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Funktionale Pragmatik

3.2 Sprachvariation und gesprochene Sprache

3.2.2 Beschreibung der Grammatik gesprochener Sprache – verschiedene Konzeptionen

3.2.2.3 Funktionale Pragmatik

Sätze oder auch Text- und Diskurssequenzen umfassende Ganzheiten für die Frage nach der quantitativen Verteilung bestimmter Varianten im Vergleich der Jugend- mit der Erwachsenenkommunikation ebenso wenig eignet. Denn damit droht eine „Explosion der Zahl von Konstruktionen in einer Grammatik und damit eine Auflösung der Grammatik“ (Imo 2007b: 38), die die Frage, welche Konstruktionen eigentlich untersucht werden sollen, schier unbeantwortbar erscheinen lässt.142 Es soll jedoch festgehalten werden, dass der Begriff der Kon-struktion im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendet wird, um skriptizistisch geprägte Begriffe wie Satz vermeiden zu können.143 Diesbezüglich wird also eine vortheoretische Auffassung von Konstruktion verfolgt, die etwa auch Au-er/Pfänder (2011: 8) als „a convenient way of avoiding the problematic and presupposing notion of a sentence“ beschreiben.

3.2.2.3 Funktionale Pragmatik

Während Ansätze der Interaktionalen Linguistik und der Konstruktionsgram-matik in den letzten Jahren vermehrt Eingang in Arbeiten zur Syntax gespro-chener Sprache gefunden haben, sind grammatisch orientierte Ansätze der funktionalen Pragmatik (FP)144 weniger stark berücksichtigt worden.145 Im Fol-genden soll aber erläutert werden, inwiefern ein Blick auf grundlegende Kon-zepte der FP für eine grammatiktheoretische Auseinandersetzung mit gespro-chener Sprache-in-Interaktion lohnend sein könnte.

Ähnlich wie die Konstruktionsgrammatik war die Herausbildung der funk-tionalen Pragmatik maßgeblich durch Kritik an bestehenden, in diesem Fall strukturalistischen Ansätzen motiviert (vgl. Brünner/Graefen 1994: 1011). Diese Kritik bestand v.a. in der reduzierten Perspektive der Strukturalisten auf die

|| 142 Tatsächlich ist die umfassende Arbeit an Korpora im Rahmen der KxG bisher eher selten

vertreten (vgl. Deppermann 2011: 218). Einen Überblick über quantitative korpuslinguistische Methoden in der KxG geben Ziem/Lasch (2013: 68).

143 Dies erweist sich z.B. als sinnvoll, wenn eine mit weil begonnene Äußerung eines Spre-chers von einem der anderen Gesprächsteilnehmer unterbrochen wird, und diese damit nicht als weil-Satz, wohl aber als weil-Konstruktion bezeichnet werden kann.

144 Arbeiten der funktionalen Pragmatik sind auch unter dem Begriff der funktional-pragmatischen Diskursanalyse (vgl. z.B. Grießhaber 2001) bekannt. Aufgrund der weiter oben bereits angesprochenen semantischen Mehrdeutigkeit von Diskurs wird im Folgenden jedoch auf den Zusatz Diskursanalyse verzichtet.

145 Eine Ausnahme bildet dabei u.a. ein Aufsatz von Hennig (2007) zur Temporalität in ge-sprochener Sprache, in dem die Autorin Möglichkeiten der Anwendung der Feldergrammatik in der Ausdifferenzierung nach Bondarko (1991) und damit einhergehend funktional-pragmatischer Konzepte auf gesprochene Sprache-in-Interaktion beleuchtet.

