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Interaktionale Linguistik

3.2 Sprachvariation und gesprochene Sprache

3.2.2 Beschreibung der Grammatik gesprochener Sprache – verschiedene Konzeptionen

3.2.2.1 Interaktionale Linguistik

Diese Vorschläge zur Beantwortung der Frage, was als Grundeinheit gespro-chener Sprache angenommen werden kann, orientieren sich an verschiedenen Dimensionen sprachlicher Äußerungen – der prosodischen (vgl. b.), der kom-munikativ-pragmatischen (vgl. z.B. a., d., e.), der interaktionalen (vgl. h., j., l.) oder der syntaktischen Dimension (vgl. z.B. c., g.), oder bestimmen die Grund-einheiten gesprochener Sprache im Sinne einer Mischkategorie, die mehrere Ebenen vereint (vgl. f.). Dabei können zwei in der rezenten Gesprochene-Sprache-Forschung besonders einflussreiche linguistische Strömungen hervor-gehoben werden: Ansätze der Interaktionalen Linguistik und Ansätze der Kon-struktionsgrammatik. Sie sollen nachfolgend näher beleuchtet werden – v.a.

mit Blick auf die Frage, wie sich Grundeinheiten gesprochener Sprache gram-matiktheoretisch konzeptualisieren lassen, und welche Rolle die Kategorie Satz dabei spielt.

3.2.2.1 Interaktionale Linguistik

Die Interaktionale Linguistik (IL) hat zum Ziel, vorwiegend dialogische124 verba-le Äußerungs-formen linguistisch zu beschreiben und dabei die Grundbedin-gungen der verbalen Interaktion zu berücksichtigen. Sie basiert sowohl in theo-retischer als auch in methodischer Hinsicht auf der amerikanischen Conversation Analysis125 (vgl. Sacks 1971; Sacks/Schegloff/Jefferson 1974; Berg-mann 1994). Zunächst widmeten sich im deutschsprachigen Raum eher Sozio-logen der (u.a. auch sprachlichen) Interaktion. Doch auch aus soziolinguisti-scher Perspektive und in der Frage nach syntaktischen und prosodischen Strukturen in Gesprächen fand eine immer stärkere Orientierung an konversati-ons-analytischen Ansätzen mit starkem Empiriebezug statt. Das Hauptinteresse der Vertreter der IL (vgl. Couper-Kuhlen/Selting 2000; 2001; Günthner/Imo 2006; Selting 2008; Barth-Weingarten 2008) gilt dabei authentischen Alltagsge-sprächen, wobei die Interaktionale Linguistik als eine Schnittstelle zwischen linguistischer Forschung und soziologisch orientierter Konversationsanalyse

|| 124 Zur Polysemie der Begriffe Dialog, Konversation und Diskurs sei auf die Ausführungen bei

Imo (2013: 28) verwiesen. V.a. die Rede vom Diskurs ist hinsichtlich seiner verschiedenen theo-retischen Ausrichtungen hochgradig missverständlich – so sind etwa die Foucault’sche Auf-fassung von Diskurs und die kritische Diskursanalyse soziologisch ausgerichtet. Innerhalb der Linguistik hat sich die Diskursanalyse im Rahmen der Funktionalen Pragmatik (vgl. Ehlich 1996; 2006; Rehbein 2001; Redder 2008; Nähere Informationen in Kapitel 3.2.2.3) im deutsch-sprachigen Raum in einer eigenen Traditionslinie fortgesetzt (vgl. Imo 2013: 30).

125 Für einen Überblick über Grundannahmen und Methoden der (ethnomethodologischen) Konversationsanalyse vgl. Day/Wagner (2008) und Stukenbrock (2013: 223).

