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VI. Ergebnis von Teil 2

2. Reichweite der Legalausnahme

Seit den Urteilen des Gerichtshofs vom 23.10.1997 zu den Im- und Exportmonopolen für Strom und Gas ist auch endgültig klar, dass Art. 86 Abs. 2 EGV von der Anwendung aller Vorschriften des EG-Vertrages befreien kann und zwar selbst von solchen Vertragsregeln, die wie Art. 31 EGV ihre eigenen Ausnahmevorbehalte haben.873 Nach herrschender Meinung in der Literatur kommt zutreffenderweise die Anwendung der Legalausnahme des Art. 86 Abs. 2 EGV allerdings nur als ultima ratio in Betracht, d.h. vorher müssen alle anderen im EG-Vertrag geschriebenen und ungeschriebenen Ausnahmetatbestände erfolglos ausgeschöpft worden sein.874 Dies folgt schon aus der systematischen Grundregel, dass die speziellen Ausnahmen der Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln vor der normkomplexübergreifenden, allgemeineren Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EGV zu

870 Ehricke, U., Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV, EuZW 1998, S. 741 (743), der darauf hinweist, dass diese Auslegung auch der Entstehungsgeschichte der Norm gestützt wird.

871 So fälschlicherweise Jung, C., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 1999, Art. 86, Rd. 33; Baur, J., Aktuelle Probleme des Energierechts, 1995, S. 77 (90); Lecheler, H., Die Versorgung mit Strom und Gas als ‘service public‘ und die Bedeutung der service-public Doktrin für Art. 90 Abs. 2 EGV, RdE 1996, S. 212 (216).

872 Möschel, W., Europäisches Kartellrecht in liberalisierten Wirtschaftssektoren, WuW 1999, S. 832 (834);

Mestmäcker, E.-J., Daseinsvorsorge und Universaldienst im europäischen Kontext, in: Ruland/von Maydell/Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, 1997, S. 635 (641); ders., in:

Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 35; Jungbluth, A., in: Langen/Bunte (Hrsg.), Deutsches und Europäisches Kartellrecht, 1998, Art. 90 EGV, Rd. 36;

Emmerich, V., in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 1996, H. II, Rd. 158; Kapp, T, in: Glassen/v. Hahn/Kersten/Rieger (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum GWB, 1999, Band 5, Art. 86 EGV, Rd. 101 m.w.N.; Schwark, E., Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip, DZWiR 1997, S. 89 (95) m.w.N.

873 EuGH, Rs. 157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, S. I-5699 (5776, Rd. 26 ff.); EuGH, Rs. C-158/94 (Kommission/Italien), Slg. 1997, S. I-5789 (5804, Rd. 35 ff.); EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, S. I-5815 (5835, Rd. 59 ff.); die entgegengesetzte Ansicht von Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 41 erscheint nach diesen Urteilen nicht mehr haltbar.

874 Jung, C., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 1999, Art. 86 EGV, Rd. 47 mit umfassenden Nachweisen in FN 206; Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art.

37, 90 EGV, Rd. 28; aA und ohne nähere Begründung nur Rapp-Jung, B., Zur Tragweite von Art. 90 Abs. 2 EGV für die Energiewirtschaft, RdE 1994, 165 (168); Gleiss/Hirsch, Kommentar zum EWG-Kartellrecht, 1978, Art. 90, Rd. 16.

prüfen sind. Zudem ist auch nach dem Wortlaut des Art. 86 Abs. 2 EGV die Prüfung der Normen, deren Geltung ausgeschlossen werden soll, vorgreiflich für die Anwendung der Ausnahme.875 Art. 86 Abs. 2 EGV wird daher auch zutreffend als eine partielle Erweiterung der speziellen Freistellungsmöglichkeiten der Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln verstanden.876

3. Erforderlichkeitsprinzip

a) Verhinderung der Aufgabenerfüllung (Art. 86 Abs. 2 S. 1)

Eine Freistellung von der Anwendung der EG-Vertragsvorschriften kommt für Unternehmen und Mitgliedstaaten nach Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV nur in Betracht, wenn die Befolgung der Vertragsregeln die Erfüllung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse rechtlich oder tatsächlich verhindert. Unter der Prämisse, dass Art.

