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Teil 1: Gutachten

4. Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Evaluation

4.1 Der offene Geschlechtseintrag nach § 22 Absatz 3 PStG aus Sicht der Befragten

4.1.4 Bewertung

Eine große Mehrheit der quantitativ befragten Berufsgruppen gibt an, die Neuregelung zum Offenlassen des Geschlechtseintrags gut zu finden. Über 80 % der Standesbeamt_innen und ca. 90 % der Ärzt_innen sowie Hebammen/Entbindungspfleger stimmen dieser Einschätzung (sehr stark oder stark) zu. Von den interviewten Befragten, insbesondere von Betroffenen (Eltern und intergeschlechtlichen Personen), gibt es sowohl Zustimmung als auch Kritik an der Regelung. Im Folgenden werden einzelne Aspekte gegenübergestellt.

4.1.4.1 Entlastung durch rechtliche Klarheit vs. neue Unklarheit

Das ärztliche Personal ist einigen Interviewpersonen zufolge entlastet durch die Aufhebung der Notwendigkeit, Neugeborene mit einer nichtbinären Geschlechtszugehörigkeit dennoch weiblich oder männlich zuzuordnen. Zudem wird berichtet, dass es mit dem Nichteintrag einen grundsätzlich geringeren diagnostischen Druck und weniger Zeitdruck gebe. Dieser Entscheidungsentlastung steht jedoch, wie bereits dargestellt, eine von ärztlichen Befragten artikulierte neue Unklarheit gegenüber. Demnach entstehe mit der Neuregelung die offen-sichtlich noch ungeklärte Frage, unter welchen Bedingungen keine Geschlechtsangabe

erfol-gen solle und in welchen Fällen ein weiblicher/männlicher Eintrag aus medizinischer Sicht legitim wäre.

4.1.4.2 Mehr Anerkennung vs. fehlende Gleichwertigkeit

Auf der einen Seite wird der Nichteintrag von Befragten als gesetzliche Anerkennung dessen begrüßt, dass etwas anderes, Drittes jenseits der Zweigeschlechtlichkeit existiert. Eltern könne dadurch beispielsweise von den Geburtshelfenden vermittelt werden: „Das ist in Ordnung so.“

Auf der anderen Seite kritisieren intergeschlechtlich Befragte im Hinblick auf die Anerken-nung ihrer Geschlechtlichkeit die ausbleibende BenenAnerken-nung des Geschlechts. Der Nichteintrag führe nicht zu mehr Anerkennung, sondern zu einer persistierenden Unsichtbarkeit und rechtli-chem Nichtsein von intergeschlechtlichen Menschen. Zum einen lasse sich der Nichteintrag als Provisorium interpretieren, wonach die Geschlechtlichkeit der betreffenden Person nur noch nicht klar sei, und zum anderen könne daraus fälschlicherweise eine fehlende Geschlechtlichkeit (kein Geschlecht) impliziert werden. Aus diesen Gründen wird von einigen Befragten artiku-liert, dass der offengelassene Eintrag binären Geschlechtseinträgen gegenüber als nicht gleich-wertig betrachtet werden könne und dies eine Identifikation intergeschlechtlicher Menschen mit dem Nichteintrag verhindere. Dieser Kritik steht die Gegenposition entgegen, wonach gerade die Neutralität der Formulierung Platz für individuelle Freiheit und Selbstbestimmung lasse.

4.1.4.3 Mehr Selbstbestimmung vs. mangelnde Selbstbestimmung

Einigen Befragten zufolge fördert die Neuregelung die Selbstbestimmung der betreffenden Personen durch eine ausbleibende geschlechtliche Festlegung, weshalb die eigene (geschlecht-liche) Identität besser herausgefunden werden könne. Diesem Mehr an Selbstbestimmtheit steht der Aspekt der mangelnden Selbstbestimmung aufgrund des allein von der medizini-schen Geschlechtsangabe abhängigen Personenstandseintrags gegenüber. Für einige Befragte verbleibt damit die Entscheidung über das Geschlecht im Bereich der Medizin, statt eine Frage der Selbstbestimmung zu sein. Außerdem wird die Sorge geäußert, dass intergeschlechtliche Menschen mit einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsidentität künftig mit Verweis auf

§ 22 Absatz 3 PStG keinen entsprechenden Geschlechtseintrag mehr erhalten können.