verstanden werden will, die linguistische Strukturen und deren kommunikativ-interaktionale Bedingtheit analysiert (vgl. Couper-Kuhlen/Selting 2000). Zentra-le Charakteristika der dialogischen Sprache-in-Interaktion sind ihre Raum- und Zeitgebundenheit (Sprecher und Hörer befinden sich am selben Ort, Sprachpro-duktion und -rezeption erfolgen gleichzeitig), Rederecht und Rollen der Ge-sprächsteilnehmer/-innen sind nicht vorab zugewiesen, sondern Redebeiträge werden interaktiv gestaltet, Bedeutungen situations- und kontextabhängig (re- und ko-) konstruiert. Der linguistischen Auseinandersetzung mit diesem inter-aktionalen Sprachgebrauch liegen vier Prinzipien zugrunde, die es nach Linell (1998: 85) zu berücksichtigen gilt (vgl. auch Imo 2013: 6162):126 Als übergeordne-tes Prinzip ist Reflexivität zu nennen. Sie bezeichnet den Umstand, „that two orders of phenomena are intrinsically related, so that one of them is conceptual-ly implicated by the other, and vice versa“ (Linell 1998: 84). Reflexivität bezieht sich dabei nicht nur auf verbale Phänomene, sondern „zieht sich durch alle Ebenen eines Gesprächs“ (Imo 2013: 61). Dies zeigt sich etwa im Zusammenspiel der prosodischen Gestaltung auf paraverbaler Ebene mit kommunikativen Gat-tungen127. So wird beim Witze-Erzählen eine gewisse prosodische Ausgestaltung der verbalisierten Inhalte erwartet (z.B. smile voice), gleichzeitig ist sie aber auch Teil der Kontextualisierung. Als zentrale Unterprinzipien der Reflexivität kommen Linell (1998) zufolge folgende Aspekte zum Tragen: Sequenzialität, Joint Construction und Kontextgebundenheit. Mit der Sequenzialität ist der Um-stand angesprochen, dass die Interpretation der Äußerung von ihrer Position in der Gesprächs- und Handlungssequenz abhängig ist und ein Redebeitrag auch selbst wieder Teil der sequentiellen Rahmung nachfolgender Äußerungen ist.128 Daraus folgt, dass „one can never fully understand an utterance or an extract, if it is taken out of the sequence which provides its context“ (Linell 1998: 85). Das zweite Unterprinzip dialogisch-interaktionaler Sprache, die Joint Construction, unterstreicht die zentrale Rolle des gemeinsamen Hervorbringens von Bedeu-tung und Struktur (Ko-Autorschaft, Ko-Konstruktionen). Als letztes

fundamen-|| 126 Diese vier Prinzipien der interaktional-dialogischen Perspektive auf Sprache sind nicht

nur im Rahmen der Konversationsanalyse und der Interaktionalen Linguistik, sondern auch in anderen Ansätzen wie der Gesprächsanalyse oder der angewandten Gesprächsforschung zent-ral. Eine nähere Beschreibung dieser und weiterer Ansätze der Auseinandersetzung mit ge-sprochener Sprache und weiterführende Literatur findet sich in Imo (2013, 5960 und 7188).

127 Zu Theorie und Analyse kommunikativer Gattungen vgl. u.a. Luckmann (1992), Berg-mann/Luckmann (1995) und Günthner (2000).

128 In der Konversationsanalyse wurde dies etwa durch die Analyse von Paarsequenzen (adjacency pairs) gezeigt: In Frage-Antwort-Sequenzen strukturiert etwa die Frage als erstes Element der Paarsequenz die Antwort als zweites erwartbares Element vor.

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tales dialogisches Prinzip nennt Linell die Kontextgebundenheit: Sprachliche und übergreifende Handlungen ko-konstituieren einander, sie sind voneinan-der und vom außersprachlichen Kontext voneinan-der verbalen Interaktion abhängig.

Mit Günthner (2013: 1) lassen sich diese Grundlagen der Face-to-Face-Kommunikation wie folgt zusammenfassen:

GesprächsteilnehmerInnen überwachen den sequenziell organisierten Gesprächsablauf, passen ihre Beiträge dem situierten, dialogisch produzierten Interaktionsprozess an und erzeugen auf diese Weise gemeinsames sprachliches bzw. soziales Handeln.

Einzelne Äußerungen eines Sprechers/einer Sprecherin sind also nicht als iso-lierte, autonome Elemente zu begreifen, sondern sind in den situativen und sequenziellen Kontext des Gesprächs eingebunden – wir haben es mit „koordi-nierte[n] Aktivitäten [zu tun], die im Prozess der Interaktion emergieren und erheblich von den Reaktionen (bzw. ausbleibenden Reaktionen) der Rezipient-Innen beeinflusst werden“ (Günthner 2013: 1).