86 Abs. 2 EGV als Ausnahmevorschrift grundsätzlich eng auszulegen sei877, wendete der EuGH ursprünglich in den wenigen bis Mitte der neunziger Jahre entschiedenen Fällen ein strenges Prüfungsraster an und befand in ständiger Rechtsprechung unter Zustimmung der herrschenden Meinung in der Literatur878, dass eine Abweichung oder sogar der Ausschluß jeglicher EG-Vertragsregeln nur insoweit zulässig sei, als zur Erfüllung der besonderen Aufgabe unbedingt erforderlich.879 Nur wenn es keinen anderen technisch möglichen und wirtschaftlich wie rechtlich zumutbaren Weg gebe, um die übertragene Aufgabe ohne Vertragsverletzung zu erfüllen880, komme eine Freistellung von den EG-Vertragsregeln in Betracht.

Eine solche Erforderlichkeitsprüfung ist grundsätzlich zu begrüßen, da bei staatlichen Eingriffen in den Marktprozess immer die Gefahr besteht, dass die Funktionen des Wettbewerbs, nämlich Einkommensverteilung, Konsumentensouveränität, optimale Faktorallokation, Anpassungsflexibilität und technischer Fortschritt nicht erfüllt werden.881 Staatlich gewährte Ausschließlichkeitsrechte beseitigen den Leistungsanreiz für den

875 So auch Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art.

37, 90 EGV, Rd. 28.

876 Emmerich, V., in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 1996, Band 2, H. II, Rd. 167.

877 EuGH, Rs. C-242/95 (GT-Link/DSB), Slg. 1997, S. I-4453 (4469, Rd. 50); EuG, T-106/95 (FFSA u.a./Kommission), Slg. 1997, S. II-229 (254, Rd. 67); Kapp, T., in: Glassen/v. Hahn/Kersten/Rieger (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum GWB, 1999, Band 5, Art. 86 EGV, Rd. 125.

878 Vgl. stellvertretend nur Badura, P, Das öffentliche Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, ZGR 1997, S. 291 (301 f.); anderer Ansicht nur Edward/Hoskins, Art. 90: Deregulation and EC-Law, CMLR 1995, S.

157 (170), die eine Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf offensichtliche Ermessensfehler fordern.

879 EuGH, Rs. C-320/91 (Corbeau), Slg. 1993, S. I-2533, (2568, Rd. 14); EuGH, Rs. C-393/92 (Almelo), Slg.

1994, S. I-1477 (1521, Rd. 49); EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp u.a.), Slg. 1998, S. I-4075 (4132, Rd. 67);

Wilms, G., Das europäische Gemeinschaftsrecht und die öffentlichen Unternehmen, 1996, S. 139 m.w.N.;

Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 48 („Das Gemeinschaftsrecht tritt nur zurück, soweit es für die Erfüllung der Sonderaufgabe unerläßlich ist“); Umfassende Rechtsprechungsnachweise bei Kapp, T., in: Glassen/v. Hahn/Kersten/Rieger (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum GWB, 1999, Band 5, Art. 86 EGV, Rd. 125 ff.

880 Jung, C., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 1999, Art. 86 EGV, Rd. 45; instruktive Darstellung der noch nicht einheitlichen Prüfungskriterien des EuGH bei Dohms, R., in: Wiedemann, G. (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 1999, § 35, Rd. 307 ff.

881 Vgl. hierzu oben Teil 1.

Monopolanbieter und potentielle Konkurrenten.882 Zudem bleibt das Leistungspotential der betreffenden Branche unbekannt, da sich mangels Vergleich mit der Leistung eines Konkurrenten nur schwer feststellen läßt, ob das betreffende Gut nicht auch billiger und besser zu produzieren wäre.883 Letztendlich besteht bei staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen die Gefahr, dass Allgemeinwohlbelange nur vorgeschoben werden, um die eigentlich verfolgten Einzel- und Gruppeninteressen zu tarnen.884

Die Schwierigkeit einer solchen Erforderlichkeitsprüfung liegt allerdings darin, dass zur Beweisführung ein hypothetischer „Wettbewerb-Performance-Test“ angewendet werden muss, der in einem Simulationsverfahren Marktergebnisse antizipiert.885 Wenn man von der marktsystemtheoretischen Hypothese ausgeht, dass Wettbewerb ein offener Such- und Entdeckungsprozess ist und Marktergebnisse sich nicht ex ante bestimmen lassen886, dann ist dieses Vorgehen zum Scheitern verurteilt, weil der wissenschaftlich exakte Nachweis über die Verhinderung einer öffentlichen Dienstleistungsaufgabe unter hypothetischen Bedingungen eines europäischen Wettbewerbs nicht möglich ist.887 Dabei stellt sich insbesondere das Problem, welches die hypothetischen Wettbewerbsbedingungen sind, die gemäß Art. 86 Abs.

