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6   Übergreifende Diskussion

6.1   Risikofaktoren für das Besaugen (Publikation 1)

Im Rahmen der statistischen Auswertungen des epidemiologischen ersten Teils wur-den verschiewur-dene Risikofaktoren im Bereich der Kälberhaltung und -fütterung erörtert und hinsichtlich ihres Einflusses auf das Besaugen verglichen. Bereits die ungleiche Anzahl von Kontrollbetrieben (d. h. ohne gehäuftes Auftreten gegenseitigen Besau-gens; (N=12)) und Problembetrieben (d. h. gehäuft auftretendes Besaugen; (N=41)) bringt zum Ausdruck, dass das gegenseitige Besaugen auf der Mehrzahl der Auf-zuchtbetriebe ein wesentliches Problem darstellte. Als wichtigste Risikofaktoren er-wiesen sich Tränkemenge, Dauer der Tränkeperiode und die Belegungsdichte. Aber auch einige weitere Faktoren wie die Wasserverfügbarkeit in der Einzelhaltung und

die Kolostrumversorgung sowie der allgemeine Umgang mit den Kälbern schienen eine Rolle zu spielen.

Während die täglich vertränkte Milchmenge während der Tränkeperiode ein statis-tisch relevanter Risikofaktor für das insbesondere nutritive Besaugen war, hatten die Art der Milch (Milchaustauscher oder Vollmilch) sowie die Art der Verabreichung (Nuckeleimer, Tränkeautomat) keinen signifikanten Einfluss auf das Auftreten des gegenseitigen Besaugens. Die täglichen Milchmengen, die bei Eimertränke pro Mahlzeit vertränkt werden, gehen mit einer sehr kurzen Trinkzeit von nur wenigen Minuten einher (MACCARI et al., 2012) und führen dadurch zu einer unzureichenden Befriedigung des Saugbedürfnisses. Dies deckt sich mit Erkenntnissen bisheriger Studien (JUNG und LIDFORS, 2001; DE PAULA VIEIRA et al., 2008; ROTH et al., 2009), wonach es besonders bei restriktiv gefütterten Kälbern gehäuft zur Ausprä-gung von gegenseitigem Besaugen kommt (Abbildung 2). Weiterhin führt eine restrik-tive Milchfütterung zu deutlich verlängerten Phasen in denen die Kälber hungern, was sich z. B. durch häufige Lautäußerungen und längeres über den Tag verteiltes Stehen bemerkbar macht (DE PAULA VIEIRA et al., 2008; THOMAS et al., 2001).

Hunger führt zu einer Steigerung der Saugmotivation (RUSHEN und DE PASSILLÉ, 1997) und kann gleichzeitig als starker Stressor wirken. Saugen stimuliert die Sekre-tion von CCK, Gastrin, Insulin (DE PASSILLÉ, 2001) und Oxytocin (LUPOLI et al., 2001); somit hat es einerseits offensichtliche Sättigungs- und andererseits, infolge der oxytocin-bedingten Senkung des Blutdruckes und des Cortisolspiegels, stresslin-dernde Effekte (KESSEN et al., 1967; FIELD and GOLDSON, 1984;

UVNÄS-MOBERG et al., 2001). Außerdem sind Kälber, die Milch saugend aufneh-men entspannter und legen sich nach der Tränke schneller ab als Kälber, die Milch über offene Eimer trinken (VEISSIER et al., 2002). Folglich erscheint es wahrschein-lich, dass vor allem nicht-nutritives Besaugen durch alimentäre Unterversorgungen bzw. Hungerzustände begünstigt wird.

Abbildung 2: Einfluss des Fütterungsmanagements auf das Auftreten von Besaugen - nach Keil und Audigé, 1999

Als weiterer wichtiger Risikofaktor erwies sich die Dauer der Tränkeperiode. Wie be-reits aus früheren Studien hervorgeht, wird im Zusammenhang mit kurzen Tränkepe-rioden gehäuft nutritives wie auch nicht-nutritives Besaugen beobachtet (ROTH et al., 2009; DE PASSILLÉ et al., 2010). Frühes und vor allem abruptes Absetzen von der Milch führt zum Anstieg von Plasmacortisol und Noradrenalin (HICKEY et al., 2003) und kann, infolge einer unzureichenden Deckung des Energiebedarfs durch Kraftfutter, mit einer negativen Energiebilanz, Anzeichen von Hunger, chronischem Stress, Frustration und Gewichtsverlust sowie nicht-nutritivem gegenseitiges Besau-gen einhergehen (DE PAULA VIEIRA et al., 2008; JUNG und LIDFORS, 2001;

DE PASSILLÉ et al., 2010; KAHN et al., 2010; ROTH et al., 2009). Um derartige Fol-gen des Absetzens zu vermeiden, wird z. B. eine an die tägliche Kraftfutteraufnahme angepasste Absetzmethode, sogenanntes graduelles Absetzen oder „step down“

empfohlen (ROTH et al., 2008; SWEENEY et al., 2009; KHAN et al., 2010).

