• Keine Ergebnisse gefunden

Aufgabe 1

Staatsanwalt S ist zur Erhebung der öffent-lichen Klage verpflichtet, obwohl er das ermittelte Verhalten für (materiell-rechtlich) nicht strafbar hält, darf also das Verfahren nicht nach § 170 II StPO einstel-len, wenn die Staatsanwaltschaft an (die vorliegende) höchstrichterliche Rspr.163 gebunden ist.

I. Bindung der Staatsanwaltschaft an höchstrichterliche Rspr.

Es lassen sich im Wesentlichen zwei164 gegensätzliche Meinungen ausmachen.

Gegen eine Bindung wird die Unabhängig-keit der Staatsanwaltschaft nach

§ 150 GVG sowie ihre Stellung als „Her-rin“ des Ermittlungsverfahrens ange-führt165. Die Staatsanwaltschaft sei ledig-lich zur richtigen Rechtsanwendung ver-pflichtet166. Zwar könne eine feste Rspr.

den gegenteiligen Standpunkt als aussichtslos erscheinen lassen, erzeuge doch keine Bindungswirkung167. Wird der Staatsanwaltschaft eine unabhängige Rechtsbeurteilungskompetenz

163 Grundlegend BGHSt 15, 155 (158 ff.), Bespr.

Dünnebier, JZ 1961, 312 ff.; Eb. Schmidt, MDR 1961, 269 ff.

164 Zu einem vereinzelt gebliebenen vermittelnden Standpunkt Krey, StrafverfahrensR I, 2006, Rdnrn. 150 – 152; ders., StrafverfahrensR I,

1988, Rdnr. 353, Begründung und Konsequen-zen: Rdnrn. 354 - 356. Rechtsprechungsmacht anmaßen, was die der Staatsanwaltschaft zugewiesenen Ein-stellungsmöglichkeiten aus Opportunitäts-gründen (§§ 153 ff. StPO) belegten168. Dem wird entgegnet, in einem demokrati-schen Verfassungsstaat (Art. 20 III GG) stehe die letzte Entscheidung über die Ge-setzesauslegung der unabhängigen Judika-tive zu. Unter der Voraussetzung einer hinreichend festen höchstrichterlichen Rspr. wird eine Bindungswirkung mit Blick auf die Gewaltenteilung und Art. 92 GG, wonach die rechtsprechende Gewalt ausschließlich den Gerichten zugewiesen ist, bejaht169. Aufgrund des Anklagemono-pols der Staatsanwaltschaft wäre der Judi-kative die Möglichkeit, über ein Rechts-verhältnis abschließend zu befinden, ge-nommen, wenn die Staatsanwaltschaft trotz hinreichender Verurteilungswahrschein-lichkeit einstellen dürfte170. Bei Ablehnung einer Bindung werde der gesetzliche Gang der Strafverfolgung durch Opportunitäts-erwägungen unzulässig gehemmt und im Ergebnis hinge die Verfolgung von Strafta-ten von der Rechtsmeinung der ausführen-den Gewalt ab, was eine Missachtung der Gewaltenteilung (Art. 20 II S. 2 GG) be-deute171.

Die Verneinung einer Bindung würde die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 I GG) beseitigen und die Einheit der Rechtsan-wendung zerstören172. Dann sei beachtliche

168 Kretschmer, JURA 2004, 452 (454).

169 Beulke, StrafprozessR, 10. Aufl. (2010), Rdnr. 90.

170 Beulke, StrafprozessR, 10. Aufl. (2010), Rdnr. 90.

171 Schmid, in: KK/StPO, 6. Aufl. (2008), § 170 Rdnr. 6 m.w.N.

172 BGHSt 15, 155 (158 f.); Schmid, in: KK/StPO, 6. Aufl. (2008), § 170 Rdnr. 6 je m.w.N.

AUSGABE 1 | 2012

__________________________________________________________________________________________

58

Rechtsungleichheit und –unsicherheit ge-geben, da es nicht angehen könne, dass ein identisches Verhalten je nach örtlich zu-ständiger Staatsanwaltschaft einmal als strafbar und ein anderes Mal als nicht strafbar angesehen wird173. Dem wird wie-derum entgegengehalten, die Rechtsord-nung selbst akzeptiere die Uneinheitlich-keit der Rechtsanwendung insofern, als dass erst auf der Ebene der Revisionsge-richte dieselbe durch Vorlagepflichten ver-einheitlicht werde174. Es sei zu berücksich-tigen, dass die Staatsanwaltschaft eine hie-rarchische und monokratische Institution ist: Notfalls bilde die Generalstaatsanwalt-schaft aufgrund des Weisungsrechts nach

§§ 146, 147 GVG die eine Rechtsauffas-sung für den Bezirk eines Oberlandesge-richts175.

