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Satzförmige interaktive Einheiten (KS und MS)

3.3 Segmentierung gesprochener Sprache

3.3.2 Segmentierungs- und Kategorisierungsvorschlag

3.3.2.2 Satzförmige interaktive Einheiten (KS und MS)

Worauf diese Fokussierung auf syntaktische Projektionen in Bezug auf die Ka-tegorisierung der Einheitentypen gründet und welche Einteilung aus dieser grundlegenden Unterscheidung in satzförmige und nicht-satzförmige Einheiten resultiert, ist Gegenstand der folgenden Unterkapitel.

3.3.2.2 Satzförmige interaktive Einheiten (KS und MS)

Der Grund für die Orientierung an der syntaktischen Projektion als Abgren-zungskriterium einzelner Typen von Intonationsphrasen ist in erster Linie ein methodischer: Mit Hennig soll die syntaktisch orientierte Perspektive in der Segmentierung „ausschließlich als Instrumentarium der grammatischen Be-schreibung verstanden werden und nicht als normativ-skriptizistische Wer-tung“ (2006: 164165). Der Satz wird dabei als „syntaktischer Maximalfall der Einheitenbildung“ (Hennig 2006: 177) eingestuft – als komplexe, mehrere Ele-mente und deren Projektionsverfahren miteinander kombinierende Einheit183 kann der Satz als Ausgangspunkt für die weitere Ausdifferenzierung der Einhei-tentypen genutzt werden. Ausgehend vom Konzept der syntaktischen Projekti-on unterscheidet Hennig folgende drei DefinitiProjekti-onskriterien (vgl. Hennig 2006:

177, Kap. 2.2. und 2.3.):

a. Vorhandensein eines finiten Verbs und Realisierung der Valenzpotenz b. Erfüllen aller weiteren Projektionspotenzen neben der Valenzpotenz c. kontinuierliche Realisierung ohne Formulierungsschwierigkeiten

Das Vorhandensein eines finiten Verbs und die Realisierung der sich daraus ergebenden Valenzpotenz sowie anderer syntaktischer Projektionspotenzen (etwa jener von Artikelwörtern, Präpositionen etc.) unterscheidet Sätze von anderen aus der Gesprochene-Sprache-Forschung bekannten Einheitentypen wie Ellipsen oder Anakoluthen.184 Damit kann zunächst zwischen satzförmigen und nicht-satzförmigen Einheiten unterschieden werden. Innerhalb der Gruppe der satzförmigen Äußerungen wird mit Selting (1995) und Hennig (2006: 181182) zwischen „kanonischen Sätzen prototypischer geschriebener Sprache“ und

„kanonischen Sätzen prototypischer gesprochener Sprache“ (Hennig 2006: 182;

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183 Mit dieser Auffassung des Satzes als „maximal mögliche Kriterienkombination“ (Hennig 2006: 177) lässt sich auch das Konzept der sprachlichen Prozeduren (vgl. Kap. 3.2.2.3.), demzu-folge Sätze nicht vollständigere oder „bessere“ Einheiten als Nicht-Sätze sind, sondern ledig-lich aus einer Kombination mehrerer sprachledig-licher Prozeduren bestehen, vereinbaren.

184 Die Adäquatheit der Begriffe „Ellipse“ und „Anakoluth“ in Bezug auf die Beschreibung gesprochener Sprache wurde aufgrund ihrer skriptizistischen Prägung mehrfach kritisiert – darauf wird weiter unten näher eingegangen.

„mögliche Sätze“ bei Selting 1995) unterschieden. Wie kanonische Sätze ge-schriebener Sprache (KS) so kennzeichnet die in mündlicher Kommunikation häufig auftretenden möglichen Sätze (MS) das Vorhandensein des finiten Verbs (Kriterium a) und das Erfüllen seiner Valenzpotenzen und aller weiteren syntak-tischen Projektionspotenzen (Kriterium b). Im Unterschied zu den KS wird der Projektionsaufbau bzw. seine Einlösung jedoch diskontinuierlich vollzogen und/oder am Projektionsaufbau nicht beteiligte Elemente werden dsikontinu-ierlich realisiert (Verstoß gegen Kriterium c).185 Dies ist etwa bei Herausstellun-gen (Links- oder RechtsversetzunHerausstellun-gen186), Wiederholungen einzelner Elemente und Reparaturen der Fall. Die folgenden zwei Beispiele sollen diesen Unter-schied verdeutlichen. In Beispiel (14) sind alle Äußerungsteile prosodisch inte-griert, es gibt eine finale Tonhöhenbewegung und einen Nukleusakzent. Dies lässt zu, dass die Äußerung als zusammengehörige Intonationsphrase angese-hen wird. Darüber hinaus sind in Bezug auf die Einheitentypologisierung die Kriterien a) und b) erfüllt – es handelt sich also um eine satzförmige Äußerung:

Beispiel 14: wie HAAßT_n des; [JD 1, Z. 70]

'Wie heißt denn das.'

