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Teil 1: Gutachten

4. Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Evaluation

4.3 Reformbedarfe aus Sicht der Befragten

Zu Reformbedarfen und alternativen Vorschlägen zum bisherigen Recht äußern sich in den Interviews insbesondere Betroffene und beratend tätige Personen. Ein zentraler Punkt ist dabei die Forderung nach mehr Selbstbestimmung über die Definition und rechtliche Regis-trierung von Geschlecht, d. h. das Primat der Selbstbestimmung anstelle eines medizinisch festgelegten Geschlechts. Die formulierten Änderungsvorschläge weisen zwei Ausrichtungen auf: zum einen die Forderung einer teilweisen oder umfassenden Abschaffung des Geschlechts-eintrags für alle Menschen und zum anderen unterschiedliche Veränderungen unter der Vor-aussetzung einer fortbestehenden Registrierung von Geschlecht, wie eine Elternentscheidung über den Nichteintrag, die Erweiterung bestehender Geschlechtsangaben oder eine Änderung des Geschlechts auf der Grundlage einer Selbstentscheidung.

4.3.1 Verzicht auf den personenstandsrechtlichen Eintrag von Geschlecht

Der Verzicht auf einen Geschlechtseintrag ist für eine deutliche Mehrheit der quantitativ befragten Berufsgruppen nicht denkbar. 80 % der Hebammen/Entbindungspfleger und gut 90 % der Standesbeamt_innen und Ärzt_innen geben in der Online-Befragung eine ablehnen-de Einstellung an. Ein zeitweiliges Aufschieben ablehnen-des Geschlechtseintrags für alle Kinablehnen-der lehnen ebenfalls die meisten ab, wenn auch etwas weniger deutlich.46 Hingegen sprechen sich etliche qualitativ Befragte für einen Verzicht aus. Folgende Vorteile eines Verzichts können aus den Interviews eruiert werden:

4.3.1.1 Verhinderung von Stigmatisierung und Zwangsouting

Interviewte betonen die negativen Folgen eines Nichteintrags in Form von Zwangsouting, Stigmatisierung und Ausgrenzung, aber auch Probleme der Eltern wie z. B. der alltägliche Druck, den Geschlechtseintrag des Kindes begründen und rechtfertigen zu müssen. Diese negativen Folgen würden aus ihrer Sicht entfallen, wenn kein Kind einen Geschlechtseintrag hätte. Insofern würde niemand „in Zugzwang“ geraten.

4.3.1.2 Mehr Freiheit und Selbstbestimmung

Als Vorteile für heranwachsende Kinder werden insbesondere mehr Freiheit und Selbstbestim-mung genannt aufgrund der wegfallenden Erwartung, dem eingetragenen Geschlecht zu entsprechen. Eine beratende Person verweist in dieser Hinsicht auf das Gebot einer allgemei-nen Haltung der Vorsicht, da letztendlich bei allen Kindern noch nicht klar sei, wie sie sich geschlechtlich verorten, und ehe die Person nicht selbst das eigene Geschlecht formuliert hat, solle keine fremdbestimmte Festlegung des Geschlechts erfolgen. Damit ergäben sich nicht nur Vorteile für intergeschlechtliche Kinder, sondern auch für alle Kinder, insbesondere in Fällen einer späteren transgeschlechtlichen Entwicklung.

46 Drei Viertel der Hebammen/Entbindungspfleger, 80 % der Ärzt_innen und 87 % der Standesbeamt_innen sind dagegen.

Betroffene führen an, dass ein Verzicht auf den Geschlechtseintrag für Kinder wie für Erwach-sene bedeute, von der Last eines geschlechtlichen Eintrags befreit zu sein und damit auch ggf.

nicht gegen das falsch eingetragene Geschlecht und für ein richtiges Geschlecht kämpfen zu müssen. Von einigen Befragten wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass im Falle eines ausbleibenden Geschlechtseintrags (nur) für Kinder, sich diese später bei Bedarf via Selbst-erklärung für ein weibliches oder männliches oder sogar anderes Geschlecht entscheiden können.

4.3.1.3 Einfache Lösung

Einen völligen Verzicht auf den Geschlechtseintrag bewerten manche Befragte als eine ein-fachere Lösung gegenüber Erweiterungen des Geschlechtseintrags und Veränderungen an den Voraussetzungen für Geschlechtswechsel. So wäre der Staat von der Last befreit, das Geschlecht für jeden einzelnen Menschen festzustellen und ggf. die Richtigkeit der jeweiligen Geschlechtseinträge sicherzustellen.