Den Strafverfolgungsorganen ist es nach dem Legalitätsprinzip verwehrt, nach pflichtgemäßem Ermessen oder i.R.e. Be-urteilungsspielraums zwischen der Verfol-gung oder NichtverfolVerfol-gung einer Straftat zu wählen. Vielmehr existiert für die Poli-zei eine Pflicht zur Strafverfolgung und für die Staatsanwaltschaft ein Verfolgungs- und Anklagezwang176. Dieses Prinzip ist die Konsequenz des Offizialprinzips, und es streite für die Bindung. Alles andere als eine Bindung begründe einen Widerspruch zu § 170 I StPO. Danach „erhebt die Staatsanwaltschaft“ die öffentliche Klage, wenn „die Ermittlungen genügenden An-laß“ bieten. Ein solcher genügender Anlass liegt bei hinreichendem Tatverdacht, also

173 Vgl. Jahn, JuS 2007, 691 (692).

174 Kretschmer, JURA 2004, 452 (454).

175 Kretschmer, JURA 2004, 452 (454 vgl. auch 457).

176 Dazu Krey, StrafverfahrensR I, 2006, Rdnr. 411 m.w.N.

der Wahrscheinlichkeit der späteren Verur-teilung, gerade vor177. Ist der betreffende (ermittelte) Sachverhalt nach fester höchst-richterlicher Rspr. strafbar, so besteht ge-rade diese Verurteilungswahrscheinlich-keit. Die Verfolgung von Straftaten sei (abgesehen von den gesetzlichen Ausnah-men) die aus dem Legalitätsprinzip er-wachsende Pflicht der Staatsanwaltschaft, ohne der ihr Anklagemonopol unberechtigt sei178, weswegen eine Bindung zu bejahen sei.

II. „Feste“ höchstrichterliche Rspr.

Die genannten Meinungsverschiedenheiten können für vorliegenden Fall ohne Bedeu-tung sein:

1) Eine Bindung - sollte sie nicht von vornherein abgelehnt werden - soll nach Rspr. des BGH nur zu bejahen sein, wenn eine „feste höchstrichterliche“ Rspr. gege-ben ist. „Über […diese…] darf sich die Anklagebehörde, auch wenn sie ihr nicht beitritt, nicht hinwegsetzen“179. Dement-sprechend ist fraglich, wann eine Rspr. als in diesem Sinne (hinreichend) fest anzuse-hen ist. Hierfür werden eindeutige Urteile des BGH, eine ständig unangefochtene Rspr. unterer Gerichte180, eine „feste“

Spruchpraxis gefordert oder verlangt, dass die Rspr. zu Gewohnheitsrecht erstarkt ist181. Vorliegend verneinen die

177 Vgl. OLG Rostock, NStZ-RR 1996, 272 (272);

Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. (2005), § 170 Rdnr. 1 je m.w.N.

178 BGHSt 15, 155 (159).

179 So BGHSt 15, 155 (158 f.) m.N.

180 Beulke, StrafprozessR, 10. Aufl. (2010), Rdnr.90.

181 Vgl. die Nachw. bei Jahn, JuS 2007, 691 (692), Fn. 4).

59

gende Ansicht in der Lit. und einige Ober-landesgerichte die Tatbestandserfüllung.

Es besteht nur ein gegenteiliges Urteil des BGH, weshalb vorgenannte Voraussetzun-gen nicht erfüllt sind.

„Bestehen vereinzelte, beiläufige oder ein-ander widersprechende höchstrichterliche Entscheidungen, so sind die darin enthalte-nen Gedanken bei der Prüfung zu berück-sichtigen“182. Eine „vereinzelte“ Entschei-dung des BGH oder eines OLG soll jeden-falls nicht genügen, es sei denn der Ent-scheidung des BGH folgten Oberlandesge-richte183.

