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9. Diskussion

9.3. Paarbeziehung

Im Vergleich mit der Familienebene ist der Anteil balancierter Strukturen in den typischen FAST-Repräsentationen auf der Paarebene grösser, wobei aber immer noch weit über die Hälfte der Mütter und Väter labil-balancierte und unbalancierte Strukturen zeigen. Interessanterweise schätzen über drei Viertel der Kinder die Paarbeziehung als balanciert ein. Auf der Kohäsionsdimension tritt bei den Eltern eine Art „Entweder-Oder“-Muster auf: die emotionale Nähe zwischen den Partnern wird von diesen zu 40% als tief eingeschätzt, von der grossen Mehrheit der anderen als hoch. Die Kinder sehen die Elternbeziehung mehrheitlich als hoch-kohäsiv an. Komplex sind die Befunde zur Hierarchiedimension: nur ein kleiner Teil der Mütter sieht die Paarbeziehung als gleichberechtigt an, ein Drittel schätzt den Hierarchieunterschied zwischen sich und dem Partner sogar als gross ein, wobei kein eindeutiger Zusammenhang besteht. Ein Teil der Mütter schreibt sich selber mehr Einfluss zu, ein anderer Teil sieht den Partner als einflussreicher an. Die Väter sehen die Partnerschaft eher als gleichberechtigt oder mittel-hierarchisch, auch hier ist keine eindeutige Richtung erkennbar. Die Kinder schätzen die Beziehung zwischen den Eltern als mittel-hierarchisch ein, wobei der Wahrnehmungsunterschied zwischen Müttern und Kindern wiederum signifikant ist.

Im Vergleich mit der empirischen Forschung ergeben sich aus diesen Befunden deutliche Hinweise auf eine belastete Paarbeziehung. In nichtklinischen Familien ist das Paar das kohäsivste Subsystem und bildet eine starke Allianz (Bonachich & Grusky, 1985; Feldman &

Gehring, 1988), ebenso zeichnen sich gut funktionierende Familien durch eine egalitäre Paarbeziehung aus (Beavers, 1985; Olson, 1986), was sich auch in den FAST-Darstellungen zeigt (Feldman et al., 1989a). Im Gegensatz zu den hier befragten Personen tendieren in nichtklinischen Familien sowohl Mütter wie Väter dazu, sich selbst mehr Einfluss zuzuschreiben (Larson, 1974; Ball, Cowan & Cowan, 1995), auch ist die Ehezufriedenheit von Frauen, welche ihre Partnerschaft als egalitär wahrnehmen, grösser. Die hier befragten Kinder zeigen im Vergleich mit psychiatrisch auffälligen und gesunden Kindern (Gehring & Marti, 1993) wie schon auf der Familienebene auf der Kohäsionsdimensionen ähnliche Einschätzungen wie die klinischen Kinder, auf der Hierarchiedimension ist die Verteilung eher wie bei nichtklinischen Kindern. Die Autoren dieser Studie stellen die These auf, dass die Tatsache, dass Kinder die Paarbeziehung als mittelhierarchisch – mit einem geringeren Einfluss der Mütter – darstellen, auch durch Geschlechtsrollenstereotypen beeinflusst sein könnte, dass also die Wahrnehmung nicht nur abhängig ist von der Beobachtung der Alltagsinteraktionen sondern auch von der

Vorstellung eines „impliziten Recht des Vaters Macht auszuüben“. Ähnliche Argumente lassen sich zur Erklärung des durch die Mütter und Väter selbst wahrgenommenen Hierarchieunterschiedes zwischen den Partnern herbeiziehen: durch die traditionelle Rollenverteilung in den Familien könnte ein Teil der Befragten den grösseren Einfluss der Mutter (unabhängig von ihrer Erkrankung) darin sehen, dass diese zuhause „den Laden schmeisst“ und für den Familienalltag die grössere Verantwortung trägt, für einen anderen Teil der Befragten könnte eher die durch die Erkrankung bedingte Abhängigkeit, Passivität oder Hilflosigkeit der Mutter im Vordergrund stehen. Einmal mehr wird hier die Uneindeutigkeit und Multidimensionalität des Hierarchiekonstruktes deutlich, eine Problematik, auf die in Kap. 8.6.

noch genauer eingegangen wird.

Das Muster, dass Mütter die Paarbeziehung entweder als balanciert oder als unbalanciert sehen, zeigt sich sowohl bei kürzerer wie auch bei längerer Erkrankungsdauer. Bei den Vätern hingegen sehen jene mit einer erst vor kürzerem erkrankten Partnerin die Paarbeziehung noch mehrheitlich als balanciert an, während in der Gruppe mit längerer Erkrankungsdauer unbalancierte Strukturen sehr häufig auftreten. Bei den Kindern verhält es sich umgekehrt: die Kinder der ersten Gruppe zeigen zur Hälfte labil-balancierte und unbalancierte Strukturen in der Paarbeziehung, jene aus der zweiten Gruppe zur grossen Mehrheit balancierte. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass in der ersten Gruppe die Veränderungen, die durch die Erkrankung in der Partnerschaft entstehen (z.B. mehr offene Konflikte) für die Kinder in einer Art „Vorher-nachher“-Vergleich spürbar sind, während sich bei längerer Erkrankungsdauer – wenn die Partner zusammenbleiben wie in der befragten Stichprobe – ein Gleichgewicht einpendelt , so dass die Kinder die bestehende Beziehung zwischen ihren Eltern als „normal“ erleben. Auf der Kohäsions- und der Hierarchieebene wird dies auch bei den Müttern deutlich, hier erleben die Frauen aus der Gruppe mit kürzerer Erkrankungsdauer eher assymetrische Strukturen, während ihre Partner noch eher balancierte Strukturen und eine gleichberechtigte Partnerschaft wahrnehmen. Die grössere subjektive Beeinträchtigung der Mütter könnte mit durch die psychische Erkrankung veränderten Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen zusammenhängen, oder aber die positivere Beurteilung durch die Väter mit einem geringeren Problembewusstsein oder dem fehlenden Willen sich mit den Problemen auseinanderzusetzen. Die Väter der zweiten Gruppe hingegen nehmen mehrheitlich eine tiefe Kohäsion in der Paarbeziehung wahr, verbunden mit gehäuft auftetenden Vater-Kind-Koalitionen. Dieser schwer zu interpretierende Befund steht im Gegensatz zum Empfinden der Mütter, welche in der zweiten Gruppe relativ häufig eine hohe