2 EGV unter Anwendung der Binnenmarktregeln des EG-Vertrages bei einem solchen Wettbewerb-Aufgaben Test zugrunde gelegt werden sollen. Wie der europäische Wettbewerb bei Anwendung der Wettbewerbsregeln konkret aussehen wird, entzieht sich wegen der Komplexität des Wettbewerbssystems einer exakten wissenschaftlichen Analyse.888

Zudem bedeutet die Anwendung der strengen Erforderlichkeitsprüfung, dass im Ergebnis die Ausgestaltung der gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftssektoren nicht durch den nationalen

882 Dies stellte schon Friedrich der Große im Januar 1786 zur X-Ineffizienz im Monopol fest: „Wenn das Eisen und Stahl im Lande gemacht wird, ist das eine sehr gute Sachen. Aber ein Monopolium wolte Ich nicht gerne haben, denn das hat immer einen üblen Erfolg. Der Monopolist wendet keinen rechten Fleiß und und Betriebsamkeit an auf die Sache, weil er Niemanden neben sich hat, der ihm nacheifert. Daraus kommt denn, da0 er seine Arbeit negligiret, und schlechte Waaren macht; Hat er aber einen neben sich, so obligiret ihm das, mehr Fleiß anzuwenden und bessere Arbeit zu machen“ (zitiert nach Matschoss, C., Friedrich der Große als Beförderer des Gewerbefleißes, 1912, S. 32); ähnlich auch Sir John Hicks 1935 zur Musse im Monopol:

„The best of all monopoly profits is a quiet life“ (zitiert nach Schmidt, I., Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 1996, Vorwort)

883 Heinemann, A., Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996, S. 24.

884 Vgl. hierzu die Ausführungen in Teil 1 zur positiven Theorie des Marktversagens sowie Heinemann, A., Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996, S. 25 m.w.N.

885 Cox, H., Öffentliche Dienstleistungen und europäische Wettbewerbsordnung, H.J.W.G. 1996, S. 161 (168).

886 Vgl. hierzu: Hoppmann, E., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, 1988, insb. S. 98 ff., 119 ff., 179 ff., 235 ff.; von Hayek, F., Die Theorie komplexer Phänomene, 1972; ders., Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968.

887 Kaysen/Turner, Antitrust Policy, 1959, S. 53, machen das Hauptproblem für die mangelnde Eignung des performance test ursächlich: „What will be lacking is any basis for deciding whether the firm’s performance was good or bad in light of its opportunities. The record may reveal that output has grown ten times in the period under study; it will not reveal whether or not output could have grown fifteen times if price policy had been different or if more vigorous efforts had been made in product development, in foreign marketing, or in cost reduction. The record may show that expenditures of money and of the time of trained men on research and development were large and continous, and that the decrease of inputs per units of outputs as well as the flow of new and improved products were great; it will not in general show whether returns per dollars or per professional manhour were high or low, or would have been higher or lower had the situation or conduct of the firm been different than it was in fact.“

888 Cox, H., Öffentliche Dienstleistungen und europäische Wettbewerbsordnung, H.J.W.G. 1996, S. 161 (168).

Gesetzgeber, sondern durch die Gerichte erfolgt. Eine der dezidiertesten Aussagen zu diesem Themenkomplex stammt von Edward und Hoskins:

„In deciding [...] whether the existence of the legal monopoly is necessary to ensure universal supply, the court could be required to exercise complex value-judgments involving a wide range of political, economic and social considerations: an exercise which is traditionally the role of the executive and/or legislature. [...] It is debatable whether the Court of Justice should embark on such an exercise and further whether it is in fact capable of doing so. The problem becomes even more acute when it is recognized that national courts would [due to the direct effect of Article 86 para 2] also be required to carry out such an exercise.“889