4.3.1.4 Verzicht auf Geschlechtseintrag ist kein Verzicht auf Geschlecht

Von den Befürwortenden eines Verzichts auf die Registrierung von Geschlecht wird auf ein mögliches Gegenargument eingegangen. So wird unterstrichen, dass ein Verzicht auf den Geschlechtseintrag keinesfalls gleichbedeutend mit einer Abschaffung von Geschlecht sei, da niemandem das Geschlecht bzw. die eigene geschlechtliche Identität genommen werden solle, sondern lediglich der gesetzliche Zwang einer Registrierung entfalle.

4.3.1.5 Entbehrlichkeit

Für Erwachsene und insbesondere bei Kindern stellen einige Befragte auch die Notwendigkeit einer Registrierung von Geschlecht infrage. Die an das Geschlecht geknüpften Folgeregelun-gen seien in den letzten Jahren abgebaut worden, sodass für viele nur noch die Frage über Ehe oder eingetragene Partnerschaft vom Geschlecht der jeweiligen Personen abhängt. Für einige Befragte ist diese Rechtsfolge einerseits nicht Grund genug für die Aufrechterhaltung einer Registrierung von Geschlecht und andererseits wird der Wunsch nach einer Abschaffung der Unterscheidung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft artikuliert. Aufgrund der geringen Relevanz rechtlicher Folgeregelungen für Kinder erscheint einigen der Geschlechts-eintrag in diesen Fällen umso fraglicher.

4.3.2 Elternentscheidung

Es werden von den Befragten Vor- und Nachteile einer möglichen Elternentscheidung über den Geschlechtseintrag intergeschlechtlicher Kinder genannt. Befürwortende der Elternentschei-dung formulieren den Bedarf eines von Eltern anstatt von Mediziner_innen festgelegten Geschlechts. Eltern sollen demzufolge nicht nur das Erziehungsgeschlecht festlegen dürfen, sondern auch das eingetragene Geschlecht. Gegenpositionen betonen die Wichtigkeit eines Schutzes für Kinder vor dem elterlichen Zuordnungs- und Vereindeutigungsdrang. Der Druck auf die Eltern, sich mit der Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes bewusst auseinanderzusetzen, wird von einigen Interviewten positiv bewertet. Interviewte Eltern formulieren auch Erleich-terung darüber, keine Entscheidung über das Geschlecht des Kindes treffen zu müssen, und lehnen einen Zwang zur Entscheidung ab.

4.3.3 Weitere Geschlechtseinträge

Die Forderung nach weiteren Geschlechtseinträgen neben weiblich und männlich bezieht sich auf einen Geschlechtseintrag für intergeschlechtliche Menschen und/oder mehrere weitere und von der jeweiligen Person selbst formulierte Geschlechtseinträge. Von den quantitativ Befragten finden nur jeweils 40 % der Standesbeamt_innen und Ärzt_innen weitere Geschlechtseinträge gut, jedoch 75 % der Hebammen und Entbindungspfleger.

Grundsätzlich werden von Befragten zwei Argumente gegen weitere Geschlechtseinträge benannt: Einerseits wird erwartet, dass diese Option nur für wenige (intergeschlechtliche) Menschen eine gewünschte Alternative darstellt. Andererseits werden Umsetzungsschwierig-keiten hinsichtlich einer großen Zahl an weiteren, da selbstformulierten Einträgen erwartet, und es wird die Schwierigkeit artikuliert, einen dritten Eintrag zu finden, der für alle Men-schen, die sich jenseits binärer Geschlechtsangaben verorten, akzeptabel ist.

4.3.3.1 Falsche Wahlmöglichkeiten vs. Binarität von Geschlecht

Der Wunsch nach weiteren Geschlechtseinträgen basiert aus Betroffenensicht vor allem auf der Erfahrung, dass sowohl ein männlicher als auch ein weiblicher Geschlechtseintrag als falsch bzw. nicht passend für den eigenen Körper/die Geschlechtsidentität empfunden wird.

Gerade in Abgrenzung zum Nichteintrag solle es einen Eintrag geben, der die eigene Geschlecht-lichkeit beschreibt und dadurch identitätsstiftend sei. Demgegenüber steht eine Auffassung, die Geschlecht ausschließlich zwischen weiblich und männlich verortet, womit davon abwei-chende Geschlechtsbegriffe abgelehnt und als medizinisch falsch erachtet werden.