Danach ist die erforderliche feste Rspr.

nicht gegeben. Daran ändert nach den ei-genen Vorgaben des BGH auch nichts, dass in dem einzigen Urteil die Rspr. der Oberlandesgerichte erörtert und abgelehnt wurde. Selbst bei Bejahung einer Bindung ist die hierfür (fast einhellig) geforderte feste Rspr. nicht gegeben184.

2) Mithin besteht jedenfalls keine feste Rspr. und damit selbst nach der Auffas-sung des BGH keine Bindungswirkung, weshalb o.g. Meinungsunterschiede dahin stehen können. Indem S sich mit den ver-schiedenen Ansichten eingehend auseinan-dersetzte, genügte er den vom BGH aufge-stellten Anforderungen.

III. Ergebnis S darf einstellen.

182 So BGHSt 15, 155 (158).

183 Krey, StrafverfahrensR I, 1988, Rdnr. 352 m.N.

184 Zu einer vorliegend nur vermeintlich zu einem anderen Ergebnis kommenden Entscheidung vgl.

OLG Zweibrücken, JuS 2007, 691 (691)(Jahn).

Aufgabe 2

I. Devolutionsrecht, § 145 Abs. 1 Var. 1 GVG

W kann sein Ziel dadurch erreichen, dass er gem. § 145 I Var. 1 GVG die Amtsver-richtung selbst übernimmt, er also die ge-wünschte Anklage selbst erhebt.

II. Substitutionsrecht, § 145 Abs. 1 Var.

2 GVG

Weiterhin kann W S die (konkrete) Amts-verrichtung entziehen und einen anderen Staatsanwalt mit dieser betrauen (§ 145 Abs. 1 Var. 2 GVG).

III. Weisungsrecht, § 146 GVG

In Betracht kommt hier nur das sog. inter-ne Weisungsrecht (§ 147 Nr. 3 GVG), das dem ersten Beamten bei den Landgerichten (=Leitender Oberstaatsanwalt, hier W) hinsichtlich aller Beamten seines Bezirks zukommt185.

Endlich kann W S eine Weisung erteilen, die gewünschte Anklage zu erheben. Nach überwiegender Ansicht ist eine Befol-gungspflicht zu bejahen, auch wenn der betreffende Staatsanwalt (hier S) gegentei-liger Rechtsüberzeugung ist186. Gleichwohl erscheint es angesichts der vorgenannten Möglichkeiten nicht notwendig, einen Staatsanwalt zu einer mit seiner Rechtsauf-fassung unvereinbaren Anklage zu veran-lassen. Wegen der persönlichen Rechts-überzeugung ist insofern von einer

185 In § 147 Nr. 1 und 2 GVG wird demgegenüber das sog. externe Weisungsrecht geregelt, dazu:

Kretschmer, JURA 2004, 452 (457 f.).

186 Hillenkamp, JuS 2003, 157 (165); Kretschmer, JURA 2004, 452 (457 f.) m.w.N.

AUSGABE 1 | 2012

__________________________________________________________________________________________

60

schränkung der Ausübung des Weisungs-rechts bzw. einer Ermessensreduzierung auszugehen, so dass das Devolutions- und Substitutionsrecht grundsätzlich vorrangig ist (es sei denn, die Akten wären z.B. so umfangreich, dass das Einarbeiten zu be-achtlichen Verfahrensverzögerungen füh-ren würde)187.

IV. Ergebnis

W muss das ihm zustehende Devolutions- oder Substitutionsrecht wahr nehmen.

187 Hillenkamp, JuS 2003, 157 (165) m.w.N.;

Kretschmer, JURA 2004, 452 (458).

www.tsp-law.com

Stuttgart฀|฀Berlin฀|฀Dresden฀|฀Frankfurt฀|฀Brüssel฀|฀Singapur

R E C H T S A N W Ä L T E

Thümmel,฀Schütze฀&฀Partner฀|฀Rechtsanwalt฀Dr.฀Andreas฀Chmel฀|฀Urbanstraße฀7฀|฀70182฀Stuttgart฀฀

T฀+49฀(0)711.฀1667฀-฀152฀|฀Fx฀+49฀(0)711.฀1667฀-฀290|฀andreas.chmel@tsp-law.com