Auch der Gerichtshof scheint seit seinen Urteilen zu den Im- und Exportmonopolen für Strom und Gas vom 23.10.1997 von einer strengen Erforderlichkeitsprüfung abzurücken und nimmt nun immer schon dann eine Verhinderung der Erfüllung der besonderen Aufgabe im Sinne von Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV an, wenn die Aufgabenerfüllung durch die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen tatsächlich oder rechtlich gefährdet ist.890 Der Gerichtshof fordert nicht, dass das Überleben der Unternehmen bedroht sei.891 Diese Auslegung des EuGH führt dazu, dass das Gemeinschaftsrecht den nationalen Regulierungssystemen weitgehend folgt. Auf eine strenge Erforderlichkeitsprüfung wird zugunsten der Prüfung verzichtet, ob die Sonderrechte geeignet sind, die im allgemeinen Interesse liegenden Aufgaben zu erfüllen. Im Ergebnis beschränkt sich damit die gerichtliche Prüfung auf offensichtliche Ermessensfehler der Mitgliedstaaten.892 Die Rechtmäßigkeit von ausschließlichen oder besonderen Vorrechten im Wettbewerb kann gemäß Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Vorrechte zur Erreichung des Ziels, das der jeweilige Mitgliedstaat durch Verleihung dieser Rechte verfolgt, offensichtlich ungeeignet sind.

Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislastregeln gilt nach der Rechtsprechung des EuGH893 als Grundregel, dass es dem Normadressaten, der sich auf Art. 86 Abs. 2 EGV beruft, obliegt, den Nachweis zu führen, dass der Tatbestand dieser Norm erfüllt ist.

Allerdings ist dieser Grundsatz im Zusammenhang mit der Frage der unmittelbaren

889 Edward/Hoskins, Art. 90: Deregulation and EC-Law, CMLR 1995, S. 157 (170).

890 EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, S. I-5699 (5784, Rd. 58); EuGH, Rs. C-158/94 (Kommission/Italien), Slg. 1997, S. I-5789 (5809, Rd. 54); EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, S. I-5819 (5845, Rd. 101); EuGH, Rs. C-219/97 (Drijvende Bokken), Slg. 1999, S. I-6121 (6153, Rd. 97 ff.); EuGH, verb. Rs. C-115/97 bis C-117/97 (Brentjens), Slg. 1999, S. I-6025 (6060, Rd. 107 ff.);

EuGH, Rs. C-67/96 (Albany), Slg. 1999, S. I-5751 (5893, Rd. 107 ff.); EuGH, Urteil. v. 10.02.2000, verb.

Rs. C-147/98 und C-148/97 (Deutsche Post AG), Rd. 50 (noch nicht in Slg.); EuGH, Urteil v. 23.05.2000, Rs. C-209/98 (FFAD), Rd. 77 ff. (noch nicht in Slg.); dagegen verlangt EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp u.a.), Slg. 1998, S. I-4075 (4132, Rd. 67) noch eine strenge Erforderlichkeitsprüfung.

891 Vgl. EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, S. I-5699 (5780, Rd. 43).

892 Ausdrücklich zuletzt EuGH, Urteil v. 23.05.2000, Rs. C-209/98 (FFAD), Rd. 77 ff. (noch nicht in Slg.): „Die Stadt Kopenhagen konnte jedoch wegen des Mangels an Unternehmen, die in der Lage waren, die fraglichen Abfälle zu behandeln, von der Notwendigkeit der Errichtung eines Zentrums mit einer erheblichen Annahmekapazität ausgehen. Sie konnte ebenfalls davon ausgehen, dass ein Ausschließlichkeitsrecht, das zeitlich auf den voraussichtlichen Abschreibungszeitraum für die Investitionen und räumlich auf das Gebiet der Gemeinde begrenzt ist, erforderlich war, um Unternehmen für eine Beteiligung am Betrieb eines Zentrums mit einer großen Annahmekapazität zu gewinnen.

893 EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, S. I-5699 (5782, Rd. 51); EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, S. I-5815 (5843, Rd. 94); EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp u.a.), Slg.

1998, S. I-4075 (4132, Rd. 67).

Anwendbarkeit der Norm und den Ermittlungsgrundsätzen in den verschiedenen Verfahren (Zivilprozess, Vorlageverfahren gemäß Art. 226 EGV, etc.) zu sehen, so dass sich nach der Rechtsprechung im jeweiligen Einzelfall Modifikationen ergeben können.894

b) Gemeinschaftsinteresse (Art. 86 Abs. 2 S. 2)

Die Legalausnahme des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV wird begrenzt durch die Schranken-Schranke des Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV, wonach durch die Freistellung von den EG-Vertragsregeln die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden darf, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Normzweck des Satz 2 ist es sicherzustellen, dass die Interessen der Gemeinschaft an der Errichtung und Vollendung des Binnenmarkts und insbesondere an der Geltung der Binnenmarktregeln auch in Bereichen gewahrt bleiben, in denen Unternehmen einen nach Art. 86 Abs. 1 Satz 1 EGV legitimierten staatlich definierten Sonderauftrag ausführen.895 Eine Freistellung von der Anwendung der EG-Vertragsregeln muss nicht nur gemäß Art. 86 Abs. 2 Satz 1 geeignet und erforderlich sein, um die Erfüllung der übertragenen Aufgabe zu gewährleisten, sondern auch im Sinne des Art. 86 Abs. 2 Satz 2 verhältnismäßig.896