formale Ebene, die nonverbale und paralinguistische Faktoren ausblendete und Sprache aus dem Kontext sprachlichen Handelns herausgelöst betrachtete. Als zentraler Bezugspunkt für Vertreter der Funktionalen Pragmatik (vgl. v.a. Ehlich 1991; 1998; 2000; Rehbein 1988; Redder 1990; 2004; Grießhaber 2001; Hoffmann 2003; Rehbein/Kameyama 2006) ist denn auch die Sprechakttheorie (v.a. in der Ausprägung bei Austin (1962) und später Searle (1969)) zu nennen. Begründet von Konrad Ehlich und Jochen Rehbein geht die FP davon aus, dass sprachliche Ausdrücke Ressourcen im Rahmen sprachlichen Handelns darstellen. Sprache wird als „Sprache ‚in discursu‘“ angesehen: „Sprache als Ressource für das sprachliche Handeln besagt, dass Sprache eine Menge von Strukturen ist, die in unserer Kommunikation, für unsere Kommunikation und durch unsere Kom-munikation entstehen, erhalten und genutzt werden" (Ehlich 2006: 18). Die Orientierung an pragmalinguistischen Konzepten, und hier v.a. an der Sprech-akttheorie, gründet u.a. in der Kritik an der schriftbasierten Kategorie Satz und der auch innerhalb der schriftbasierten Grammatik bestehenden definitorischen Unsicherheit hinsichtlich des Satzbegriffs (vgl. Ehlich 1998: 51).146 Das Haupt-problem sieht Ehlich dabei in der (impliziten oder expliziten) Übernahme der Aristotelischen Auffassung von Satz als

‚logos‘ im Sinne der ‚protasis‘, der Aussage, der Assertion. Von allen anderen ‚Sätzen‘

sieht er [Anm. ML: Aristoteles] ab. Dieses Absehen hat 2300 Jahre Linguistikgeschichte wesentlich determiniert. (Ehlich 1998: 59)

Als Folge dieser Koppelung von Satz mit Proposition und wiederum mit Subjekt und Prädikat ging Ehlich zufolge eine „Entfunktionalisierung“ (Ehlich 1998: 60) einher, indem der Zweck einer Äußerung gegenüber dem Wahr-Falschheits-Kriterium der Logik ins Hintertreffen geriet.

Erst mit dem Perspektivenwechsel auf Sprache als Handeln im Rahmen der Pragmatik wurde dieser entfunktionalisierte Satzbegriff gelockert.147 Während

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146 Ehlich (1998) konstatiert Ende der 1990er-Jahre ein Abebben der theoretischen Auseinan-dersetzung mit der Kategorie Satz, nachdem über Jahrzehnte hinweg eine vehemente Diskussi-on rund um den Satzbegriff geführt wurde, wie an Ries‘ (1931) und Seidels (1935) Sammlung von insgesamt über 220 verschiedenen Satzdefinitionen erkennbar ist. Dieses abnehmende Interesse an der Definition von Satz als Grundkategorie der Linguistik sieht Ehlich in einer gewissen Resignation begründet: „[S]elbst dort, wo Linguistik sich wieder explizit als Satzlin-guistik versteht, unterbleibt die Bestimmung der Grundkategorie ‚Satz‘. Genauer: Man verläßt sich auf das, was man immer schon zu wissen meint“ (Ehlich 1998: 52).

147 Die Abkehr vom Wahr-Falschheits-Kriterium zur Beurteilung von Sätzen und die Hinwendung zum Handlungscharakter von Sprache wird auf sprachphilosophischer bzw. -psychologischer Seite v.a. bei Humboldt (in seiner dynamischen Sprachauffassung – Sprache

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sich Vertreter der Sprechakttheorie aber eher auf einzelne Sätze bzw. Äußerun-gen konzentrieren und diese v.a. im Hinblick auf sprachliche Prozesse beim Sprecher/bei der Sprecherin beschreiben, ist im Rahmen der funktional-pragmatischen Ansätze die Sprecher-Hörer-Interaktion als Kooperation zentral, wobei der Fokus hier v.a. auf der Kooperation im Wissenstransfer und damit auf den mentalen Prozessen der Gesprächsteilnehmer/-innen liegt.148 Sätze spielen in diesem kooperativen Wissenstransfer keine bedeutendere Rolle als andere Elemente sprachlichen Handelns. Ehlich (1998: 61; Hervorhebung im Original) hält fest: Der Satz als „scheinbar elementare Form von Sprache“ ist daher „als eine nicht allgemeine, sondern als eine spezifische Form des sprachlichen Han-delns zu interpretieren.“ Als Grundeinheit sprachlichen HanHan-delns wird nicht der Satz, sondern die sprachliche Prozedur angesehen. Sprachliche Prozeduren werden definiert als:

einzelne Tätigkeiten der kommunikativen Interaktanten, durch die die Sprecher Verstän-digung mit den Hörern erzielen. Sie gehen zu einem großen Teil in die Konstituierung sys-tematisch komplexerer sprachlicher Handlungsformen, insbesondere des propositionalen und des illokutiven Aktes, und darüber in die Konstituierung von Sprechhandlungen ein.

