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Das Repertoire der Ereigniskonstrukte im sowjetischen und im russischen Interdiskurs

Zaristisches Rußland Leibeigenschaft 19. JH

4.1. Das Repertoire der Ereigniskonstrukte im sowjetischen und im russischen Interdiskurs

Im sowjetischen Interdiskurs wurden insgesamt 683 Ereigniskonstrukte in Form von 47 ver- schiedenen Begriffen ermittelt, im russischen Interdiskurs sind es insgesamt 497, die in 68 ver- schiedenen Begriffen vorliegen. Im Verhältnis zu den jeweils analysierten Textseiten ergibt sich daraus ein Sättigungsgrad von 0,97 Eriegniskonstrukten pro untersuchte Textseite fur den so- wjetischen Textkorpus (705 Textseiten) und ein Sättigungsgrad von 0,64 Ereigniskonstrukten pro untersuchte Textseite für den russischen Bereich (778 Textseiten). Die Häufigkeiten zei- gen, daß Ereigniskonstrukte im sowjetischen Interdiskurs insgesamt häufiger verwendet wer- den als im russischen, wobei das Repertoire an Ereigniskonstrukten im sowjetischen jedoch kleiner ist als im russischen Interdiskurs. Sowohl aus der häufigeren Verwendung der meisten Ereigniskonstrukte im sowjetischen Interdiskurs als auch aus der relativen Begrenztheit des sowjetischen ereigniskonstruktiven Repertoires im Verhältnis zum russischen kann in erster Annäherung die Hypothese abgeleitet werden, daß der sowjetische Interdiskurs sich durch eine relativ starke Fixiertheit auszeichnet. Dem russischen Interdiskurs scheint dem gegenüber eine größere Flexibilität und diskursive Offenheit eigen zu sein, es treten insgesamt mehr Objekte in ereigniskonstruktiver Funktion auf Daß diese z.T. nur ein- oder zweimal genannt werden, legt die Vermutung nahe, daß es sich bei ihnen teilweise um neue, im russischen Interdiskurs noch nicht fest verankerte Objekte handelt, die neue diskursive Bedürfnisse der Kultur reflektieren

Um einen ersten Überblick über die Beschaffenheit der ereigniskonstruktiven Bereiche beider Interdiskurse zu erhalten, scheint eine vergleichende Auflistung der Repertoires nützlich:

Tab. 6, Ereigniskonstrukte des sowjetischen und russischen Interdiskurses Sowjetischer Interdiskurs (47) Russischer Interdiskurs (68)

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Vergleicht man die Ausprägungen der Ereigniskonstrukte in beiden Interdiskursen, so wer- den im sowjetischen 10 Begriffe 20mal und häufiger genannt, im russischen Interdiskurs sind es 9 Begriffe Im sowjetischen Interdiskurs werden 8 Begriffe lOmal und häufiger genannt, im russischen sind es nur 3.

In beiden Interdiskursen ist *Rußland’ das am häufigsten genannte Ereigniskonstrukt, im sowjetischen Interdiskurs folgen ‘Revolution1 ,״Sowjetunion’, ‘Russisches Volk’, ‘Sozialis- mus’, 1Sowjetisches Volk’, ‘Kapitalismus’, 1Faschismus’, ‘Proletariat/Arbeiterklasse’ und *die rote Armee’. Im russischen Interdiskurs folgen auf ‘Rußland’ die Begriffe 1Sozialismus’, 1Fa- schismus’, ‘Revolution’, ‘Kapitalismus’, ‘Russisches Volk’, ‘Kommunismus’, ‘Liberalismus’

und ‘Intelligencija*

In beiden Interdiskursen tauchen die Begriffe ‘Rußland’, *Sozialismus’, ‘Faschismus’,

‘Revolution’, ‘Kapitalismus’ und ‘Russisches Volk’ gleichermaßen häufiger als 20mal auf, bei ihnen scheint es sich um zentrale Ereigniskonstrukte des sowjetisch-russischen Interdiskurses insgesamt zu handeln. Die für den sowjetischen Interdiskurs ebenfalls wesentlichen Begriffe