Auch wenn in der Interaktionalen Linguistik der Fokus auf der empirisch basierten Beschreibung verbaler Interaktion liegt, stellt dies keinen prinzipiel-len Gegensatz zur Auffassung von Sprache als grammatisches System dar. Es gilt zu untersuchen, „ob und wie sich im Handeln überhaupt erst Sprache (qua Grammatik) konstituiert, und ob und wie andererseits Handeln erst durch Spra-che (qua Grammatik) möglich wird“ (Auer 2013a: 6). Das methodisSpra-che Vorgehen im Rahmen einer interaktionalen Syntaxanalyse kann seinen Anfang also ent-weder im Identifizieren interaktionaler Handlungen nehmen und in eine Analy-se der im Rahmen der kommunikativen Handlung zum Einsatz kommenden sprachlichen Merkmale münden, oder umgekehrt seinen Anfang im Identifizie-ren grammatischer Konstruktionen nehmen und in einer Analyse ihrer spezifi-schen Funktionen innerhalb der verbalen Interaktion münden (vgl. Scheutz 2005: 296). Aus methodischer Perspektive zentral ist dabei der Fokus auf au-thentischen Gesprächen als Forschungs-grundlage und eine induktive Analyse der Daten, um einen möglicherweise durch vorgefasste Forschungsfragen „ver-stellten“ Blick auf den Forschungsgegenstand zu vermeiden (vgl. Stukenbrock 2013: 224). Günthner (2007b; 2011a) plädiert in diesem Sinne für eine „praxisori-entierte Grammatiktheorie“. Grammatische Strukturen sind in einer solchen Grammatiktheorie

dem Sprechen und damit dem sozialen Handeln bzw. der Performanz nicht vorgelagert, sondern sind Ergebnis davon. Sie bilden interaktionale Ressourcen, die sich im Laufe ei-ner langen Kette von Kommunikationssituationen verfestigt und zur Durchführung be-stimmter kommunikativer Aktivitäten herausgebildet haben. (Günthner 2011a: 244)

Diese interaktionalen Ressourcen werden in interaktional-linguistischen Ansät-zen als rekurrente Muster bzw. (mehr oder weniger) sedimentierte Routinen begriffen, die „nicht als Produkte der Kompetenz eines einzelnen Sprechers“, sondern als „dialogisch ausgerichtete Errungenschaften“ (Günthner 2007c: 150) zu begreifen sind. Diese wiederkehrenden Strukturen können nur durch eine induktiv orientierte Analyse der diskursiven Daten herausgearbeitet werden:

Auf Basis einer sorgfältigen Transkription der Daten129 wird nach rekurrenten Mustern gesucht und diese in ihrem interaktionalen Zusammenhang beschrie-ben. Grundlegender Baustein, in dem sprachliche Phänomene auftreten, ist der Turn (Redebeitrag) bzw. in weiterer Folge die turn constructional unit (Turn-konstruktions-einheit; TCU) als fundamentale Einheit des Gesprächs (vgl.

Sacks/Schegloff/Jefferson 1974). Ein Turn kann aus einer oder mehreren TCUs bestehen, die wiederum satzförmige Einheiten, aber auch andere Formulie-rungsmuster enthalten können: „Ein Redezug kann aus einem einzigen Wort, einer Phrase, einem Satz oder einem längeren, komplexen Redebeitrag wie z.B.

einer kleinen Geschichte bestehen“ (Stukenbrock 2013: 230). TCUs können den gesamten Redebeitrag eines Sprechers/einer Sprecherin umfassen und damit in einen transition relevance place (TRP), einen möglichen Übergabepunkt des Rederechts münden (vgl. Selting 2000: 484). Die sequentielle Abfolge der ver-schiedenen Redebeiträge lässt sich in Regularitäten des Turn-Taking (des Wechsels von Redebeiträgen bzw. der Verteilung des Rederechts) beschrei-ben.130

Der Satzbegriff hat also auch in der Konversationsanalyse bzw. in der Inter-aktionalen Linguistik seinen Platz: Es wird davon ausgegangen, dass satzförmi-ge Äußerunsatzförmi-gen auch in satzförmi-gesprochener Sprache-in-Interaktion vorkommen (vgl.