Sie können z.T. aber ihre Handlungszwecke auch vollständig in sich erfüllen und sind dann selbstsuffizient, bedürfen also zu ihrer Realisierung einer derartigen zusätzlichen In-tegration nicht, um kommunikativ effizient zu sein. (Ehlich 2007c: 91)

Die Orientierung an sprachlichen Prozeduren soll ein Loslösen von der illokuti-ven Ebene in der Sprechakttheorie als Zusatz zur schriftbezogen entwickelten Kategorie der Proposition ermöglichen. Die Kategorie der sprachlichen Prozedur sei dem Satz bzw. der Illokution vorzuziehen, da „eben in Prozeduren, und nicht in den Akten und nicht in den Handlungen als ganzen, genau dieses Zu-sammenkommen von Struktur und Funktion und damit der

Ressourcencharak-||

als Energeia; vgl. 1830-35), im Spätwerk Wittgensteins (mit seinem Fokus auf Sprache im Rah-men der ordinary language philosophy, vgl. Philosophische Untersuchungen (1953/2001)) und durch Bühler (mit seiner Auffassung von Sprache als „Werkzeug“, vgl. (1934)) vorbereitet, aus linguistischer Perspektive dann schließlich durch Austin (1962), Searle (1969) und auch Coseriu (1975) etabliert. Für einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung pragmatischer Ansätze in der Sprachwissenschaft sei auf Ernst (2002: 63) verwiesen.

148 Ehlich und andere Vertreter der FP beschreiben diese mentalen Vorgänge als „Wissens-mobilisierung“ bzw. eine gegenseitige Aktualisierung der Wissenssysteme von Sprecher und Hörer. So schreibt etwa Ehlich: „Damit Wissensmobilisierung beim Hörer überhaupt möglich ist, muß die Vielfältigkeit und Diffusität seines Wissens in einer spezifischen Weise aktuali-siert, aus der Assoziationspotenz in die Realität konkreter einzelner Assoziationen gebracht werden. Dieses Erfordernis besteht beim größten Teil der sprachlichen Handlungen“ (Ehlich 1998: 62).

ter im Einzelnen deutlich wird.“ (Ehlich 2006: 19). In der funktionalpragmati-schen Analyse geht es also darum, die Wechselbeziehungen zwifunktionalpragmati-schen den kommunikativen Erfordernissen der Interaktion und den Prozeduren als sprachliche Ressourcen für verschiedene Handlungszwecke zu identifizieren.

Auf Bühlers Unterscheidung zwischen Symbol- und Zeigfeld aufbauend149 entwirft Ehlich ein Fünffeldermodell, dem verschiedene Typen sprachlicher Prozeduren zugeordnet werden können. Bühlers Symbol- und Zeigfeld, dem die nennenden (Symbolfeld) und die deiktischen Prozeduren (Zeigfeld) zugeordnet werden können, fügt Ehlich Mal-, Lenk- und Operationsfeld hinzu (vgl. Ehlich 2007c: 9192). Die Realisierung dieser drei weiteren Felder kann in Form von sprachlichen Einheiten (Einzelwörter, Morpheme, satzförmige Einheiten) von-statten gehen, aber auch aus para- oder nonverbalen Elementen bestehen. Dem Malfeld etwa können expressive Prozeduren zugeordnet werden. Mit ihnen werden Einstellungen des Sprechers in Bezug auf Redeinhalte gegenüber dem Hörer kommuniziert, allerdings auf paralinguistischer Ebene, etwa durch die intonatorische Ausgestaltung. Dem Lenkfeld sind expeditive Prozeduren zuzu-ordnen: Sie greifen direkt in den Handlungskontext ein, wobei ihre kommuni-kative Ausgestaltung unterschiedlichste Formen annehmen kann. Sowohl di-rekte Anreden (z.B. Hey!) als auch Interjektionen (Hm?) oder Imperativformen (Komm her!) können als expeditive Prozeduren beschrieben werden. Operative Prozeduren (Operatives Feld) dienen der Wissensbe- und -verarbeitung, sie ermöglichen dem Hörer/der Hörerin „die Prozessierung der sprachlichen Hand-lungs-elemente von S“ (Ehlich 2007c: 92). Kommunikative Inhalte werden mit-tels operativer Prozeduren – z.B. Konnektoren, Artikeln, Negationswörtern, aber auch durch die Wortstellung – zu Sinneinheiten verknüpft.150 Ein sprachli-ches Element kann dabei – je nach kommunikativem Kontext in der