Die Tatsache, dass ein finites Verb vorhanden ist, seine Valenzpotenzen reali-siert werden und dies auch noch kontinuierlich vonstattengeht, führt zur Klassi-fikation als kanonisch geschriebensprachlicher Satz (KS) – dies allerdings aus rein syntaktischer Sicht: Die Lautung der Intonationsphrase ist aufgrund der regionalsprachlichen Prägung der zugrundeliegenden Korpora JD und ED na-türlich dialektal beeinflusst. Phänomene der gesprochenen Sprache wie Ver-schleifungen, Apokopierungen oder Klitisierungen sowie dialektale Lautungen werden hier mit Hennig (2006: 228 und 246) jedoch nicht als ausschlaggebend

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185 Unter schriftzentrierter Perspektive würde man – v.a. in Bezug auf Reparaturphänomene und Wiederholungen – wohl von „Performanzfehlern oder -problemen“ sprechen (vgl. als kritische Übersicht dazu Fiehler 2004: 139141).

186 Ähnlich wie die Begriffe „Ellipse“ und „Anakoluth“ so wurden auch die Begriffe „Links- und Rechtsversetzung“ in ihrer Orientierung an schriftliche Kommunikation und kanonische Sätze geschriebener Sprache kritisiert (vgl. z.B. Auer 1991: 139140). Ágel schlägt in einem topo-logisch orientierten Modell zur Vermittlung des gesprochenen Deutsch als Fremdsprache vor, Satzrandstrukturen (Elemente vor dem Vorfeld und nach dem Nachfeld) als „Satzrandglieder“

(analog zu den Satzgliedern im KS) zu bezeichnen. Da sich diese Einteilung stark am Satzglied- und damit am skriptizistisch geprägten Satzbegriff orientiert, wird sie in der vorliegenden Untersuchung nicht angewendet. Ágels Vorschlag liegt derzeit nur in Abstract-Form vor (vgl.

online unter: http://www2.hu-berlin.de/gesprochene-fremdsprache-deutsch/?page_id=31 (01.01.2015).

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für eine Einstufung als MS gewertet, da diese die Umsetzung der syntaktischen Projektionen nicht beeinflussen.

In Beispiel (15) ist das Kriterium der kontinuierlichen Projektionseinlösung dagegen nicht gegeben. Es findet sich zwar ein finites Verb, dessen Valenzpo-tenzen realisiert werden, in Form einer Rechtsversetzung187 (oder „Expansion“

nach Auer 1991) wird ein Teil der syntaktischen Struktur aber erneut aufge-nommen und präzisiert:

Beispiel 15: de geht fünf bis sieben miNUten de werbung. [JD 13, Z. 6]

'Die geht [dauert] fünf bis sieben Minuten, die Werbung.'

In diesem Zusammenhang wird auch gut der Unterschied zwischen syntakti-scher und pragmatisyntakti-scher Projektion sichtbar: Während das syntaktische Projek-tionspotential bereits mit der Pro-Form (die) erfüllt wird, wird die (semanto-) pragmatische Projektion erst durch die Expansion (die Werbung) eingelöst.

Viele der Intonationsphrasen, die hier als MS kategorisiert werden, werden aufgrund von Online-Reparaturen, Wiederholungen und des Einsatzes von Zögerungssignalen als nicht kanonisch geschriebensprachliche Sätze klassifi-ziert. Nachfolgende Beispielsätze sollen einen kurzen Einblick in diese für mündliche Kommunikation typischen Phänomene geben:

– Reparatur:

Beispiel 16 : de is des is woll AA a bissl eingebildet; [JD 3, Z. 1030]

'Die ist das ist schon auch ein bisschen eingebildet.'

– Wiederholung (und Reparatur):

Beispiel 17: der oabeitet ban ban ban bei der gärtnerEI; [JD 3, Z. 372f.]

'Der arbeitet beim beim beim bei der Gärtnerei.'