Selting 1995) – sie sind jedoch nicht als feste Strukturen, sondern vielmehr als offene Formate zu verstehen (vgl. Imo 2013: 80). Satzförmige Strukturen werden erst durch den Gebrauch in der Interaktion als solche konstituiert; sie sind nicht als Produkt einer wie auch immer regelgeleiteten Kompetenz des Sprechers/der Sprecherin zu begreifen, sondern bilden sprachliche Ressourcen im Sinne

ver-|| 129 In der Konversationsanalyse und der Interaktionalen Linguistik wird davon ausgegangen,

dass „order at all points“ (Sacks 1984: 22) besteht. Die auf den ersten Blick überwältigende Heterogenität in gesprochener Sprache folgt demnach einer internen Ordnung – auch Pausen, Verzögerungssignale (z.B. ähm) oder Abbrüche dürfen nicht als zufällige Performanzphäno-mene abgetan werden, sondern müssen in der verschriftlichten Version des Gesprächs exakt transportiert werden. Zur zentralen Rolle der Transkription und weiteren zentralen methodi-schen Annahmen vgl. Stukenbrock (2013: 224225).

130 Detaillierte theoretische Ausführungen und Analysen zum Turn-Taking finden sich u.a. in Paulston/Kiesling/Rangel (2012).

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festigter Muster. Die Gleichzeitigkeit von Sprachproduktion und -rezeption be-wirkt dabei, dass „Sätze im Gespräch über ihren möglichen Endpunkt hinaus vom Sprecher erweitert oder durch Fortführung nach einem Sprecherwechsel gemeinsam konstruiert werden können“ (Stukenbrock 2013: 247). Um diesem Zeitaspekt gerecht zu werden, entwickelte Auer (vgl. 2000; 2005; 2007; 2010) ein prozessual-dynamisches Syntaxmodell (die so genannte „On line-Syntax“), das auf den Konzepten der Projektion und der Retraktion beruht.131 Projektionen können in der gesprochenen Sprache-in-Interaktion z.B. durch Diskursmarker ausgelöst werden, die folgende Redeteile ankündigen, oder eben auch durch grammatische Strukturen: Ein finites Verb lässt etwa aufgrund seiner Valenzei-genschaften bestimmte weitere Äußerungselemente erwarten. Das grammati-sche Wissen über diese erwartbaren Elemente hängt dabei eng mit dem interak-tionalen Wissen der Gesprächs-teilnehmer/-innen zusammen, was auch Auer (2005) betont:

By projection I mean the fact that an indivual action or part of it foreshadows another. In order to understand what is projected, interactants need some kind of knowledge about how actions (or action components) are typically (i.e., qua types) sequenced, i.e., how they follow each other in time. (Auer 2005: 8)

So wie es möglich ist, im zeitlichen Verlauf des Gesprächs Äußerungsinhalte zu projizieren, so können sprachliche Elemente auch rückwirkend verändert wer-den: Durch Retraktionen werden die Strukturen bearbeitet und erweitert, etwa in Form von Rechtsherausstellungen oder Nachträgen.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Vertreter der Inter-aktionalen Linguistik grammatische Phänomene im Hinblick auf ihre interakti-onale Verwendung analysieren. Sprache-in-Interaktion und interaktiinterakti-onales Handeln werden dabei als voneinander untrennbar aufgefasst, die Formen und Strukturen einer Einzelsprache werden „als flexible und anpassungsfähige Ressourcen aufgefasst, die auf die Bedürfnisse der Sprecher bei der Organisati-on der InteraktiOrganisati-on zugeschnitten sind“ (Stukenbrock 2013: 247). Vorgefasste Kategorien oder Fragestellungen werden dabei gemieden – auf Basis authenti-scher Alltagskommunikation wird induktiv nach kommunikativen Routinen gesucht. Die dabei verwendeten sprachlichen Formen werden kontextsensitiv in ihrer interaktionalen Funktion beschrieben. Eine TCU kann dabei satzförmig sein, kann aber auch aus einem Diskursmarker, einer Präpositionalphrase, einem Adverb usw. bestehen. Gesprächseinheiten und ihre Bedeutungen

wer-|| 131 Auf die Rolle von Projektion und Retraktion in der Einheitenbildung gesprochener

Spra-che wird in Kapitel 3.4. noch näher eingegangen.

den interaktiv im Rahmen der Online-Prozessierung konstruiert. Zusätzlich erlaubt die mündliche Face-to-Face-Kommunikation Möglichkeiten der deikti-schen Referenz und ist damit hochgradig kontextabhängig. Für eine quantitati-ve Analyse des Vorkommens unterschiedlicher Einheitentypen in diskursiquantitati-ven Daten ergibt sich daraus ein methodisches Problem: Wie können solcherart ko-konstruierte, durch Projektionen und Retraktionen gekennzeichnete grammati-sche Strukturen voneinander abgegrenzt werden? Mit Blick auf diese Frage, die in Kapitel 3.3. präzisiert wird, soll ein weiterer zentraler Ansatz der grammatik-theoretischen Modellierung gesprochener Sprache beleuchtet werden: die Kon-struktionsgrammatik.