Sprechsitu-|| 149 Bühlers Annahme der kontextuell-situativen Einbettung jeder sprachlichen Äußerung, die

er in seiner Zweifelderlehre erläutert, war für den Fortgang der linguistischen Pragmatik insge-samt besonders prägend. Bühler trägt damit der Beobachtung Rechnung, dass es neben Aus-drücken mit Symbolcharakter wie Haus, Lehrer, Ameise auch sprachliche Zeichen gibt, mit denen der/die Sprechende auf etwas zeigen, hinweisen kann: deiktische Ausdrücke. Die deik-tischen Ausdrücke werden dem Zeigfeld zugeordnet, dessen Ausgangspunkt die Ich-Jetzt-Hier-Origo des Subjekts bildet. Das Symbolfeld ist dagegen situationsentbunden – ihm ordnet Büh-ler die „Nennwörter“ (BühBüh-ler 1934/1965: 149) zu: „Die Sprache […] symbolisiert; die Nennwör-ter sind Gegenstandssymbole. Aber ebenso wie die Farben eines Malers einer Malfläche, so bedürfen die sprachlichen Symbole eines Umfeldes, in dem sie angeordnet werden. Wir geben ihm den Namen Symbolfeld der Sprache“ (Bühler 1934/1965: 150151).

150 Welche sprachlichen (verbalen, para-verbalen oder non-verbalen) Elemente letztendlich diese fünf sprachlichen Felder füllen können, ist von Sprache zu Sprache verschieden. Die eben genannten Beispiele beziehen sich auf das Deutsche.

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ation – verschiedene Prozeduren ausführen. Das Personalpronomen sie kann etwa als operative Prozedur Wissenselemente miteinander verknüpfen, aber auch als deiktische Prozedur fungieren (sie iSv. ʹDie Frau dort drüben.ʹ). Die sprachlichen Felder können also nicht isoliert voneinander betrachtet werden, zumal sie auch auf mentaler Ebene151 mit verschiedenen Tätigkeiten verknüpft sind:

Die verschiedenen Prozeduren bedeuten für die verschiedenen Sprecher-Hörer-Interaktionen jeweils spezifische mentale Tätigkeiten der involvierten Interaktanten. So leistet der Sprecher mittels der deiktischen Prozedur die Steu-erung des Aufmerksamkeitsapparates seines Hörers: mit Hilfe von Interjektio-nen interferiert der Sprecher unmittelbar in den Handlungsabläufen des Hörers, mit operativen Prozeduren hingegen trägt er dazu bei, daß der Hörer etwa die angebotenen Informationen adäquat verarbeiten und ihm bereits verfügbare Informationen mit in die Interaktion einbeziehen kann. (Ehlich 2007a: 24)

Für den Übergang eines sprachlichen Ausdrucks von einem der fünf sprach-lichen Felder zu einem anderen schlägt Ehlich den Terminus Feldtransposition vor (vgl. Ehlich 2007c: 9495). Eine Äußerung Ach!, die als Interjektion dem ex-peditiven Feld zuzuordnen wäre, kann als Substantivierung (z.B. Sein Ach und Weh nahm kein Ende.) eine Funktionalität im Symbolfeld einnehmen. Um den Übergang eines Ausdrucks in ein anderes Feld auch in der linguistischen Ter-minologie zu kennzeichnen, schlägt Ehlich vor, in diesem Fall das Präfix para- zu verwenden. Ach in oben genanntem Beispielsatz wäre demnach als para-symbolische Prozedur zu bezeichnen.152

