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4. Familien psychisch kranker Mütter

4.1. Vorbemerkung

4.2.5. Prozesse und Mechanismen

In Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, ist nicht nur das Risiko für die Kinder, selber von einer psychischen Sympomatik betroffen zu sein, erhöht und sind Eheschwierigkeiten häufiger, auch das Familiensystem als Ganzes ist in seinem Funktionieren beeinträchtigt (Keitner

& Miller, 1990). Es gibt mehr familiäre Konflikte und gegenüber nichtklinischen Familien eine geringere Kohäsion (Billings & Moos, 1983; Downey & Coyne, 1990; Fendrich et al., 1990;

Keitner & Miller, 1990). Wie weiter unten noch genauer erläutert wird, erhöht die psychische Erkrankung eines Elternteils auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten verschiedener anderer Stressoren und Risikofaktoren inner- und ausserhalb der Familie, welche auch bei nichtklinischen Familien mit einer Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung einhergehen. Der empirisch eruierte Zusammenhang zwischen elterlicher psychischer Erkrankung und psychischen oder Verhaltensproblemen bei Kindern kann also nicht einfach durch die Behauptung, die elterliche Störung verursache die Psychopathologie des Kindes, erklärt werden:

However, the finding of an association between parental psychiatric disorder and child maladjustment is not adequate justification to conclude that psychiatric disorder in parents „causes” child psychopathology (Cummings & Davies, 1994, S. 74).

Eine elterliche psychische Erkrankung kann Kinder also einerseits direkt über Besonderheiten in der Eltern-Kind-Interaktion und andererseits indirekt über das vermehrte Auftreten von Eheschwierigkeiten und anderer Stressoren beeinflussen. Zu den „direkten” Auswirkungen gehört auch die genetische Übertragung (Dodge, 1990; Downey & Coyne, 1990; Cummings &

Davies, 1994); hier gibt es Hinweise auf eine Erblichkeit der Vulnerabilität, die Forschungsresultate sind jedoch heterogen und die Integration von Theorien und Studien zu biologischen und kontextuellen und psychosozialen Faktoren – im Sinne der Diathese-Stress-Modelle – ist gering (Downey & Coyne, 1990).

Die mit einer psychischen Erkrankung eines Elternteils einhergehenden Veränderungen in Gefühlen, Kognitionen und Verhalten beeinflussen die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion (Dodge, 1990; Downey & Coyne, 1990; Cummings & Davies, 1994; Jacob & Johnson, 1997).

Psychisch erkrankte Eltern zeigen ihren Kindern gegenüber einen eingeschränkten affektiven

Ausdruck, sie sind weniger positiv und spontan sowie distanzierter (Downey & Coyne, 1990;

Rutter, 1990; Cummings & Davies, 1994). Häufig – v.a. bei depressiven Erkrankungen – ist auch sozialer Rückzug und eine verminderte Sensibilität hinsichtlich der kindlichen Bedürfnisse sowie eine damit verbundene eingeschränkte emotionale Verfügbarkeit (ebend.; Goodman & Brumley, 1990). Rutter (1990) weist darauf hin, dass Kinder teilweise auch auf unangemessene Weise als Trost dienen (im Sinne einer Triangulierung). Im kognitiven Bereich zeigen psychisch erkrankte Personen gegenüber ihren Kindern eine negativere Einstellung und schätzen sich selber als weniger kompetent und adäquat im Erziehungsverhalten ein; daneben haben sie aber auch unrealistische und perfektionistische Ansprüche an die Kinder und sich selber (Downey &

Coyne, 1990; Cummings & Davies, 1994).

Diese Besonderheiten beeinflussen auch die Fähigkeit, erzieherische Massnahmen effizient und adäquat durchzusetzen (Downey & Coyne, 1990; Rutter, 1990; Cummings & Davies, 1994). Das Erziehungsverhalten psychisch erkrankter Eltern ist – unabhängig von Diagnose und Schweregrad (Goodman & Brumley, 1990) – einerseits wenig konsistent, andererseits werden erzieherische Massnahmen auch häufiger mit Gewalt durchgesetzt und die Kinder häufiger körperlich misshandelt (ebend.). Die Studie von Nolen-Hoeksma, Wolfson, Mumme und Guskin (1995) sowie die von Dodge (1990) rezensierten Studien weisen auch darauf hin, dass die Fähigkeit psychisch erkrankter Eltern, ihre Kinder im Bereich des Problemelösen und der sozialen Kompetenz zu fördern, eingeschränkt ist.