3.2.2.2 Konstruktionsgrammatik

Die Konstruktionsgrammatik (KxG) ist nicht als einheitliche grammatische The-orie anzusehen, sondern umfasst eine ganze Reihe von Ansätzen mit unter-schiedlichen Ausrichtungen,132 die drei Hauptströmungen bilden: die von Charles Fillmore und Paul Kay geprägte „Berkeley Schule“ (vgl. Fillmore 1988;

Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Kay 1997; Kay/Fillmore 1999), der kognitiv-linguistisch motivierte Ansatz (vgl. v.a. Lakoff 1987; Goldberg 1995) und der typologisch orientierte Ansatz (vgl. v.a. Croft 2001).133 Auch wenn die genannten Strömungen der KxG mitunter inhaltlich stark divergieren, sind einige zentrale Prämissen festzuhalten, die die verschiedenen Ansätze miteinander verbinden (vgl. Fischer/Stefanowitsch 2006: 4). Im Zentrum steht die Beschreibung sprachlicher Strukturen als Inventar von Konstruktionen, von konventionalisier-ten Form-Bedeutungs-Paaren: „Each construction will be a form-meaning pair (F,M) where F is a set of conditions on syntactic and phonological form and M is a set of conditions on meaning and use“ (Lakoff 1987: 467). Die Vorstellung von Sprache als autonomes, kognitives Symbolsystem, dessen lexikalische Elemen-te unElemen-ter Anwendung von Regeln abgeleiElemen-tet werden, wird damit verabschiedet.134

|| 132 Zu einem Überblick über verschiedene Strömungen der Konstruktionsgrammatik vgl.

Fischer/Stefanowitsch (2006), Bücker (2012, Kapitel 2.2.4 und 3.2.3.) sowie weitere Beiträge in Fischer/Stefanowitsch (2006; 2008), Auer/Pfänder (2011), Lasch/Ziem (2011) und Hoff-man/Trousdale (2013).

133 Wurzeln der ersten konstruktionsgrammatischen Ansätze liegen in der generativen Sem-antik (vgl. Langacker 1972; Lakoff 1971), der Kasusgrammatik (vgl. Fillmore 1968) und der Frame-Semantik (vgl. Fillmore 1975).

134 Konstruktionsgrammatische Ansätze waren u.a. auch durch die in den 80er-Jahren ge-wachsene Kritik an der Generativen Grammatik motiviert (vgl. Fillmore/Kay/O‘Connor 1988).

Annahmen der Generativen Grammatik – etwa, dass es ein angeborenes sprachspezifisches

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Lexikon und Grammatik stehen nicht als voneinander autonome Module ne-beneinander, sondern werden als Kontinuum aufgefasst – neben Wörtern wer-den auch Phrasen, Sätze, Text- und Diskurssequenzen als eigenständige Form-Bedeutungs-Paare behandelt. Damit richten sich Ansätze der KxG explizit gegen die produkt- und strukturorientierten kategorialen Einteilungen schriftbasierter Grammatiken (vgl. Fiehler 2006). Diese lassen sich Deppermann (2006: 44) folgend in drei zentrale Prämissen zusammenfassen:

1. Satz-Prämisse: Vollständige syntaktische Einheiten sind Sätze; sie drücken eine Proposition aus und bestehen mindestens aus Subjekt und Prädikat.

2. Formalitätsprämisse: Syntaktische Regeln sind rein formal, und deshalb abstrakt und allgemein. Sie sind deduktiv und exhaustiv, d.h., sie gelten für alle Instanzen der betreffenden grammatischen Kategorie (Wortart, Satztyp etc.) bzw. syntaktischen Relation (Satzglied etc.).

3. Kompositionalitätsprämisse: Phrasen- und Satzbedeutung sind kompositi-onal: Sie ergeben sich aus der lexikalischen Bedeutung der Wörter und der syntaktischen Struktur ihrer Verknüpfung.