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151 Der Grundeinheit der Prozedur auf der Ebene des sprachlichen Handelns auf der Sprach-oberfläche entspricht die Annahme einer elementaren mentalen Inhaltsgröße als „Wissens-struktur vor dem Einsatz einzelner Prozeduren“ (Ehlich 2007d: 78; Hervorhebung im Original), der so genannten elementaren propositionalen Basis (epB). Die epB besteht aus mindestens einem Element des Symbolfeldes und wird im sprachlichen Handeln „minimal operativ bear-beitet. Das bedeutet, die epB wird durch mindestens ein operatives Ausdrucksmittel für eine Verarbeitung als sprachlich kommunizierter mentaler Gehalt geformt“ (Redder 2006: 138). Eine Äußerung wie z.B. „Ich habe den Welthandel studiert“ beruht auf der epB „X studie-ren_Welthandel“, die durch Anwendung verschiedener Prozeduren (z.B. der deiktischen Pro-zedur zur Personenidentifikation) für die Kommunikation aufbereitet wird.

152 Die Annahme von Feldtranspositionen stellt damit einen interessanten Ansatz für dia-chrone Fragestellungen (welches ist das Ausgangsfeld eines sprachlichen Ausdrucks) im Sinne einer „Funktionalen Etymologie“ (Ehlich 2007c) dar und auch in Bezug auf Probleme der Wortarteneinteilung (vgl. Hoffmann 2009) und zur Beschreibung von Vorgängen der Gramma-tikalisierung (vgl. Kapitel 4.2.4.) kann dieses „Wandern“ sprachlicher Elemente von einem Feld zum anderen als fruchtbarer Bezugspunkt dienen. In Zifonun et al. (1997) wurden die funktio-nal-pragmatischen Konzepte der sprachlichen Prozedur und der Feldtransposition auch in einer

Ehlich (vgl. v.a. 1998: 63) unterscheidet darüber hinaus zwei Gruppen von Einheiten des sprachlichen Handelns: 1. monoprozedurale sprachliche Hand-lungsformen und 2. multiprozedurale HandHand-lungsformen. Erstere sind selbstsuf-fiziente Prozeduren, die keiner Kombination mit weiteren Prozeduren bedürfen, um in der Kommunikation effizient sein zu können, was v.a. für expeditive Pro-zeduren des Lenkfelds (z.B. Hey!) gilt. Zweitere Gruppe unterteilt Ehlich in zwei Möglichkeiten der multiprozeduralen Handlungsformen, die Prozedurenkombi-nation und die Prozedurenintegration. In einer ProzedurenkombiProzedurenkombi-nation (oder auch einem Ensemble von Prozeduren, vgl. Redder 1990) werden mehrere sprachliche Prozeduren miteinander verbunden, wobei auch eine Prozeduren-kombination nicht satzförmig sein muss. In einer Äußerung wie Hey Tante Ger-da! wird etwa eine expeditive mit einer symbolischen Prozedur verknüpft. Wie diese Prozedurenkombinationen vonstatten gehen, ist dabei sprachtypkonstitu-tierend:

Sowohl bei den agglutinierenden wie bei den flektierenden Sprachen wird sprachliche Struktur im Wesentlichen so hergestellt, daß spezifisch solche Kombinationen vorge-nommen werden, die dann in den Grammatiken ihre Beschreibung finden. Im Konzept der 'Grammatikalisierung' erhält diese an der verschriftlichten Oberfläche der Sprache greif-bare Struktur kategorialen Status. (Ehlich 1998: 65)

Die Prozedurenintegration beschreibt Ehlich als weitere Stufe der Kombination einzelner sprachlicher Prozeduren zu größeren Einheiten, auf deren Ebene auch der Satz beschrieben werden kann. Dabei handelt es sich um komplexe multi-prozedurale Kombinationen zur interaktiven Verständigung. Eine satzförmige Äußerung wird als eine spezifische Form sprachlichen Handelns unter vielen angesehen, „in der unterschiedliche Prozeduren auf unterschiedliche, aber für die je einzelne Sprache charakteristische und unverwechselbare Weise inte-griert werden. Sie setzen jeweilige mentale 'elementare propositionale Basen (epB)' verbal um“ (Ehlich 1998: 66).