4.1.4.4 Schutz vor elterlicher Zuordnung vs. Mitbestimmung der Eltern

Über die Frage, ob Eltern über den Geschlechtseintrag ihrer Kinder entscheiden dürfen sollen, sind sich die quantitativ wie qualitativ Befragten uneinig. Es sprechen sich 30 % der Standesbe-amt_innen, 50 % der Ärzt_innen und 57 % der Hebammen/Entbindungspfleger für eine Eltern-entscheidung aus. Analog dazu wird in den Interviews mitunter das mangelnde Mitentschei-dungsrecht von Eltern kritisiert. Befragten zufolge ist ein offengelassener Geschlechtseintrag für die meisten Eltern nicht denkbar, sodass zunächst vor allem die Abweichung von der Nor-malität im Fokus stehe. Häufig führe dies zu Verunsicherung und Überforderung. Gerade in Anbetracht des mit dem Nichteintrag einhergehenden Aufklärungs- und Rechtfertigungs-drucks im Alltag wird von Befragten die Frage gestellt, ob alle Eltern diese Arbeit leisten kön-nen. Daher formulieren einige interviewte Eltern den Wunsch, die Entscheidungsbefugnis über den Geschlechtseintrag des Kindes zu haben – in Einklang mit dem von ihnen bestimm-ten „Erziehungsgeschlecht“. Andere Eltern geben hingegen an, erleichtert darüber gewesen zu sein, in dieser Situation keine Entscheidung über das Geschlecht treffen zu müssen. Gegen eine Elternentscheidung wird außerdem eingewandt, dass Eltern zu Recht zu einer bewussteren

und ehrlichen Auseinandersetzung mit der Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes gebracht werden. In Bezug auf das Kindeswohl wird ferner der Schutz vor dem elterlichen Zuordnungs- und Vereindeutigungsdrang als positiver Effekt der Neuregelung hervorgehoben.

4.1.4.5 Zwangsouting vs. Beitrag zur Normalität

Das Problem eines Zwangsoutings intergeschlechtlicher Kinder durch den offengelassenen Geschlechtseintrag wird von vielen Befragten diskutiert. Einige Befragte bewerten den Nicht-eintrag als Outing bzw. Bloßstellung gegenüber Dritten (wie z. B. Behörden oder der Schule), weil die Geheimhaltung der Intergeschlechtlichkeit verhindert werde. Dagegen wird einge-wendet, dass es ein geschlechtliches Zwangsouting aller Menschen gebe und dies daher kein nur intergeschlechtliche Kinder betreffendes Phänomen darstelle. Zudem sei es eine logische Konsequenz, wenn mit der Einforderung von mehr Rechten für intergeschlechtliche Men-schen auch mehr Öffentlichkeit und Sichtbarkeit einhergingen.

Als Folge des Zwangsoutings wird von Befragten die Stigmatisierung betroffener Kinder kon-statiert. Kinder würden mit Reaktionen der Irritation konfrontiert, „zu etwas Besonderem“

gemacht, „in eine besondere Ecke gedrängt“, und es stelle sich für Betroffene immer wieder die Frage, wo sie sich im binären System (z. B. Kita, Schule, Sport) einordnen. Stigmatisierung in diesem Sinne geht – einer intergeschlechtlichen Person zufolge – mit Ausgrenzung und feh-lender geschlechtlicher Zugehörigkeit einher, der das Kind „völlig ungeschützt“ ausgeliefert würde. Während Befragte auf der einen Seite die individuellen Folgen der Stigmatisierung betonen, wird auf der anderen Seite darauf hingewiesen, dass durch einen offenen Umgang im Alltag „das alles seinen Schrecken [verliere]“.

4.1.4.6 Folgen: Einfluss auf Geschlechtsoperationen – mehr oder weniger?

Befragte äußern unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich des Einflusses vom Nichteintrag auf Geschlechtsoperationen an Kindern. Neben der Erwartung keinerlei Effekts, werden einer-seits aufgrund des drohenden Zwangsoutings bei einem weder weiblichen noch männlichen Geschlecht vermehrt Operationen zugunsten eines binären Geschlechtseintrags vermutet.

Andererseits werden weniger Operationen prognostiziert. Dahingehend wird erwartet, dass der Nichteintrag einer Person Mediziner_innen die Richtigkeit eines weder weiblichen noch männlichen Geschlechts vermittle, womit die medizinische Schlussfolgerung vermieden werde, gewisse als weiblich oder als männlich bestimmte Geschlechtsanteile als falsch und letztlich operationswürdig einzustufen.

4.1.4.7 Folgen: Rechtsunsicherheit und Folgeprobleme

Eine große Mehrheit der quantitativ befragten Standesbeamt_innen hält rechtliche Folgerege-lungen in Anknüpfung an § 22 Absatz 3 PStG für notwendig. Auch in den Interviews äußern Befragte u. a. Fragen dazu, wie betreffende Personen das Geschlecht ändern können, wenn sie sich im Lebensverlauf dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen, wie und welche rechtlich verankerte Partnerschaft und Elternschaft möglich ist, wie das Geschlecht auf dem Reisepass eingetragen wird oder z. B. welche medizinischen Vorsorgeuntersuchungen durchge-führt und abgerechnet werden können. Die Forderung einer raschen Umsetzung von Folge-regelungen wird auf die Notwendigkeit zurückgeführt, Gewissheit über die rechtliche Lage von Personen mit Nichteintrag zu erlangen.