Dass diese Annahmen zur Grammatik einer Sprache in der Analyse mündlicher Kommunikation zwangsläufig zu Problemen führen, lässt sich an folgendem Beispiel aus Teilkorpus JD zeigen:

Beispiel 4: JD 1, Z. 13-24: „Urlaub“

013 Ste: wonn mochsch du dei nägschte (.) °h !GRO!ße <<lachend> REIse>;

014 Sim: ((lacht)) 015 (-) ähm:;

016 WAAß i nit;

017 =also im sommer wea i (-) we_ma wieder BERGwoche foahn,

018 Ste: (--) ah jo;

019 Sim: (--) vielLEICHT-

020 (---) unter Umständen,

021 Ste: (1.0) u:n:d foahsch non: (.) PFAdi aa wieder;

022 Sim: (--) ähm na;

|| Wissen (im Sinne einer Universalgrammatik) gibt, Äußerungen Regeln bzw.

Generierungsme-chanismen folgend abgeleitet werden und Sprache als autonomes, kognitives Symbolsystem zu erfassen ist, – werden abgelehnt.

023 =des werd sich nit AUsgehen weil des in da gleichen WOche is-

024 Ste: (-) ah jo;

'Ste: Wann machst du deine nächste große Reise? Sim: Ähm. Weiß ich nicht. Also um Sommer werde ich werden wir wieder [zur]135 Bergwoche fahren- Ste: Ah ja. Sim: Vielleicht. Unter Um-ständen. Ste: Und fährst [du] dann Pfadi [Anm. ML: ins Pfadfinderlager] auch wieder? Sim:

Ähm nein. Das wird sich nicht ausgehen, weil das in der gleichen Woche ist. Ste: Ah ja.'

Aus normgrammatischer Perspektive besteht dieser Gesprächsausschnitt so-wohl aus satzförmigen (vgl. Z. 13, 17, 21 und 23) als auch aus nicht-satzförmigen Äußerungen (vgl. Z. 15f., 18ff., 22 und 24), darunter auch aus elliptischen Struk-turen (vgl. z.B. Z. 16 oder Z. 19), die nicht nach kontextfreien Regeln und auf kompositionaler Basis erzeugt wurden und damit gegen die oben genannten Prämissen verstoßen. Auch die in informeller mündlicher Kommunikation so häufig vorkommenden Diskursmarker wie etwa Verzögerungssignale (ähm) oder Reparaturen (vgl. Z. 17) stellen einen Verstoß gegen die Satzprämisse dar und lassen sich daher mit schriftbasierten Kategorien nur schwer fassen. Vertre-ter der KxG gehen daher neben der Konstruktionsprämisse auch von einer Netz-werk- und einer Gestaltprämisse in Bezug auf sprachliche Strukturen aus (vgl.

Imo 2007b: 2425). Das Verhältnis der Konstruktionen untereinander ist als Netzwerk von abstrakten (z.B. Satzbaupläne, Wortarten) als auch spezifischen Konstruktionen (Phraseologismen, standardisierte Kurzformen etc.) zu denken, das Redundanz zulässt (vgl. Imo 2007b: 24): Konstruktionen können miteinan-der kombiniert werden. Jede Äußerung, „die größer als ein Wort ist, [stellt] eine gleichzeitige Manifestation mehrerer Konstruktionen [dar]“ (Fi-scher/Stefanowitsch 2006: 7). Die Bedeutung der Konstruktionen ergibt sich nicht aus der Kombination mehrerer Bedeutungen, sondern ist für jede Kon-struktion als gesamte Gestalt136 festzulegen. Konstruktionen werden demzufolge als „holistische Gestalten, als ‚Ganzheiten‘“ (Auer/Pfänder 2011: 8) verstanden.

Mit dieser Perspektivenänderung geht auch eine Abkehr von der traditionellen Auffassung dessen, was grammatische Kategorien leisten, einher:137

„Construc-|| 135 Nicht realisierte, aber normgrammatisch erwartete Komplemente werden – sofern dies der

Lesbarkeit dient – angegeben, aber mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Zum Nicht-Realisieren der Präposition in Konstruktionen mit richtungsweisenden Verben vgl. Kapitel 4.4.1. der vorliegenden Arbeit.