In der FP des deutschsprachigen Raums lag der Forschungsschwerpunkt im Großen und Ganzen auf institutioneller Kommunikation (vgl. z.B. Redder 1983;

|| Gegenwartsgrammatik des Deutschen (vgl. v.a. 21 und 310) integriert. Nicht zuletzt ist das

funktional-pragmatische Konzept sprachlicher Prozeduren auch für sprachtypologische Arbei-ten relevant: Die Kombination der sprachlichen Prozeduren miteinander ist als sprachenspezi-fisch anzusehen. So hält etwa Ehlich (2007f: 444) fest: „Einzelne Sprachen nehmen charakte-ristische Kombinationen vor. Prozedurenkombinationen sind etwa für flektierende Sprachen ein zentrales Verfahrensmittel.“

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2002; Ehlich/Rehbein 1994; Grießhaber 1999),153 aber auch in Bezug auf syntak-tische Phänomene entstanden v.a. in den 1990er-Jahren einige funktional-pragmatisch orientierte Studien, z.B. zu Funktionen der Konnektoren denn und da (vgl. Redder 1990), zu operativen Prozeduren der Wortstellung (vgl. z.B.

Rehbein 1992), Verfahren der Klammerung (vgl. Eroms 1999), zu Präpositional-konstruktionen (vgl. Grießhaber 1999), zu Prozedurenkombinationen in Form von Relativelementen (vgl. Eissenhauer 1999), zu Anakoluthen (vgl. Hoffmann 1991), oder zu Ellipsen bzw. Analepsen (vgl. Hoffmann 1999; bzw. allgemein zur funktionalen Syntax: 2003).

Methodisch sind die Vertreter der Funktionalen Pragmatik dabei empirisch-induktiv ausgerichtet. Auf der Grundlage von (nach dem dafür entwickelten Transkriptionssystem HIAT154 angefertigten) Transkripten wird eine hermeneu-tische materialgeleitete Analyse der diskursiven Daten durchgeführt. Ähnlich wie Vertreter der Interaktionalen Linguistik oder konstruktionsgrammatischer Ansätze sind sie skeptisch gegenüber vorgefassten Kategorien- bzw. Begriffsge-bäuden:

Kategorien für die Analyse des sprachlichen Handelns sind diesem nicht sozusagen ‚vor-zukonstruieren‘, sondern aus ihm selbst zu entwickeln. Das betrifft sowohl jene Aspekte des sprachlichen Handelns, die jenseits der traditionellen Analyse liegen, wie auch – und das ist beinahe der schwierigere Teil – diejenigen, für die traditionelle Kategorien zur Ver-fügung stehen, ja zu Bestandteilen des allgemeinen Grundlagenwissens oder gar zu all-tagssprachlichen Ausdrücken geworden sind. (Ehlich 2007b: 189)

In einer zyklischen Vorgehensweise werden daher zugrundeliegende Katego-rien während der Auseinandersetzung mit dem Sprachmaterial laufend reflek-tiert und überarbeitet. Diesen methodischen Ansatz fasst Redder (1990: 13) wie folgt zusammen:

Ich folge einer Verfahrensweise, in der die Beispiele aus konkretem, empirischem Material nicht nur Belegfunktion haben, sondern das konkrete Material sind, das für die Gewin-nung der Kategorien in gleicher Weise die Grundlage bildet, wie diese Kategorien an der Analyse der Beispiele bewährt werden müssen.

||

153 Kommunikation in Institutionen (darunter auch in Schulen) wird als besonders interes-santer Forschungsgegenstand angesehen, da Institutionen als „Apparate zur Prozessierung gesellschaftlicher Zwecke“ (Ehlich 1996: 194) angesehen werden, die die Form sprachlichen Handelns maßgeblich beeinflussen.

154 Die Abkürzung HIAT steht für „Halbinterpretative Arbeitstranskription“. Für eine detail-liertere Zusammenfassung der Arbeitsschritte im Rahmen der funktional-pragmatischen Dis-kursanalyse vgl. z.B. Weber/Becker-Mrotzek (2012).