(aa) Beeinträchtigung des Handelsverkehrs

Aus dem unmittelbaren Zusammenhang von Satz 1 und Satz 2 folgt, dass zu prüfen ist, welche Wirkungen von der Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts auf den unmittelbar betroffenen tatsächlichen und potentiellen Handelsverkehr auf dem relevanten Markt ausgehen.897 Würde man dagegen, wie von großen Teilen in der Literatur vorgeschlagen898, den freien Wirtschaftsverkehr in der Gemeinschaft „insgesamt“ als Maßstab anlegen, verlöre die Vorschrift jede begrenzende Bedeutung, da selbst bei schwerwiegenden Eingriffen in einen konkreten zwischenstaatlichen Handelsstrom der freie Wirtschaftsverkehr als

894 Vgl. zur insoweit noch uneinheitlichen Rspr. des EuGH Mestmäcker, E.-J., Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, FIW 1999, S. 71 (79); Kapp, T., in: Glassen/v. Hahn/Kersten/Rieger (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum GWB, 1999, Band 5, Art. 86 EGV, Rd. 133; Dohms, R., in: Wiedemann, G. (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 1999, § 35, Rd. 351 ff.; zu pauschal dagegen Jung, C., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 1999, Art. 86 EGV, Rd. 46; sehr kritisch zur Beweisführung im Remailing Urteil des EuGH vom 10.02.2000 (verb. Rs. C-147/97 und C-148/97, EuZW 2000, S. 281) Bartosch, A., Dienstleistungsfreiheit versus Monopolrechte, NJW 2000, S. 2251 (2252).

895 Zur Genese der Norm vgl. Page, A., Member States, public undertakings and Article 90, ELR 1982, S. 19 (20); Ehricke, U., Der Art. 90 EGV - Eine Neubetrachtung, EuZW 1993, S. 211 (215, m.w.N. in FN 59);

Pernice, I., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, 1994, Art. 90 EGV, Rd. 1; Mestmäcker, E.-J., in:

Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 61 m.w.N.

896 Vgl. hierzu Bach, A., Wettbewerbsrechtliche Schranken für staatliche Maßnahmen nach europäischem Gemeinschaftsrecht, 1992, S. 245 ff.; Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 48 f. m.w.N.

897 Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 62, m.w.N. in FN 177; In dieser Richtung auch Emmerich, V., in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 1996, Band 2, H.II, Rd. 165; Europäische Kommission, Entscheidung vom 16.01.1991 (IJsselzentrale), ABl. EG 1991 Nr. L 28/32.

898 Vgl. Jung, C., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 1999, Art. 86 EGV, Rd. 51; Hochbaum, I., in:

Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), EWGV, 1991, Band 2, Art. 90 EWGV, Rd. 57; Pernice, I., in:

Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, 1994, Art. 90 EGV, Rd. 55 (57); Fesenmair, J., Dienstleistungsmonopole im europäischen Recht, 1996, S. 213; Benesch, R., Die Kompetenzen der EG-Kommission aus Art. 90 Abs. 3 EWG-Vertrag, 1993, S. 17.

Gesamtprozess regelmäßig nur marginal betroffen ist. Solch eine Auslegung steht auch im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, der für die Auslegung der Binnenmarktregeln unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Gemeinschaftsinteresses allein auf die Wirkung (Qualität) einer Maßnahme, nicht aber auf quantitative Gesichtspunkte abstellt.899

(bb) Interesse der Gemeinschaft

Das Interesse der Gemeinschaft ist unabhängig von dem politischen Interesse, das die Mitgliedstaaten an der Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts haben können und ergibt sich aus den Zielen und Grundsätzen des EG-Vertrages, insbesondere aus den in Art. 2 bis 4 EGV lozierten normgefaßten Zielbestimmungen. Insbesondere Art. 2 EGV ist die inhaltlich sinngebende Basisnorm aller nachfolgenden Vorschriften des EG-Vertrages und umfaßt in abstrakter Form auch die in anderen Vertragsvorschriften konkretisierten Zielsetzungen.900 Dieser Ansicht ist auch der EuGH, der in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass Art.