Weiterhin konnte gezeigt werden, dass eine frühzeitige Wasserversorgung zu einem geringeren Auftreten von vor allem nicht-nutritivem Besaugen führte. Die Wasserauf-nahme nimmt mit steigender KraftfutteraufWasserauf-nahme deutlich zu (HEPOLA et al., 2007) und reduziert das Auftreten von oralen Verhaltensweisen. Da eine restriktive Milch-fütterung ebenfalls zu einer erhöhten Wasseraufnahme führt (DE PASSILLÉ et al.,

2011b), könnte das Fehlen einer Wassertränke zu vermehrtem Stress führen. Diese Vermutung wird dahingehend unterstützt, dass Kälber denen dauerhaft Wasser zur Verfügung steht, niedrigere Cortisolspiegel im Plasma aufweisen, als Kälber ohne einen ständigen Zugang zu Wasser. Wasser bereichert die Umwelt und verbessert das Wohlbefinden von Kälbern (GOTTARDO et al., 2002).

In Betrieben, in denen mehr Zeit für die Tierbetreuung aufgewendet wurde, wurde seltener gegenseitiges Besaugen festgestellt als in Betrieben mit unterdurchschnittli-chem Betreuungsaufwand. Gerade im Hinblick auf ein größeres Temperament des Fleckviehs im Vergleich zu anderen Rinderrassen wie z. B. Deutsche Angus oder Hereford (HOPPE et al., 2010; GAULY et al., 2002), ist ein häufiger und intensiver Kontakt zum Menschen angebracht. Kälber, die regelmäßig menschlichen Kontakt und positive Erlebnisse wie z. B. Berührungskontakt haben, sind später zutraulicher, umgänglicher und zeigen weniger stressassoziiertes Verhalten (vermehrter Kotab-satz, Flucht) beim Umgang mit vertrauten oder fremden Menschen. Das erleichtert das Handling und steigert wiederum das Wohlbefinden der Kälber (WATERHOUSE, 1978; GRANDIN, 1997; LENSINK et al., 2000).

Als auffälligster, begünstigender Faktor für gegenseitiges Besaugen stellte sich je-doch die Belegungsdichte dar, während andere Umweltfaktoren wie z. B. Einstreu, Hygiene der Stallungen und Gruppengröße weniger deutlichen Einfluss ausübten.

Dass eine hohe Belegungsdichte, einhergehend mit geringem Platzangebot pro Tier, begünstigend auf die Ausprägung von gegenseitigem Besaugen wirkt, wurde bereits in früheren Studien beschrieben (KEIL et al., 2000). Bei Kälbern, die in Gruppen mit hoher Belegungsdichte gehalten werden, sind deutlich höhere Cortisolwerte nach-weisbar als bei Tieren in Gruppen mit geringer Belegungsdichte (SCHLICHTING et al., 1990). Das erscheint nicht ungewöhnlich, da eine hohe Belegungsdichte bzw.

beengter Raum zum Liegen und Bewegen das Wohlbefinden einschränken und da-mit potentiell als Stressor anzusehen sind (FRIEND et al., 1977; LE NEINDRE, 1993;

NIELSEN et al., 1996). Weiterhin kommt es in Kombination mit restriktiver Milchfütte-rung in der Gruppe vermehrt zur Konkurrenz um Milch (Jensen und Budde, 2006),

Während im epidemiologischen ersten Teil keine Zusammenhänge zwischen der Gruppengröße und dem Besaugen feststellbar waren, konnte im experimentellen zweiten Teil ein deutlicher Zusammenhang dargestellt werden. So trat nutritiv be-dingtes Besaugen in Kälbergruppen mit über 10 Mitgliedern deutlich häufiger auf als in Gruppen mit weniger als 10 Tieren. Eine Gruppengröße von maximal 10 Tieren wurde bereits in früheren Studien als Richtwert empfohlen (SVENSSON und LIBERG, 2006), denn Vorteile einer kleinen Gruppe sind die offensichtliche Reduzie-rung des Keimdruckes, VerringeReduzie-rung eventueller Rivalitäten und ReduzieReduzie-rung der Konkurrenz um die Tränke (VEISSIER et al., 1994; DE PAULA VIEIRA, 2008; KEIL, 2007; ERIKSSON, 2009).

6.2 Stress als Auslöser für das Besaugen (Publikation 2)