‘Sowjetunion’, ‘Sowjetisches Volk’, ‘Proletariat’ und ‘die rote Armee’ haben im russischen Interdiskurs ihre dominante Position verloren, ‘Sowjetunion’ wird hier nur noch 8mal genannt, das Ereigniskonstrukt *Sowjetisches Volk’ kommt immerhin noch 15mal vor, das ‘Proletariat’

noch 12mal. ‘Die rote Armee’ wird interessanterweise im untersuchten Textkorpus überhaupt nicht mehr in ereigniskonstruktiver Funktion erwähnt, woraus geschlossen werden kann, daß sie entweder im russischen Interdiskurs keine Rolle mehr spielt oder aber, daß es sich um ein Tabu-Thema handelt, das in den aktuellen Schulbüchern ausgeklammert wird

Im russischen Interdiskurs haben neben den erwähnten, auch im sowjetischen Interdiskurs wesentlichen Ereigniskonstrukten die Begriffe ‘Kommunismus’, ‘Liberalismus* und ‘Intelli- gencija’ eine dominante Position erlangt. Hier muß die Analyse der semantischen Profile zei- gen, welche Bedeutungen und Funktionen mit diesen Begriffen im aktuellen Interdiskurs ver- bunden werden

Nimmt man den Bereich der Nennungen, die 1 Omal und häufiger auftreten, hinzu, so ergibt sich fur den sowjetischen Interdiskurs die Reihe ‘die Partei’, ‘Klassenkampf, *Kommunis- mus’, ‘Dekabristen’, ‘Bürgertum’, ‘Marxismus’, ‘französische Revolution’ und die ‘Arbeiter- bewegung’, wobei bereits die Häufigkeit gerade dieser Begriffe die Vermutung nahelegt, daß es sich hier um zentrale Elemente der sozialistischen Komponente des sowjetischen Interdis- kursēs handelt. Im russischen Interdiskurs ist der mittlere Häufigkeitsbereich relativ schwach ausgeprägt, es kommen nur vier Begriffe häufiger als lOmal vor, nämlich ‘Sowjetisches Volk’,

‘Marxismus*, ‘Proletariat’ und ‘Bürgertum* Hierbei handelt es sich um Ereigniskonstrukte, die im sowjetischen Interdiskurs eine dominante bis mittlere Position in der Häufigkeitshierarchie besaßen, die sie im russischen Interdiskurs zwar nicht ganz verloren haben, die jedoch, zu min- dest was die Begriffe ‘Proletariat’ und ‘Sowjetisches Volk* anbelangt, deutlich schwächer ge- worden ist.

Jene Ereigniskonstrukte, die im sowjetischen Interdiskurs eine mittlere Häufigkeit aufweisen und die, wie erwähnt, im Hinblick auf die ‘sozialistische* Ausrichtung desselben eine wesentli- che Rolle zu spielen scheinen, sind im russischen Interdiskurs, wenn nicht ganz verschwunden, so doch in der Häufigkeitshierarchie auf akzidentielle Positionen abgefallen. So kommen ‘die Partei* und der ‘Klassenkampf noch 3mal vor, die ‘Dekabristen* fehlen ganz. Es scheint also der Tendenz nach so zu sein, daß Ereigniskonstrukte, die im sowjetischen Interdiskurs maß- geblich für die ‘sozialistische* Ausrichtung desselben verantwortlich waren, insgesamt an Be- deutung verloren haben, sie sind von einer dominanten Position in der Häufigkeitshierarchie auf eine mittlere bis niedrige Position abgefallen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, daß die 4sozialistisch* geprägten Ereigniskonstrukte des sowjetischen Interdis־