2 EGV „an der Spitze der vertragsprägenden allgemeinen Grundsätze“901 steht und die Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft beschreibt: „Die darin genannten Ziele sind mit dem Bestehen und Funktionieren der Gemeinschaft verknüpft.“902 Das Gemeinschaftsinteresse wird zudem auch durch das gemeinschaftliche Sekundärrecht konkretisiert, durch das „die Gemeinschaftsorgane selbst bereits festgelegt haben, was sie jeweils als das vordringlichste Interesse der Union ansehen.“903 Die Definition des Gemeinschaftsinteresses obliegt im konkreten Fall zuvörderst der Kommission, während der EuGH sich nach eigener Aussage auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt.904

Das Ausmaß, in dem das Interesse der Gemeinschaft beeinträchtigt wird, hängt im Regelfall von der wirtschaftlichen Bedeutung der betroffenen relevanten Märkte und der von ihnen beeinflußten Handelsströme in ihrer Bedeutung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts ab.905 Steht ein Verstoß gegen Grundprinzipien des Vertrages, wie zum Beispiel das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, in Frage, kann

899 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, S. I-5815 (5848, Rd. 113 ff.); ebenso Mes tmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 62; Dohms, R., in: Wiedemann, G. (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 1999, § 35, Rd. 372.

900 Vgl. zu den Zielen und Grundsätzen des EGV Müller-Graff, P.-C., in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 1999, Band 1, A. I, Rd. 116 ff.

901 EuGH, Rs. 167/73 (Kommission/Frankreich), Slg. 1974, S. 359 (369, Rd. 17/23).

902 EuGH, Rs. 126/86 (Gíminez Zaera/Instituto Nacional de la Seguridad Social und Tesorería General de la Seguridad Social), Slg. 1987, S. 3697 (3715, Rd. 10); EuGH, Rs. C-339/89 (Alstholm Atlantique), Slg. 1991, S. I-107 (123, Rd. 8).

903 So Emmerich, V., in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 1996, Band 2, H. II, Rd. 166;

insbesondere die Kommission kann durch Richtlinien oder Einzelfallentscheidungen gem. Art. 86 III EGV das Gemeinschaftsinteresse zum Ausdruck bringen und damit zu einer Konkretisierung von Art. 86 II Satz 1 und 2 EGV beitragen, vgl. hierzu Lecheler/Gundel, Die Rolle von Art. 90 Abs. 2 und Abs. 3 EGV in einem liberalisierten Energiemarkt, RdE 1998, S. 92 (96 ff.); Pernice, I., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV; 1996, Art. 90 EGV, Rd. 58; Kapp, T., in: Glassen/v. Hahn/Kersten/Rieger (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum GWB, 1999, Band 5, Art. 86 EGV, Rd. 138.

904 EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, S. I-5699 (5786, Rd. 69); EuGH, Rs. C-158/94 (Kommission/Italien), Slg. 1997, S. I-5789 (5812, Rd. 65); EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, S. I-5815 (5848, Rd. 113).

905 Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 90, 37 EGV, Rd. 63.

die Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts aber auch nach einhelliger Meinung in der Literatur906 unabhängig von der wirtschaftlichen Bedeutung im Einzelfall mit dem Gemeinschaftsinteresse unvereinbar sein. Denn in diesem Fall ist kaum ein nationales Interesse denkbar, dem Vorrang gegenüber diesem Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts zukommen könnte.907 Die Abwägung zwischen der Erfüllung der einem Unternehmen übertragenen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und den Interessen der Gemeinschaft bedarf jedenfalls einer sorgfältigen Prüfung im Einzelfall. So erscheinen zum Beispiel Einschränkungen des Handelsverkehrs in netzgebundenen Infrastrukturbereichen wie Verkehr, Energie oder Telekommunikation, die für die Integration innerhalb der Gemeinschaft besondere Bedeutung haben, für das Interesse der Gemeinschaft von größerem Gewicht als beispielsweise Staatsmonopole für Zündhölzer.908

Bisher hat Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV als Schranken-Schranke in der Rechtsprechung des EuGH allerdings nur eine sehr geringe Rolle gespielt. Die Frage, inwieweit Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV durch die Neuschaffung des Art. 16 EGV und dadurch, dass nach der neuesten Rechtsprechung des EuGH den Mitgliedstaaten durch die Absenkung der Erfordernisse nach Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV ein größerer Gestaltungsspielraum verbleiben soll, in Zukunft möglicherweise eine höhere Bedeutung zukommt, soll allerdings erst an späterer Stelle beantwortet werden.909