Für die Auseinandersetzung mit gesprochener Sprache sind die Annahmen der FP insofern relevant, als es um Interaktion zwischen Sprecher/in und Hörer/in und die Funktionen sprachlicher Ressourcen in dieser Interaktion geht. Eine grammatiktheoretische Auseinandersetzung mit gesprochener Sprache ist somit in den Rahmen einer Handlungstheorie von Sprache eingebettet (vgl. Redder 1990). Insgesamt erweist sich die funktionale Pragmatik als theoretischer Rah-men für eine Arbeit zur gesprochenen Sprache in mehrerlei Hinsicht als frucht-bar:

1. methodisch: Da die funktionale Pragmatik von der Wirklichkeit sprachli-chen Handelns ausgeht, ist sie notwendigerweise empirisch ausgerichtet;

2. in Bezug auf die Kategorienfrage: Der kanonisch schriftbasierte Satz ist im Rahmen der funktional-pragmatischen Grammatik nicht das Grundelement, die elementare Form von Sprache, sondern wird „als eine spezifische Form des sprachlichen Handelns“ (Ehlich 1999: 61) aufgefasst. Nicht-satzförmige Einheiten werden daher nicht als defizitär angesehen. Die (kommunikative) Vollständigkeit einer Einheit ergibt sich nicht aus dem Vorhandensein von finitem Verb und dazugehörigen Komplementen, sondern daraus, ob die Äußerung ihren Handlungszweck erfüllt. Sprachliche Prozeduren als die Grundelemente der Kommunikation sind demnach definiert als „Tätigkei-ten der kommunikativen Interaktan„Tätigkei-ten, durch die die Sprecher Verständi-gung mit den Hörern erzielen“ (Ehlich 2007c: 91) und die einerseits durch die Kombination und/oder Integration mehrerer sprachlicher Prozeduren komplexere Handlungsformen bilden können, aber andererseits „ihre Handlungszwecke auch vollständig in sich erfüllen [können] und dann selbstsuffizient [sind].“ Eine Interjektion bspw. kann als monoprozedurale sprachliche Handlungsform fungieren, die ihren Handlungszweck durch eine einzige sprachliche (z.B. expeditive) Prozedur erfüllt;

3. im Umgang mit polyfunktionalen Sprachmitteln: Verbale (oder nonverbale) Mittel können je nach Verwendungskontext mehreren sprachlichen Feldern zugeordnet werden, also Funktionen unterschiedlicher sprachlicher Proze-duren übernehmen. Hier bietet sich ein Anknüpfungspunkt an Aspekte des Sprachwandels und Grammatikalisierungsvorgänge an. Gleichzeitig kristal-lisiert sich ein Schnittpunkt mit der Vorstellung eines Varietätenkontinu-ums heraus, in dessen Umfeld ein und dieselbe Variante auf verschiedenen Variationsdimensionen auftreten und sich in Kookkurrenz mit anderen Va-rianten verdichten kann.

Die empirisch-induktive Vorgehensweise der FP fand jedoch nicht nur Zustim-mung – Kritik wurde v.a. in Bezug auf die eher intuitive Vorgehensweise und

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mangelnde Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse aus den (sehr detaillierten) Einzelstudien geübt (vgl. Weigand 1992: 57).155 Auch Weber/Becker-Mrotzek (vgl. 2012: 5) merken an, dass die Identifikation von rekurrenten Mustern im Verlauf des sprachlichen Handelns im Rahmen einer funktional-pragmatischen Analyse eher der qualitativ orientierten Generierung von Thesen diene, die anschließend in Korpusanalysen mit umfangreicherer Datenmenge verifiziert werden könnten, und plädieren insgesamt für eine Kombination quantitativer mit (u.a. funktional-pragmatisch orientierten) qualitativen Untersuchungsme-thoden (vgl. Becker-Mrotzek 2012: 8). In diesem Sinne ist auch für die hier vor-liegende Arbeit, die eine erste Bestandsaufnahme zu möglicherweise bestehen-den Unterschiebestehen-den in Bezug auf syntaktische Phänomenbereiche im Sprachgebrauch der jugendlichen im Vergleich zu den erwachsenen Osttiroler/-innen zum Ziel hat, die durchgängige Orientierung an der Funktionalen Prag-matik nicht umsetzbar. Grundlegende Prinzipien der FP wie die am Sprachma-terial ausgerichtete kritische Reflexion verwendeter Kategorien werden jedoch in den Arbeitsprozess eingebunden.

3.2.3 Fazit: Beschreibung syntaktischer Phänomene gesprochener Sprache