Auch nach Ge
nuß hestimm- ter Speisen können Gelenk- heschwerden auftreten
Immunologi
sches Rheuma betrifft den ganzen Men
schen
Außer den autoaggressiven und infektinduzier
ten Formen des entzündlichen Gelenkrheuma
tismus, die in der letzten Folge besprochen wurden, gibt es noch zahlreiche andere. Häufig werden all diese Erkrankungen unter dem Be
griff »Rheumatischer Formenkreis« zusam
mengefaßt. Nur einige Beispiele dazu: Nach Fehltransfusionen kommt es nicht selten im Rahmen der perakut einsetzenden Immunre
aktion, neben Asthma, Urtikaria und Schock, auch zu Gelenkbeschwerden. Immer wieder finden sich Leute ein, bei denen nach Genuß bestimmter Speisen Gelenkbeschwerden auf
treten. Auch im Rahmen ärztlicher Maßnah
men, wie Schutzimpfungen und Hyposensibili
sierungstherapie, kann es zu jeweils passage- ren arthritischen Zuständen kommen. Sie alle beweisen ein weiteres Mal, daß Antigene ent
weder solitär oder, was hier häufiger der Fall ist, als Immunkomplex bis ins Gelenk ver
schleppt werden. Jetzt müßten wir uns natür
lich auch fragen, warum denn ausgerechnet im Gelenk eine immunologisch bedingte Entzün
dungsreaktion ausgelöst wird, wo es doch dem Zufallsprinzip obliegt, wohin diese Immun
komplexe im Blut gespült werden. Oder liegen wir da mit unserer Vermutung falsch?
»An Rheuma stirbt man nicht?!«
Tatsächlich sind die meisten immunologisch bedingten entzündlichen Gelenkerkrankungen keineswegs auf den Bewegungsapparat be
schränkt. Es ist ja auch ganz klar, daß solche Immunkomplexe überall hingelangen können und insbesondere in den Kapillaren zu Schä
den führen. Kapillaren gibt es aber überall, vorzugsweise in Organen. Daher sind bei sol
chen rheumatischen Prozessen grundsätzlich alle Organe mehr oder weniger ebenfalls ent
zündlich erkrankt. Extraartikuläre Manifesta
tionen finden sich am Auge, Herz, Niere, Lunge, Haut und anderen Organen. Sie bleiben häufig unbemerkt, weil sie der Patient nicht spürt und
der Arzt nicht intensiv genug danach sucht. Sie zu kennen ist aber außerordentlich wichtig, weil der Spruch »An Rheuma stirbt man nicht«
bei solchen Patienten nicht zutrifft -, sie ster
ben an Herzversagen, Nierenversagen oder ei
ner Lungenerkrankung. Es ist auch schlimm genug, wenn etwa ein Patient im Rahmen rheu
matischer Erkrankungen sein Augenlicht ver
liert. Mit Fug und Recht muß daher betont werden, daß der immunologische Rheumatis
mus eine Erkrankung des gesamten Menschen ist. Seit wann ist das bekannt?
Systemische Immunkrankheiten
Die Verknüpfung insbesondere chronisch fort
schreitender entzündlicher Gelenkerkrankun
gen mit anderen Prozessen des gesamten Bin
degewebes ist eine uralte Erfahrungstatsache des Alltags. Als gemeinsame Matrix wurde ehe
dem das Kollagen vermutet, worauf die Be
zeichnung Kollagenose zurückgeht. Dies ist je
doch unzutreffend, da das Kollagen selbst kei
neswegs die Ursache für die Immunreaktion darstellt, sondern nur im Feuer dieses Entzün
dungsprozesses mit verbrennt. Daher ist es auch sinnvoller, entweder von systemischen Immunkrankheiten zu sprechen oder von
Im-VVas fällt alles unter den Begriff »rheumati
scher Formenkreis?«
Eine jedermann zufriedenstellende Systematik der rheumatischen Erkrankungen gibt es nicht.
Weder histologisch noch immunologisch lassen sich klare Fronten schaffen. Daher scheint zu
mindest gegenwärtig noch die Orientierung an Organbefall und Symptomen die bestgeeignete Form. Hier lassen sich drei große Gruppen un
terscheiden:
• Erkrankungen mit vorzugsweise arthriti- schem Charakter,
• Krankheiten mit dominierendem systemi
schem Einschlag und
• vaskulitische Syndrome.
Z. Allg. Med. 1992;68: 368-370. © Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart 1992
Immunologie Serie (21),
munopathien des Bindegewebes und Gefäßap- parates. Häufig ist auch ganz allgemein vom rheumatischen Formenkreis die Rede.