Diese Beeinträchtigungen in der Eltern-Kind-Interaktion und die Erziehungsschwierigkeiten sind jedoch nicht spezifisch für psychische Erkrankungen. Gemäss Downey und Coyne (1990) und Hammen, Burge und Stansbury (1990) lässt sich ein ähnliches Ausmass an Einschränkungen auch bei Eltern nachweisen, welche von chronischen körperlichen Erkrankungen, Paarproblemen oder Armut betroffen sind. Die Autoren gehen davon aus, dass die genannten Schwierigkeiten eher auf Korrelate der psychischen Erkrankung wie chronischer Stress und Eheprobleme im Sinne genereller Stressoren zurückzuführen sind.

Es gibt auch noch andere Hinweise darauf, dass die psychische Erkrankung eines Elternteils eher

„indirekt”, also über die erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit anderer Risikofaktoren, die in Abschnitt 3.2.1. dargestellten Schwierigkeiten der Kinder verursacht. So zeigen Studien mit nichtklinischen Familien (z.B. Emery & O’Leary, 1982; Brody, Pillegrini & Sigel, 1986; Howes

& Markman, 1989; Fine, Voydanoff & Donnelly, 1994), dass auch in diesen Paarprobleme einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung und das Befinden von Kindern haben. In den von

Cummings und Davies (1994) rezensierten Studien zeigte sich, dass nicht nur Paarprobleme, sondern auch andere Faktoren wie inkonsistenter Erziehungsstil, mangelnde emotionale Verfügbarkeit und andere dysfunktionale familiäre Beziehungsmuster in nichtklinischen Familien ebenfalls eine Erhöhung des Risikos der Kinder, selber psychische Auffälligkeiten zu entwickeln, zur Folge haben. In der Untersuchung von Emery et al. (1982) wirkte sich die affektive Störung eines Elternteils nur dann negativ auf die gemessenen Verhaltensvariablen der Kinder aus, wenn sie von Paarproblemen begleitet waren. Ähnliche Resultate zeigen sich in der Untersuchung von Billings und Moos (1983, 1985) hinsichtlich allgemeiner Stressoren wie familiäre Konflikte, negativen Lebensereignissen, Arbeitslosigkeit, chronische körperliche Erkrankungen u.a.m.

sowie hinsichtlich Ressourcen wie sozialer Unterstützung. Hier seien illustrierend einige Zahlen dargestellt: in Familien ohne Risikofaktoren (kein Elternteil depressiv, keine familieninternen und -externen Stressoren) wiesen 2,7% der Kinder eine psychische Symptomatik auf (definiert anhand einer bestimmten Anzahl emotionaler, physischer oder Verhaltensproblemen) auf, in Familien mit einem depressiven Elternteil stieg diese Prävalenz auf 26,2%, auf 32,9% bei einer akuten Depression eines Elternteils, und bis zu 41,2%, wenn diese akute Depression kombiniert war mit einem hohen Stressniveau sowie mangelnder sozialer Unterstützung. Auch in nichtklinischen Kontrollfamilien war das Auftreten von Stessoren mit einem höheren Niveau psychischer Symptome bei Kindern assoziiert (bei Vorhandensein von Stressoren 18,2% und zusätzlich mangelnder sozialer Unterstützung 22,7%). Geringer Stress und soziale Unterstützung wirken als protektive Faktoren; wenn diese Faktoren in den Familien mit einem depressiven Elternteil vorhanden waren, sank der Anteil der psychischen Symptomatik bei Kindern auf 22,0%

bei geringem Stressniveau bzw. 10,7% bei gleichzeitigem Vorhandensein sozialer Unterstützung, jedoch kam dies bei weniger als einem Viertel der Patientenfamilien vor.

Insgesamt lässt sich also feststellen, dass Eheschwierigkeiten, chronische Stressoren und andere Risikofaktoren auch in nichtklinischen Familien für Kinder ungünstige Folgen zeigen können.

Eine elterliche psychische Erkrankung führt jedoch dazu, dass diese Faktoren in der Familie häufiger auftreten als in nichtklinischen Familien (Rutter & Quinton, 1977; Billings & Moos, 1983, 1985; Rutter & Quinton, 1984; Downey & Coyne, 1990; Fendrich et al., 1990; Rutter, 1990; Cummings & Davies, 1994; Boyle & Pickles, 1997) und somit auch das Risiko für die Kinder, selber eine psychische Symptomatik zu zeigen, erhöht ist.