4.3.3.2 Sichtbarkeit vs. präskriptiver Charakter

Für einige intergeschlechtliche Personen führt erst ein dritter Geschlechtseintrag, der in aus-formulierter Weise das Geschlecht beschreibt, zu wirklicher Sichtbarkeit von Intergeschlecht-lichkeit und mehr Normalität im Umgang damit. Über den Aspekt der Sichtbarkeit hinaus würde ein solcher Eintrag eine staatlich legitimierte Anerkennung darstellen, der für Betroffe-ne mit eiBetroffe-ner Legitimation des eigeBetroffe-nen Seins (wir sind richtig, wie wir sind) einhergeht. EiBetroffe-ne solche rechtliche Anerkennung gäbe Betroffenen die Möglichkeit, mit einem amtlichen Doku-ment die Richtigkeit der eigenen Geschlechtlichkeit belegen zu können, anstatt – wie bislang – nur auf die persönliche Selbstverortung zu rekurrieren. Damit wird auch die Erwartung ver-knüpft, die eigene, richtige Anrede wirksamer einfordern zu können.

Während einige Befragte eben genannte Vorteile artikulieren, wird als nachteilig der präskrip-tive Charakter jedes ausformulierten Geschlechtseintrags genannt. Es entstehe die Erwartung ebenjenem Eintrag zu entsprechen, wohingegen die Nichtbenennung des Nichteintrags mehr Freiraum für geschlechtliche Individualität lasse.

4.3.3.3 Rechtliche Besserstellung vs. aufwendigere Änderungsverfahren

Eine rechtliche Besserstellung sehen Befragte im dritten Eintrag aufgrund der Gleichwertig-keit der Geschlechter vor dem Recht. Allerdings wird auch eingewandt, dass im Vergleich zum Nichteintrag die Berichtigung des Eintrags schwieriger werden könne, da das Geschlecht nicht mehr nur nachgetragen werden könnte, sondern explizit berichtigt werden müsse.

4.3.4 Selbstentscheidung bei Änderung des Geschlechtseintrags

Als reformbedürftig thematisiert wurden von den Befragten auch die Voraussetzungen der Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstand. Statt der erforderlichen medizinischen Bescheinigung, die das „richtige“ Geschlecht belegt, sollte eine formlose Selbsterklärung aus-reichen. Zum anderen zieht eine_ein Befragte_r drei Peer-Beratungstermine als sinnvolle Absicherung der Selbstentscheidung in Betracht. Anstelle der aufwendigen und mit Hürden versehenen Verfahren im PStG und nach dem TSG müsse eine Entlastung von der (medizini-schen) Beweispflicht erreicht werden. Für Betroffene solle es keine Instanz außer der Person selbst geben, die über den eigenen Geschlechtseintrag entscheide, und bestehende Hürden sollten abgebaut werden. Mit der Selbstentscheidung über das eigene Geschlecht würde zudem eine Entpathologisierung von intergeschlechtlichen und transgeschlechtlichen Menschen erreicht werden. Betroffene müssten sich zur Richtigstellung ihres Geschlechtseintrags nicht mehr von Mediziner_innen „testen“ lassen. Auch für einen_eine Ärzt_in bedarf es für den Geschlechtseintrag keiner medizinischen Festlegung, weil das Geschlecht vor allem eine Frage der Identität sei und es keine medizinischen Kriterien gebe, die über die Geschlechtsidentität von Personen Auskunft geben können.

Von den online befragten Ärzt_innen sowie Hebammen/Entbindungspflegern ist hingegen jeweils keine Mehrheit (40 %) für die Selbstentscheidung über den eigenen Geschlechtseintrag und nur 12 % der Standesbeamt_innen sprechen sich dafür aus.

4.3.5 Ergänzende Bedarfe

Neben den rechtlichen Bedarfen und der Umsetzung von Folgeregelungen wird eine Reihe weiterer Bedarfe geäußert. Insbesondere befragte Betroffene fordern eine Ausweitung des (Peer-)Beratungsangebots und insbesondere mehr Aufklärung und Thematisierung von Inter-geschlechtlichkeit im pädagogischen Alltag. So solle eine Integration des Themas in Unter-richtsmaterialien (wie z. B. Schulbüchern) und die Weiterqualifizierung vom pädagogischen Personal erreicht werden und bisherige wie künftige rechtliche Änderungen begleiten. Derar-tige Maßnahmen seien umso mehr erforderlich, als eine Öffnung des Rechts zu mehr Selbstbe-stimmung und zur stärkeren Anerkennung von Inter- und Transgeschlechtlichkeit auch gesellschaftlicher Enttabuisierung bedürfe. Als zentralen rechtlichen Änderungsbedarf jen-seits des Personenstandsrechts benennen viele Befragte ein Verbot geschlechtsvereindeutigen-der Operationen und medizinisch nicht notwendiger Maßnahmen an intergeschlechtlichen Kindern.