht et al., 1997; Rutter, 1990).

In ihrem Überblicksartikel, in welchem Luthar et al. (2000) sich kritisch mit dem Re-silienzkonstrukt auseinandersetzen, kommen die Autoren in der Gesamtschau zu einer insgesamt positiven Bewertung:

First, we believe that despite many challenges linked with studying this complex construct, the continuation of scientific work in this area is of substantial value. ... In short, we disagree with global negative judgments on resilience .... [wobei] ... there is clearly a need for resilience researchers to enhance the scientific rigor of their work. (S. 556)

Darüber hinaus sind einige Autoren inzwischen bereit, z. B. Luthar (1993) und Luthar et al. (2000), den Begriff des protektiven Faktors zu erweitern, so dass auch

Entwick-lungsbedingungen mit unspezifischer Förderwirkung darunter subsumiert werden kön-nen (Fördermodell).

2.3.2.2 Spezifische Schutzfaktoren für Essstörungen

Was die Erforschung von spezifischen protektiven Faktoren/Prozessen für Essstörungen anbelangt, muss konstatiert werden, dass sich bis heute kaum differenzierte Studien zu diesem Bereich finden lassen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass viele der empi-risch bestätigten Schutzfaktoren für eine Reihe psychischer Störungen – also auch für Essstörungen – eine protektive Wirkung entfalten können, sollten zukünftige Studien verstärkt spezifische Schutzfaktoren für Essstörungen untersuchen. Dies ist insbesonde-re für die Entwicklung sekundäinsbesonde-rer Präventionsprogramme wichtig (Crago, Shisslak &

Ruble, 2002).

Für die BN werden von Rodin, Striegel-Moore und Silberstein (1990) die Nicht-Akzeptanz des Schönheitsideals seitens der Frau, ein gesellschaftlicher Wandel (u. a. in den Medien) hin zu einer allgemeinen Ablehnung des Schlankheitsideals und der Hal-tung einer unbegrenzten Formbarkeit des Körpers, das Zusammensein mit Freunden und Partnern mit gut regulierten Essgewohnheiten, zufriedenstellende interpersonelle Bezie-hungen sowie Eltern, die ihr eigenes Gewicht und das ihrer Tochter akzeptieren, als potenzielle Schutzfaktoren genannt. Des Weiteren werden sportliche Aktivität, sofern es sich nicht um Sportarten handelt, in denen Schlanksein als förderlich erachtet und über-betont wird (Crago et al., 2002), sowie die Internalisierung feministischer Werte (Finge-ret & Gleaves, 2004) als protektive Faktoren diskutiert.