136 Der Gestalt-Begriff wird in Kapitel 3.3.2.1. näher erläutert.

137 In traditionellen schriftbasierten Grammatiken zum Gegenwartsdeutschen wird von Kate-goriensystemen zur klassifikatorischen Gliederung von Entitäten zuvor festgelegter Art ausge-gangen. Eisenberg (2006: 14) definiert Kategorien etwa als „Mengenbegriffe. Der Umfang einer

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tions, not categories and relations, are the basic, primitive units of syntactic representation“ (Croft 2001: 46). Grammatik wird als modular und nicht-derivationell aufgefasst (vgl. z.B. Fischer/Stefanowitsch 2006: 5); das Netzwerk, in dem sich Konstruktionen miteinander verbinden, kann als strukturiertes Inventar beschrieben werden.138

Für die Auseinandersetzung mit gesprochener Sprache sind Ansätze der KxG139 insofern relevant, als sie sich nicht auf eine „Kerngrammatik“ konzent-rieren und Äußerungen, die sich schriftbasierten Kategorien entziehen, als Performanzphänomene in die „Randgrammatik“ verbannen, sondern alle Kon-struktionen als gleichwertig sehen. Dass diese Form-Bedeutungspaare, die „sich lediglich durch den Grad an Verfestigung und Produktivität voneinander unter-scheiden“, (Günthner/Imo 2006: 3) individuell gespeichert und zur jeweiligen Situation passend aufgerufen werden, ist auch psycholinguistisch fundierbar (vgl. Auer 2006: 291292) und passt gut zum zeitlich bedingten Prozessualitäts-charakter gesprochener Sprache.140 Mit der Interaktionalen Linguistik haben Ansätze der KxG dabei gemein, dass Konstruktionen nicht nur in Bezug auf ihre syntaktischen Eigenschaften, sondern im Hinblick auf ihren interaktiven und prozessualen Charakter sowie bezüglich ihrer Rolle in kommunikativen Gattun-gen beschrieben werden (vgl. Günthner/Imo 2006: 9).

Hinsichtlich der Frage, was als Grundeinheit gesprochener Sprache gelten kann, liegt die Antwort aus konstruktionsgrammatischer Perspektive auf der

|| Kategorie, ihre Extension ist eine Menge von Entitäten bestimmter Art. Gewöhnlich haben die

Elemente dieser Menge eine bestimmte Eigenschaft gemeinsam. Diese Eigenschaft ist die Be-deutung der Kategorie oder ihre Intension.“ Von einander distinkte Wort-, Flexions- und syn-taktische (z.B. Konstituenten-) Kategorien fassen jeweils eine Menge von Einheiten mit ähnli-chen Eigenschaften. Syntaktische Einheiten werden als modular aufgebaut aus syntaktisähnli-chen Grundformen (Wortformen, Verschmelzungen, Wortreste) aufgefasst (vgl. Eisenberg 2006: 13-24). Vertreter der KxG lösen diese Grenzen, z.B. von Wortartenkategorien gegenüber Phrasen, zugunsten eines Kontinuums auf, in dem ein Suffix -ung ebenso wie ein Nomen Ahnung, aber auch eine Phrase wie Keine Ahnung, ne? als eigenständige Konstruktionen zu beschreiben sind.

138 Ausgehend von Goldberg (2003: 3), die das strukturierte Inventar von Konstruktionen analog zum Lex-i-con als „construct-i-con“ bezeichnet, hat sich im deutschsprachigen Raum der Begriff Konstruktikon etabliert.

139 Für Überlegungen zur Grammatik(theorie) der gesprochenen Sprache waren im deutschen Sprachraum dabei v.a. die so genannten usage based-Ansätze der KxG einflussreich (vgl. Imo 2007b: 24), also jene Ansätze, die sich am tatsächlichen Sprachgebrauch und damit an authen-tischer (medial mündlicher oder schriftlicher) Kommunikation orientieren.

140 Die Annahme von Konstruktionen als „mehr oder weniger idiosynkratische Instantiierun-gen allgemeinerer Strukturen“ (Auer 2005: 16), die „im Erstspracherwerb noch vor den allge-meineren Strukturschemata gelernt werden“, hat auch in Arbeiten zum Spracherwerb großen

140 Die Annahme von Konstruktionen als „mehr oder weniger idiosynkratische Instantiierun-gen allgemeinerer Strukturen“ (Auer 2005: 16), die „im Erstspracherwerb noch vor den allge-meineren Strukturschemata gelernt werden“, hat auch in Arbeiten zum Spracherwerb großen