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Auch wenn der EuGH bisher zur Auslegung des Art. 86 Abs. 2 EGV nach Ansicht einiger Stimmen in der Literatur nur „punktuelle Festlegungen ohne systematisch befriedigende Terrainabsicherung, verbunden mit der Ermunterung zu subtiler branchenspezifischer Detailanalyse“928 getroffen hat, läßt sich aus der neueren Rechtsprechung deutlich ablesen, dass der EuGH bemüht ist, den Freiraum zu erweitern, in dem die Mitgliedstaaten Unternehmen durch Regulierung vor der Anwendung der EG-Vertragsregeln

„immunisieren“929 können.

1. Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV

Da der Staat aus wirtschaftspolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen regelmäßig nur dort regulierend eingreift, wo nach seiner Ansicht die freien Marktkräfte nicht die für die Bevölkerung gewünschten Marktergebnisse hervorbringen, wird hinsichtlich staatlicher Einflußnahme auf Unternehmen die Anwendung der Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EGV nur selten am Tatbestandsmerkmal des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses scheitern. Zudem führt auch die weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „verhindern“

durch den Gerichtshof, der hierfür nun schon die Gefährdung der Erfüllung der Sonderaufgabe bei vertragsgemäßem Verhalten ausreichen läßt, kaum zu einer Einschränkung des Anwendungsbereichs der Norm, da die Umsetzung der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen eines Staates ohne die Schaffung wettbewerbsrechtlicher Freiräume praktisch immer gefährdet ist. Die noch in der Corbeau-Entscheidung930 angewendete und insbesondere von Ehlermann931 so vehement geforderte strenge Erforderlichkeitsüberprüfung von

925 EuGH, Rs. C-219/97 (Drijvende Bokken), Slg. 1999, S. I-6121 (6155, Rd. 101); EuGH, verb. Rs. C-115/97 bis C-117/97 (Brentjens), Slg. 1999, S. I-6025 (6061, Rd. 111); EuGH, Rs. C-67/96 (Albany), Slg. 1999, S. I-5751 (5894, Rd. 111).

926 Pressemitteilung IP/99/132 der Europäischen Kommission vom 24.02.1999.

927 EuGH, Rs. C-266/96 (Corsica Ferries France), Slg. 1998, S. I-3949 (3996, Rd. 45, 4001, Rd. 60).

928 Tettinger, P., Für die Versorgungswirtschaft bedeutsame Entwicklungslinien im primären Gemeinschaftsrecht, RdE 1999, S. 45.

929 Ehricke, U., Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV, EuZW 1998, S. 741 (747).

930 EuGH, Rs. C-320/91 (Corbeau), Slg. 1993, S. I-2533 ff.

931 Vgl. Ehlermann, C.-D., Role of the European Commission as regards National Energy Policies, J.E.N.R.L.

1994, , S. 342 (350): „A monopoly would only be legal if it can be demonstrated that this is the least restrictive option. First of all the public service needs have to be identified and described carefully. The

Vorrechten im Wettbewerb scheint der EuGH heute im Rahmen des Art. 86 Abs. 1 und 2 EGV aufgegeben zu haben. Geprüft wird nicht, ob und inwieweit sich die Zwecke der mitgliedstaatlichen Regulierung auch bei Aufhebung des ausschließlichen Rechts und bei möglichst geringer Einschränkung des Gemeinschaftsrechts verwirklichen lassen, sondern allein, ob die Anwendung des Gemeinschaftsrechts die Zwecke der mit dem Monopol verbundenen mitgliedstaatlichen Regulierung gefährdet.932 Dies führt dazu, dass über Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV letztlich fast jeder staatliche Eingriff in die Wirtschaft gerechtfertigt werden kann. Zusammenfassend merkt hierzu Mestmäcker kritisch an:

„Diese Auslegung von Art. [86] Abs. 2 Satz 1 durch den EuGH führt im Ergebnis zu einem nationalstaatlich geschlossenen Regulierungskreis. Der Mitgliedstaat entscheidet darüber ob er ein Unternehmen mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut, er entscheidet damit zugleich über die besondere Aufgabe, die das betraute Unternehmen zu erfüllen hat. Die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts wird daran gemessen, ob es die mitgliedstaatlichen Regulierungen in ihrer Funktionsfähigkeit gefährdet. Damit wird aber nicht nur auf eine Prüfung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verzichtet. Vielmehr nimmt das Gemeinschaftsrecht einen nationalen Regulierungsrahmen hin, der definitionsgemäß im Widerspruch zum Binnenmarkt und zum System unverfälschten Wettbewerbs steht.“ 933

2. Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV

Durch die Aufweichung der Kriterien des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV verlagert sich damit der Schwerpunkt der Prüfung in der Praxis auf die Schranken-Schranke des Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV, nach der nach Satz 1 erlaubte staatliche Eingriffe in den Marktprozess die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigen darf, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Wie bereits oben festgestellt, bedarf es hierfür jeweils einer sorgfältigen Prüfung im Einzelfall. Teilweise wird jedoch vorgeschlagen, die Grenze staatlicher Wettbewerbsbeschränkungen immer erst an der Stelle zu ziehen, wo die Kommission der Europäischen Gemeinschaften oder der Rat das Interesse der Gemeinschaft an einer weiteren Entwicklung des Handels bereits durch Sekundärrecht definiert hat.934 Mitgliedstaatliche Einflußnahme auf Unternehmen im Sinne von Art. 86 Abs. 1 EGV würde damit der Geltung der Binnenmarktregeln solange entzogen, bis der Rat per Empfehlung oder Verordnung oder die Kommission aufgrund ihrer Befugnisse nach Art. 86 Abs. 3 EGV ein Interesse der Gemeinschaft an dem betreffenden Bereich geltend gemacht hat. Diese Auffassung beleuchtet die Gefahren, die von Art. 86 Abs. 2 Satz 2 ausgehen, falls man die Interessensabwägung aus dem konkreten wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Ausnahme des Satz 1 löst. Die Vorschrift könnte so dazu dienen, den jeweiligen Stand politischer Verhandlungen in das Gemeinschaftsrecht zu transformieren.935

public service argument is too often put ahead without one knowing exactly what it covers. The public service missions will have therefore to be clearly defined.“

932 Mestmäcker, E.-J., Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, FIW 1999, S. 71 (78).

933 Mestmäcker, E.-J., Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, FIW 1999, S. 71 (81); vgl. auch Ehricke, U., Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV, EuZW 1998, S. 741 (746).

934 Ehricke, U., Zur Konzeption von Art. 37 I und Art. 90 II EGV, EuZW 1998, S. 741 (747).

935 Mestmäcker, E.-J., in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 1997, Band 2, D. Art. 37, 90 EGV, Rd. 64.

Es ist zwar richtig, dass sektorspezifische Regelungsakte des Rates und der Kommission das Interesse der Gemeinschaft besonders deutlich zum Ausdruck bringen und damit bei der Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EGV in puncto Transparenz und Rechtssicherheit zu begrüßen sind. Allerdings darf das Fehlen von sekundärrechtlichen Regelungen nicht dazu führen, dass ein gemeinschaftliches Interesse von vornherein ausscheidet. Vielmehr ist in solchen Fällen lediglich ein gesteigerter Begründungszwang der Europäischen Kommission zur Definition des Gemeinschaftsinteresses anzunehmen.936 Denn sonst würde Art. 86 Abs. 2 Satz 2 EGV praktisch zu einer Bereichsausnahme für alle mitgliedstaatlich regulierten Sektoren ausgeweitet, in denen es bisher an gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierungsmaßnahmen fehlt.

3. Ausblick

Die neueste Entwicklung der Rechtsprechung zu Art. 86 Abs. 2 EGV wird bisher in der Literatur allenfalls abwartend registriert. Harsche Kritik übt allein Mestmäcker, der anführt, dass die derzeitige Interpretation von Art. 86 Abs. 2 EGV im Ergebnis zu einem nationalstaatlich geschlossenen Regulierungskreis führe, da die Einschränkung der Anwendung der EG-Vertragsregeln auf dasjenige Maß reduziert werde, das der jeweilige Mitgliedstaat für notwendig erachte und das die Grenzen des gemeinschaftlich Zulässigen nicht überschreite. Damit sei eine weitgehende Renationalisierung der gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftszweige sowie ein Wettbewerb der Regulierungssysteme vorgezeichnet und die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt.937

Hierauf ist zu antworten, dass der EG-Vertrag von vornherein davon ausgeht, dass Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auch grundsätzlich der alleinigen Ausgestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten unterliegen. Nur dort und nur in dem Rahmen, in dem mitgliedstaatliche Regulierung mit den Binnenmarktregeln konfligiert, wird diese Ausgestaltungsbefugnis im Rahmen des Art. 86 Abs. 1 und 2 EGV gemeinschaftsrechtlich begrenzt. Die Gemeinschaft respektiert insoweit die Wirtschafts- und Sozialordnungen der Mitgliedstaaten. Entscheidungsspielräume der rechtsanwendenden Instanzen bei der Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EGV sind unvermeidbar, was im Wettbewerbsrecht nichts Außergewöhnliches ist, vom Standpunkt exakter positiver Ökonomik jedoch unbefriedigend bleiben muss.938 Das Gemeinschaftsrecht erkennt insoweit an, dass es bei der Regulierung gemeinwirtschaftlicher Unternehmen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft durchaus zu unterschiedlichen Entwicklungen kommen kann, so dass insoweit tatsächlich nur eingeschränkt von einer gleichmäßigen Geltung des Gemeinschaftsrechts gesprochen werden kann.939

936 Dieser Ansicht ist offensichtlich auch der EuGH, vgl. EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg.

1997, S. I-5815 (5849, Rd. 115); EuGH, Rs. C-158/94 (Kommission/Italien), Slg. 1997, S. I-5789 (5812, Rd.

67); EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, S. I-5699 (5787, Rd. 70).

937 Mestmäcker, E.-J., Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, FIW 1999, S. 71 (81).

938 Cox, H., Öffentliche Dienstleistungen und europäische Wettbewerbsordnung, H.J.W.G. 1996, S. 161 (168).

939 Zustimmend Möschel, W., Europäisches Kartellrecht in liberalisierten Wirtschaftssektoren, WuW 1999, S.

832 (835).

Dennoch ist die Forderung abzulehnen, zugunsten einer gleichmäßigen Geltung des Gemeinschaftsrechts die wirtschaftspolitische Kompetenz der Mitgliedstaaten dadurch noch weiter zu beschneiden, dass man staatliche Regulierung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf ihre Erforderlichkeit durch den EuGH überprüfen läßt. Denn wie bereits ausgeführt kann ein wissenschaftlich genauer Nachweis hypothetischer Wettbewerbsergebnisse nicht erbracht werden.940 Der Normzweck des Art. 86 Abs. 2 EGV beschränkt sich vielmehr darauf, bestimmte Regulierungsformen, die über Art. 86 Abs. 1 EGV gegen die Binnenmarktregeln verstoßen und daher verboten sind, von diesem Verbot freizustellen. Art. 86 Abs. 2 EGV verleiht aber den Gerichten keine Kompetenz, darüber hinaus selbst regulierend in die wirtschaftspolitische Ausgestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten einzugreifen. Kommission und Rat können durch den Erlaß von gemeinschaftlichem Sekundärrecht Harmonisierungsmaßnahmen treffen und so den Mitgliedstaaten die Möglichkeit nehmen, sich bestimmter im Widerspruch zu den EG-Vertragsregeln stehender Regulierungsformen zu bedienen. Trotz der Normenhierarchie zwischen Primär- und Sekundärrecht kann man auf diesem Wege tatsächlich eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen des Art. 86 Abs. 2 EGV erreichen, da das Sekundärrecht zugleich ein Gemeinschaftsinteresse im Sinne von Art. 86 Abs. 2 EGV Satz 2 EGV konkretisiert, so dass der Verhältnismäßigkeitsprüfung innerhalb dieser Schranken-Schranke in der Zukunft immer mehr Bedeutung zukommen dürfte.941

Inwieweit außerdem die Neuschaffung des Art. 16 EGV Einfluß auf die Auslegung des Art.

86 Abs. 2 EGV hat, soll bei der Normwirkung dieses Artikels in Teil 4 untersucht werden.

940 Cox, H., Öffentliche Dienstleistungen und europäische Wettbewerbsordnung, H.J.W.G. 1996, S. 161 (168) m.w.N.

941 Zustimmend auch Bartosch, A., Dienstleistungsfreiheit und Monopolrechte, NJW 2000, S. 2251 (2252);

Schaub/Dohms, Der wettbewerbliche Binnenmarkt für Strom und Gas. Zur Rolle von Art. 90 II EGV, AG 1998, S. 566 (574) sprechen daher treffend von einem Wechselspiel zwischen Primär- und Sekundärrecht.

Teil 4 – Der neue Art. 16 EGV I. Ausgangsüberlegungen

Die Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ist in jüngerer Vergangenheit sowohl im europäischen als auch im nationalen Maßstab in den Mittelpunkt des politischen Interesses gerückt. Auslöser der Renaissance auf europäischer Ebene ist insbesondere die durch den am 01.05.1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag in den EG-Vertrag neu eingefügte Vorschrift des Art. 16 EGV. Nachdem in Teil 1 bis 3 dieser Arbeit die Stellung mitgliedstaatlich regulierter gemeinwohlorientierter (wirtschaftlicher) Leistungen im Gemeinschaftsrecht erarbeitet wurde, sollen im folgenden zunächst die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe dargestellt werden, die für die Neueinfügung einer den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gewidmeten Norm in den ersten Teil der Grundsätze des EG-Vertrages wesentlich waren (II.).

Eng verbunden hiermit ist die Frage, auf welche Weise Gemeinwohlanliegen in Form der Gewährleistung einer infrastrukturellen Grundversorgung der Unionsbürger mit bestimmten Netzen und Diensten und die Grundsätze ihrer Wahrnehmung im primären und sekundären Gemeinschaftsrecht seit Ende der achtziger Jahre Eingang gefunden haben (III.). Nur unter Zugrundelegung aller bis hier gefundenen Ergebnisse ist schließlich ein Verständnis der kontroversen Entstehungsgeschichte und Funktion des Art. 16 EGV möglich, dessen Normanalyse der vierte Teil dieses Kapitels gewidmet ist (IV.). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit und ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen findet sich unter V.

II. Veränderungen der Strukturen der Versorgungswirtschaft