– Verzögerung:

Beispiel 18: mochend se ähm in (---) highschoolmusical FÜNF no; [JD 14, Z. 168]

'Machen sie ähm den Highschoolmusical-Fünf-(Film) noch.'

|| 187 Links- und Rechtsversetzungen werden als Teil der satzförmigen Intonationsphrase

inso-fern verstanden, als sie keinen Nukleusakzent aufweisen und damit – im Gegensatz zu bspw.

Nachträgen als kompakte Strukturen – keine selbstständigen Intonationsphrasen darstellen.

Diese Einschätzung stimmt mit den Ausführungen Franz Patockas (1996: 28) überein, demzu-folge die Rechtsversetzung „nicht als eigener (elliptischer) Satz zu interpretieren ist, sondern als Bestandteil des betreffenden Satzes. Sie ist durch ein Korrelat im Satzinneren gekennzeich-net, welches das rechtsversetzte Glied vorwegnimmt.“ Zur Problematisierung der Begriffe

„Links- bzw. Rechtsversetzung“ vgl. Auer (1991: 139140).

Aufgrund der dialektalen Prägung der beiden Korpora ED und JD sind es aber häufig auch Besonderheiten regionalsprachlicher Kommunikation, die die Pro-jektionseinlösung beeinflussen und zur Einordnung der betreffenden Intonati-onsphrasen als MS führen. Dies ist etwa der Fall, wenn Pronomen in einer von der (intendierten) Standardsprache abweichenden Serialisierung realisiert wer-den:188

Beispiel 19: i SOG da_s. [JD 14, Z. 1112]

'Ich sage dir es.'

Auch die mehrfache Realisierung eines Elements kann dialektal begründet sein.

Die in Beispiel (20) vorkommende Wiederholung des unbestimmten Artikels ist eine in den bairischen Dialekten häufig vorkommende Konstruktion:189

Beispiel 20: do gib_s jo_a SO a geile !SCHNIT!te; [JD 14, Z. 267]

'Da gibt es ja eine so eine geile Schnitte.'

Ein anderes Dialektphänomen, dessen Realisierung zur Klassifikation als MS führt, wird an späterer Stelle noch näher besprochen (vgl. Kapitel 4.2.2.); es soll hier jedoch anhand eines Beispiels kurz vorgestellt werden:

Beispiel 21: (--) und des is de frau de wos do GONgen is; [JD 3, Z. 145]

'Und das ist die Frau, die was da gegangen ist.

In Dialekten des Deutschen gibt es neben standardsprachlichen Relativ-Konnektoren noch weitere Varianten zur Einleitung von Rela-tiv(satz)konstruktionen190, z.B. – wie in obigem Beispiel zu sehen – der/die/das in Kombination mit was (die Frau, die was gegangen ist), was (die Frau, was gegangen ist), wo (die Frau, wo gegangen ist) oder auch der/die/das in Kombina-tion mit wo (die Frau, die wo gegangen ist). In Bezug auf die Zuteilung der Into-nationsphrasen zu den besprochenen Einheitentypen ist die von den

Standard-||

188 Zur Abfolge der Pronomen im Mittelfeld in bairischen Dialekten vgl. z.B. Weiß (1998: 95).

189 Detaillierte Informationen zur geographischen Verbreitung und syntaktischen und se-mantischen Eigenschaften der Artikelverdoppelung finden sich in Kallulli/Rothmayer (2008).

190 Mit der Bezeichnung Relativ(satz)konstruktionen (vgl. Birkner 2008) anstatt Relativsätze soll daran erinnert werden, dass durch ein Relativelement eingeleitete Einheiten nicht satzför-mig sein müssen. So kann eine Relativkonstruktion etwa auch als kompakte Struktur realisiert sein oder unter- bzw. abgebrochen werden und infolgedessen zu einem Anakoluth werden.

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varianten abweichende Realisierung ausschlaggebend dafür, die satzförmige Einheit in (21) nicht als KS, sondern als MS einzustufen.

Als Zwischenfazit kann hier festgehalten werden: Sowohl kanonische Sätze geschriebener Sprache (KS) als auch mögliche Sätze (MS) verfügen über ein finites Verb und lösen alle syntaktischen und pragmatischen Projektionen ein – lediglich in der Art ihrer Realisierung und/oder Abfolge dieser Projektionseinlö-sungen unterscheiden sie sich. Beim nächsten zu beschreibenden Einheitentyp werden ebenfalls alle Projektionspotenzen, die gegeben sind, realisiert. Aller-dings ist hier Kriterium a), das Vorhandensein eines finiten Verbs, nicht erfüllt.

Diese Art der nicht-satzförmigen Realisierung einer Intonationsphrase soll im folgenden Unterkapitel näher erläutert werden.