Nicht zuletzt sei – im Hinblick auf die in den obigen Abschnitten beschriebenen zahlreichen Beeinträchtigungen und Probleme – darauf hingewiesen, dass sich viele Kinder psychisch

erkrankter Eltern auch normal entwickeln. Allerdings ist die Voraussage, welche Kinder eher beeinträchtigt sein werden und welche eher weniger, gemäss Anthony (1987) schwierig:

The risks to which children are exposed are as variable in their severity and nature as the vulnerabilities and resiliences with which the children confront them. These considerations make the prediction of outcome extremely difficult (S. 10).

Die Erforschung des Zusammenspiels von verschiedenen Risikofaktoren mit Elementen protektiver Art erscheint v.a. für die Prävention wichtig (Downey & Coyne, 1990; Rutter, 1990).

Besonders gefährdet sind Kinder, bei denen einerseits eine gewissen Vulnerabilität (z.B.

genetischer Art) besteht, und andererseits eine hohe Anzahl von Risikofaktoren auftritt: hierzu zählen gemäss Seifer, Sameroff, Baldwin und Baldwin (1992) z.B. eben die psychische Erkrankung eines Elternteils, ein schlechter Bildungs- und sozioökonomischer Status, die Abwesenheit des Vaters, eine autoritäre Erziehung, negative Lebensereignisse u.a.m., wobei nicht so sehr die Art der Risiken die Gefährdung des Kindes erhöht, sondern ihre Anzahl. Kinder, welche trotz einer hohen Anzahl Risikofaktoren in ihrer psychosozialen Entwicklung unbeeinträchigt werden, verfügen offensichtlich über Eigenschaften und Merkmale, welche sie vor den negativen Folgen widriger Lebensumstände schützen. Aus zahlreichen empirischen Studien wird deutlich, dass solche „widerstandsfähigen“ Kinder (resilient children) sich durch gewisse Persönlichkeitsdispositionen (z.B. hohes Selbstwertgefühl, subjektives Kompetenz- und Kontrollgefühl) auszeichnen sowie innerhalb und ausserhalb der Familie über ein hohes Mass an sozialer Unterstützung verfügen (Compas; 1987; Seifer et al., 1992). Spezifisch für Kinder und Jugendliche, die trotz einer schweren und chronischen psychischen Erkrankung eines Elternteils optimal angepasst sind, erwiesen sich in der Studie von Beardslee und Podorefsky (1988) folgende Eigenschaften: die betroffenen Kinder waren sich der Belastung, der sie durch die elterliche Erkrankung ausgesetzt sind, bewusst und waren fähig, auch über negative Gefühle wie Verwirrung, Ärger, Frustration und Hilflosigkeit im Zusammenhang mit dem erkrankten Elternteil zu sprechen. Sie hatten eine realistische Einschätzung ihrer Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen. Als äusserst wichtig erwies sich auch die Tatsache, dass die Kinder – trotz hoher emotionaler Involviertheit mit dem erkrankten Elternteil – sich nicht als verantwortlich für die psychische Erkrankung wahrnahmen, sie konnten sich angemessen davon abgrenzen, indem sie ausserhalb der Familie Freundschaften eingingen und pflegten.

Ein weiteres wichtiges Merkmal „widerstandsfähiger“ Kinder sind effiziente Coping-Strategien (Garmezy, 1983; Anthony, 1987; Compas, 1987; Hetherington, 1989). Darunter wird folgendes verstanden (Lazarus & Folkman, 1984):

We define coping as constantly changing cognitive and behavioral efforts to manage specific external and/or internal demands that are appraised as taxing or exceeding the resources of the person (S. 141).

Die Begriffe Resilience, Coping, protektive Faktoren und teilweise auch Vulnerabilität sind jedoch nur unscharf abgegrenzt und überschneiden sich in ihren Konzeptualisierungen, wie folgende Copingdefinition von Compas (1987) zeigt:

Coping resources include those aspects of the self (e.g., problem-solving skills, interpersonal skills, positive self-esteem) and the social environment (e.g., the availability of a supportive social network) that facilitate or make possible successful adaptation to life stress (S. 394).

Die Förderung effizienter Copingstrategien und die Stärkung protektiver Faktoren bei Kindern sind naheliegende Ansätze für die Prävention und Therapie, auf die im folgenden Kapitel eingegangen werden soll.