kursēs im russischen Interdiskurs nicht etwa durch andere, neue Ereigniskonstrukte ersetzt, bzw. von ihnen verdrängt werden, sondern daß sie nur nicht mehr so häufig verwendet werden, wodurch in diesem eine Art diskursives Vakuum entsteht, welches sich u.a. in der schwachen Besetzung des mittleren Häufigkeitsbereichs zeigt. Die für den sowjetischen Interdiskurs we- sentlichen Ereigniskonstrukte werden nicht mehr bzw nicht mehr so häufig verwendet, es gibt aber nur sehr wenige neue Ereigniskonstrukte, die sich im russischen Interdiskurs bereits eta- bliert haben, d.h. die in der Häufigkeitshierarchie eine dominante Position besitzen. Im oberen Häufigkeitsbereich sind dies ‘Liberalismus’, ‘Intelligencija* und ‘Kommunismus’, im mittleren Häufigkeitsbereich finden sich keine neuen Ereigniskonstrukte, sondern, wie gesagt, nur sol־

che, die im sowjetischen Interdiskurs in dominanter Position vorhanden waren Der Umstand, daß sechs der am häufigsten genannten Ereigniskonstrukte in beiden Interdiskursen überein־

stimmen, scheint der hier angenommenen grundsätzlichen Entwicklung, daß die sozialistische Komponente des sowjetischen Interdiskurses im russischen nicht mehr stark ausgeprägt ist und wahrscheinlich ganz verschwinden wird, zu widersprechen. Hier muß die Analyse der entspre־

chenden semantischen Profile näheren Aufschluß über die Bedeutung, die Bewertung und die Funktionen dieser Begriffe in den jeweiligen Interdiskursen geben Es kann nämlich vermutet werden, daß die den sowjetischen Interdiskurs mit tragenden Ereigniskonstrukte im russischen Interdiskurs dazu benutzt werden, sich von ihnen und damit dem sowjetischen

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stem insgesamt zu distanzieren und abzugrenzen, was wiederum die genannte Grundannahme der allmählichen Verdrängung der ‘sozialistischen* Diskurskomponente im russischen Interdis- kurs stützen würde.

Interessant ist abschließend noch die Betrachtung jener Ereigniskonstrukte, die jeweils nur in einem der beiden Interdiskurse vertreten sind Allein im sowjetischen Interdiskurs sind 15 Ereigniskonstrukte vorhanden, allein im russischen Interdiskurs sind 36 Ereigniskonstrukte bzw -konstruktionen vertreten:

Tab. 7, Allein im sowjetischen oder im russischen Interdiskurs vertretene Ereigniskonstrukte Sowjetischer Interdiskurs (15) Russischer Interdiskurs (36)

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Sowjetischer Interdiskurs Russischer Interdiskurs

теневая экономия (SchattenWirtschaft) 1, тоталитаризм (Totalitarismus) 1,

великая держава (Großmacht) 1, воздушный мост в Берлине (die Luftbrücke in Berlin) l, завтрашний день (morgen) 1.

Bei den Ereigniskonstrukten, die allein im sowjetischen Interdiskurs vertreten sind, scheint es sich großenteils um Begriffe zu handeln, die die *sozialistische’ Diskurskomponente des sowjetischen Interdiskurses repräsentieren. Daß sie im aktuellen russischen Interdiskurs fehlen, kann als weiterer Hinweis auf das allmähliche Verschwinden dieser Komponente gedeutet werden.

Die große Anzahl an neuen Ereigniskonstrukten, bzw. -konstruktionen, die ausschließlich im russischen Interdiskurs auftreten, deutet darauf hin, daß dieser sich in einer Umbruchphase befindet. Obwohl, wie erwähnt, nur wenige der neuen Ereigniskonstrukte bereits eine relevante Position in der Häufigkeitshierarchie einnehmen, ist ihr bloßes Vorhandensein bereits ein Indiz dafür, daß der aktuelle russische Interdiskurs auf neue kommunikative Bedürfnisse der Kultur reagiert oder diese selbst modifiziert, und zwar, indem alte Diskurskomponenten aus dem Dis־

kurs entfernt und neue aufgenommen werden Die Ausprägung der neuen Ereigniskonstrukte bzw. -konstruktionen deutet darüber hinaus auf eine neue Art der Geschichtsschreibung und damit auf eine geänderte Wahrnehmung der eigenen Kultur und ihrer Geschichte hin.

Im folgenden werden die semantischen Profile der häufigsten Ereigniskonstrukte beider In־

terdiskurse rekonstruiert und einander entsprechende Begriffe verglichen.