Es sei hier gleich vermerkt und eingestan
den, daß ja letztlich all diese Erkrankungen in irgendeiner Form vaskulitisch sind und auch die serösen Häute mit befallen. Systemische und von vornherein arthritische Erkrankungen haben jedoch eine Manifestation an kleinsten Gefäßen, wogegen bei der Vaskulitis vorzugs
weise große Gefäße außerhalb von den End
strecken in den Organen betroffen sind. Diese rein klinisch orientierte Einteilung läßt die Na
tur des auslösenden Antigens völlig unberück
sichtigt, weil eben unabhängig davon die Be
schwerden und Erscheinungen stets identisch sind. Wer dies akzeptiert, wird keine Mühe haben mit der Einteilung in der Tabelle /.
Dabei ist es wichtig zu wissen, daß sich nicht selten aus der einen Krankheitsgruppe plötz
lich eine andere entwickelt, wenn etwa der systemische Lupus erythematodes zunächst nur polyarthritisch beginnt und später andere Organe mit einbezogen werden. Darüber hin
aus gibt es noch andere Verknüpfungen, bei denen teilweise die Krankheitsbezeichnung auf die Zusammenhänge hinweist, wie etwa Ente- roarthritis die Kombination von Polyarthritis und entzündlicher Darmkrankheit, gegebenen
falls auch eine Beteiligung des Achsenskeletts und der Regenbogenhaut umschreibt. Da all diese Dinge nicht trennscharf sind, kommt es immer wieder vor, daß gerade zu Beginn der Beschwerden eine »falsche Diagnose« gestellt wird, die der späteren Korrektur bedarf
Immunreaktion, genetische Disposition, Umwelteinflüsse
Bislang wurden diese entzündlichen rheumati
schen Erkrankungen als Immunkrankheit hin
gestellt, doch der Beweis noch nicht erbracht.
Tatsächlich war es lang umstritten, ob all diese Erkrankungen wirklich durch die Immunreak
tion ausgelöst werden. Die besten Argumente sind die bei solchen Erkrankungen auftreten
den Immunphänomene in Form zirkulierender Antikörper, die Infiltration der erkrankten Or
gane mit Elementen des Immunsystems und der Erfolg von Therapiemaßnahmen, die das Immunsystem in seiner Aktivität reduzieren.
Was noch bleibt ist die Frage, inwieweit Erb
gut und Umwelt, also Disposition und
Exposi-Von vornherein polyarthritische Erkrankungen
Von vornherein systemische Erkrankungen
Vaskulitische Syndrome
• Infektindu- • Lupus erythe- • Panarteriitis zierte Formen matodes dissemi- • Vaskulitis
• Chronische natus • Wegenersche Polyarthritis • Gemischte Kol- Granulomatose
• Morhus lagenkrankheit • Takayasu-Bechterew • Progressiv sy
stemische Skle
rose
• Serumkrank
heit
Erkrankung
Tabelle I: Klinisch orientierte Einteilung von Erkran
kungen des rheumatischen Formenkreises
tion, eine Rolle spielen. Viel hängengeblieben ist nicht. Fündig ist man lediglich geworden bei den infektinduzierten Erkrankungen. Wer das Merkmal HLA B27 trägt, ist bis zu fünfzigmal häufiger betroffen als Individuen ohne dieses Merkmal. Es gibt eine Geschichte hierzu, wo
nach eine große Gesellschaft auf den Genuß von verdorbenem Kartoffelsalat hin einen Darminfekt bekam und nur diejenigen, welche HLA B 27-Merkmalsträger waren, zugleich eine Gelenkerkrankung aufwiesen. Besonders eng ist diese Korrelation bei der Bechterewschen Erkrankung - woraus mit einiger Kühnheit ge
schlossen werden könnte, daß auch sie ein infektinduzierter Prozeß ist. Trotz dieser ho
hen Assoziation wird keineswegs jeder Merk
malsträger krank, sondern nur etwa jeder vier
zigste, wogegen unter den HLA B27-freien In
dividuen nur jeder zehntausendste diese Er
krankung entwickelt.
Aus dieser Tatsache haben sich schon man
che unangenehmen Überlegungen und Ent
scheidungsansätze herauskristallisiert. So wollten Versicherungen bei HLA B27-Merk- malsträgern rheumatische Erkrankungen total ausschließen. Bei der Anstellung als Beamter hätte der Staat auch gerne die HLA B 27-Träger vom nassen und kalten Forstdienst ausge
schlossen und dem trockenen und warmen Bi
bliotheksdienst zugeführt. Ist die Immungene
tik bei Bechterew und infektinduzierten Er
krankungen wertvoll, so hat sie bei den übrigen Immunkrankheiten aus dem rheumatischen Formenkreis mehr oder weniger im Stich ge
lassen, jedenfalls nichts für Prognose und Dia
gnose Essentielles erbracht. Gibt es überhaupt noch interessierende Fragen und Probleme in der Rheumatologie?