Kohäsion wahrnehmen, dies vielleicht deshalb, weil es diesen Familien gelungen ist, trotz immer wieder auftretenden Erkrankungsschüben eine gewisse Kontinuität aufrechtzuerhalten. Obwohl also sowohl auf der Familienebene wie auch auf der Paarebene Unterschiede zwischen den Gruppen mit unterschiedlich langer Erkrankungsdauer eruierbar sind, bedürfen alle Befunde in diesem Zusammenhang einer genaueren Überprüfung, da die hier befragte Stichprobe viel zu klein ist, um mehr als spekulative Aussagen abzuleiten.

In den idealen Repräsentationen zeigen alle befragten Familienmitglieder eine balancierte, hoch-kohäsive und egalitäre Paarbeziehung. Die Mütter zeigen am deutlichsten den Wunsch nach Zunahme der emotionale Nähe in der Partnerschaft, während die Mehrheit der Kinder und interessanterweise auch der Väter keine Veränderung wünscht. Auch auf der Hierarchieebene haben viele Mütter den Wunsch nach einer Abnahme der Hierarchie, aber auch die Väter und mehr noch die Kinder wünschen sich gleichberechtigtere Partnerschaften, ein Befund, welcher der These, dass der Hierarchieunterschied zwischen Männern und Frauen normativ ist, zuwiderläuft. Im Vergleich zur Familienebene zeigen sich die Väter eher zufrieden mit dem Status quo, wenn sie sich Veränderungen wünschen, sind es – wie bei den Müttern – grosse oder mittlere.

Insgesamt beurteilen die Väter die Paarbeziehung als tief-kohäsiv, haben aber gleichzeitig kaum Veränderungswünsche. In der SCL-90 zeigen die Väter – mit einigen Ausnahmen – eine auffallend niedrige, unterdurchschnittliche subjektive Symmptombelastung, schätzen sich selber also als „sehr gesund“ ein. Dies könnte ein Hinweis auf eine klar definierte „Rollenteilung“ durch die Väter sein, wer „krank“ ist und wer „gesund“36. Zur der – wiederum spekulativen – Vermutung, dass eventuell die Väter dazu tendieren, ihre eigene Problematik und Beteilung an den familiären Schwierigkeiten zu verleugnen, passen auch die Aussagen von einigen Frauen: so berichteten zwei von ihnen, ihre Partner hätten sich zuerst geweigert, an Paargesprächen teilzunehmen, dass aber nachdem das Verständnis der Männer für die interpersonalen Aspekte der Erkrankung dagewesen sei, eine markante Verbesserung der Paarbeziehung und der Kommunikation dawesen sei, eine andere betonte, zur Verbesserung ihrer Schwierigkeiten

„müsste der Mann mehr an sich arbeiten“.

Alle diese Befunde weisen darauf hin, dass in vielen der befragten Familien die Paarbeziehung belastet ist. Die Auswirkungen einer schlecht funktionierenden Partnerschaft beschreiben Gilbert et al. (1984):

36 Vgl. dazu Willi (1998).

To the extent that the marital alliance is weak, the family no longer has its most experienced, knowledgeable, and resourceful subsystem fully contributing to regulatory matters (e.g., child rearing, household tasks, financial responsibilities) and adaptive needs (e.g., problem solving, conflict resolution etc.). The reduced regulatory and adaptive ability of the system places additional stress on the family and contributes to the maintenance and exacerbation of existing difficulties. (S. 83)

Die von den Müttern und Vätern beschriebenen Schwierigkeiten in der Partnerschaft sind also insofern zentral, als dass erwiesenermassen Probleme und Konflikte im ehelichen Subsystem Auswirkungen auf andere Subsysteme sowie das Funktionieren des Gesamtsystems haben (Gilbert et al., 1984; Gehring et al., 1990). Gleichzeitig wurde in den Fragebögen und den Nachbefragungen die Paarbeziehung als eine der wichtigsten Ressourcen und Quelle der Unterstützung genannt. Aus diesen Gründen erscheint die Stärkung der Paarbeziehung und die Verbesserung als ein naheliegender und wichtiger therapeutischer Ansatzpunkt.

In diesem Zusammenhang zu bedenken ist auch – wie schon verschiedentlich erwähnt –, dass eine psychische Erkrankung nicht nur die Ursache für Probleme in der Partnerschaft ist, sondern umgekehrt diese auch psychische Erkrankungen mitverursachen können, sie verstärken, ihren Verlauf beeinflussen oder das Risiko für einen Rückfall erhöhen (Krantz & Moos, 1987; Gotlib

& Whiffen, 1989; Downey & Coyne, 1990; Burns et al., 1994; Moos et al., 1998). Positiv formuliert heisst dies, dass eine gute Partnerschaft den Verlauf einer Erkrankung günstig beeinflussen kann und durch die Erfahrung, als Paar oder Familie die Erkrankung „managen“ zu können, ein starkes Gefühl der Kompetenz und Zusammengehörigkeit entstehen kann.