Oft entwickelt sich aus der einen Krank
heitsgruppe plötzlich eine andere
Wer das Merk
mal HLA B 27 trägt, hirgt ein erhöhtes Risiko für Rheuma in sich
zifA:pi Serie (21) Immunologie
Im Kindesalter verläuft die rheumatische Erkrankung wesentlich ra
santer
In der Schwan
gerschaft ist ein Hückgang rheumatischer Beschwerden typisch
Verschiedene Krankheiten - verschiedene Symptome
Da wären einmal die verschiedenen auch von den Symptomen her zu trennenden Erkran
kungen zu nennen. Bemerkenswert ist der Un
terschied zwischen der chronischen Polyar
thritis, die an den kleinen Gelenken beginnend symmetrischen Charakter aufweist, wogegen die infektinduzierten Prozesse die großen Ge
lenke wie Schulter, Knie und Ellenbogen be
treffen und springender Natur sind. Offenbar kommt es hier zur schubweisen Aussaat von antigenem Material in einzelne Gelenke, wobei immer wieder neue einen deutlichen Entzün
dungsprozeß durchmachen. Die bei der chro
nischen Polyarthritis auffallende Symmetrie geht verloren, wenn eine E.xtremität gelähmt ist. Auffallend ist nämlich die Tatsache, daß nach Schlaganfall, Verletzung oder Kinderläh
mung an der gelähmten Extremität die rheu
matische Erkrankung der Gegenseite nicht auf- tritt. Dies hat zur Spekulation Anlaß gegeben, daß die Symmetrie über eine neurale Kompo
nente und das Segment im Rückenmark auf
rechterhalten wird.
Die Lebensumstände beeinflussen das Ausmaß der Erkrankung
Eine weitere auffallende Besonderheit ist die Nosomorphose, nämlich die Änderung des Charakters der Erkrankung in Abhängigkeit von den Lebensumständen. So verläuft die rheumatische Erkrankung im Kindesalter un
gleich stürmischer. Bekannt ist die Stillsche Variante mit hohem Fieber, Schwellung von Milz, Leber und Lymphknoten, Beteiligung von Augen und Haut sowie Unterhaut als Erythema nodosum und erheblichen Leukozytenzahlen, so daß auch an einen Infekt oder in seltenen
Fällen an eine Leukämie gedacht werden muß.
Da diese Kinder eine gute Chance haben wie
der gesund zu werden, wenngleich bleibende Gelenkschäden zu verzeichnen sind, liegt der Verdacht nahe, daß auch hier ein Infekt mög
licherweise viraler Genese die Erkrankung un
terhält, so daß die Beseitigung der Erreger auch zu einer Gesundung führt.
Im hohen Alter sind dann die entzündlichen Gelenkprozesse deutlich milder, akuter Beginn ist bei 70jährigen und älteren eine große Rari
tät. Phasen, in denen hauptsächlich die Er
krankung auftritt oder ihren Charakter ändert, sind Pubertät, Schwangerschaft und Klimakte
rium. Hier kommt es zu einer erheblichen Ver
schiebung des hormonellen Status; da die Hor
mone einen Einfluß auf die Immunreaktion ausüben, verwundert eine Änderung des Krankheitsverlaufes keineswegs. Typisch ist ein Rückgang der Beschwerden während der Schwangerschaft, was zu einem großen Teil auf den erhöhten Kortisolspiegel während die
ser Zeit zurückzuführen ist.
Rheuma - auch eine überschießende Immun
reaktion
Unter Würdigung all dieser Gesichtspunkte er
weist sich der rheumatische Formenkreis als eine sehr große geschlossene Krankheitsgruppe.
Sie ist, zufolge der überschießenden Immunre- aklion als Ursache des Ganzen, sinngemäß den Hypersensitivitäts-Syndromen zuzurechnen.
Wenn man bedenkt, daß all diesen Erkrankun
gen eine erhebliche Schmerzhaftigkeit und Funktionseinbuße zu eigen ist, dann ist wohl jedem klar, daß sie auch als schmerzhafte Volkskrankheit bezeichnet werden können.
Prof. Dr. med. H. W. Baenkler Medizinische Klinik und Poliklinik der Friedrich-Alexander-Universität Krankenhausstraße 12
8520 Erlangen