• Keine Ergebnisse gefunden

Es gibt eine Reihe von Gesetzen und Richtlinien, die eigentlich dafür sorgen sollen, dass behinderte Menschen keine Benachteiligung erfahren. Auf internationaler Ebene ist das im Wesentlichen die Aufgabe der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Auf eidgenössischer Ebene kommen das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG und die ergänzende Behindertengleich-stellungsverordnung BehiV dazu (siehe dazu Kapitel 2.1 und 2.2). Wenn darin von der Benachteiligung behinderter Menschen die Rede ist, geht es oft um bauliche Hindernisse. Doch man muss auch den erschwerten Zugang zu Information und damit zu Informations- und Kommunikationstechnologien betrachten. Die Stiftung Zugang für alle (2016) appelliert, dass das nicht sein darf:

„Einmal, weil ein fehlender Zugang zur Informationsgesellschaft eine Benachteiligung der betroffenen Personen ist. Aber auch daher nicht, weil diese Personen damit als Fachkräfte, als Kunden oder Kundinnen, als sich in die Informationsgesellschaft einbringende und sie bereichernde Akteure fehlen.“ (S. 3) Für den Archivbereich gab der National Council on Archives (2008) in Grossbritannien einen Standard for Access to Archives heraus. Darin hat er die Bekämpfung der Diskriminierung – auch von behinderten Menschen – aufgenommen. Unter Punkt 2.2

hält er fest: „The archive service does not discriminate against any member of its community“ (S. 15) und erklärt, dass es vor allem um die unbewusste Diskriminierung geht. So steht weiter: „Unconscious discrimination can be a product of the legacy of service infrastructure, location, appearance, staffing, collection, finding aids, service delivery options, opening hours, rules, reader facilities etc.“ (S. 15).

Der International Council on Archives (2012) hat seinerseits mit zwei Dokumenten Richtlinien erlassen, die den Zugang zu Archiven definieren. Im Code of Ethics von 1996 wird unter dem 6. Prinzip festgehalten: „Archivists should promote the widest possible access to archival materials and provide an impartial service to all users“ (S.

3). Im zweiten Dokument, der Universal Declaration on Archives aus dem Jahre 2010, ist zu lesen:

„The Universal Declaration on Archives […] identifies one of the vital roles of archivists as making these records available for use, and pledges that archivists will work together in order that archives are made accessible to everyone, while respecting the pertinent laws and the rights of individuals, creators, owners and users“ (International Council on Archives, 2012, S. 4).

In den kantonalen Gesetzgebungen der Schweiz wird die Verpflichtung zur Zugänglichkeit meist in den Archivgesetzen festgehalten. Sie besagen, dass öffentliche Archive unter Berücksichtigung des Datenschutzes allen Zugang gewähren müssen (siehe auch Kapitel 2.3). Die Verschiebung des Fokus von der Aufgabe, geschäftliches oder staatliches Handeln durch die Aufbewahrung der Akten für die Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen, hin zu einem Dienstleistungsbetrieb mit dem Ziel, die Nutzung der Bestände zu fördern, kam in der Schweiz erst in den 1980er Jahren auf (Huser, 2012, S. 188). Aber was ist unter einem Dienstleistungsbetrieb zu verstehen?

Wie weit soll diese Dienstleistung gehen? Huser (2012) unterscheidet zwischen Kundenorientierung und Benutzerfreundlichkeit: „Für die Umsetzung im Archivalltag ist es für die Mitarbeitenden des Benutzungsdiensts ein Unterschied, ob sie sich am individuellen Kunden orientieren oder ob sie ‚nur‘ benutzerfreundlich handeln“ (S. 191).

Die Entscheidung für das eine oder das andere ist vor allem dann relevant, wenn es darum geht, den Stellenwert und die Aufgaben des Benutzerdienstes zum Beispiel für ein Archivleitbild zu bestimmen. Das Staatsarchiv des Kantons Zürich umschreibt das auf seiner Website folgendermassen:

„Die Abteilung Individuelle Kundendienste ist dazu da, Brücken zu bauen zwischen den Anliegen der Kundschaft und den im Staatsarchiv verfügbaren Beständen. Sie unterstützt bei der Fokussierung von Fragestellungen, beim Auffinden von

Verzeichnissen etc. – kurz, sie bietet ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ im umfassenden Sinn. Zu diesem Zweck betreibt die Abteilung Individuelle Kundendienste vor Ort“

(Staatsarchiv des Kantons Zürich, 2020).

Das Staatsarchiv Basel-Stadt zollt seinem Benutzungsdienst ebenfalls besondere Aufmerksamkeit, relativiert jedoch, indem es diese Benutzung lediglich „nach Massgabe seiner betrieblichen Mittel mit Rat und Tat“ (Staatsarchiv Basel-Stadt, 2020) fördert.

Was heisst das nun für sehbehinderte und blinde Benutzer? Sie sollten im Grund die gleichen Bedingungen haben wie alle anderen. Niemand wird behaupten, dass sie keinen Zugang zu den Archiven bekommen. Die Frage stellt sich aber, weshalb sie selten die Bedingungen so vorfinden, dass der Zugang für sie im gleichen Mass möglich ist wie für normal sehende Benutzer. Wenn man sich in den Archiven umhört, dann gibt es dafür mehrere Gründe. Bei Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt und beispielsweise auf einen Rollstuhl angewiesen sind, weiss man in der Regel, welche baulichen Massnahmen umgesetzt werden müssen, um ihnen den Zugang zu erleichtern. Bei sehbehinderten oder blinden Menschen ist das oft nicht der Fall. Das hat auch damit zu tun, dass Sehbehinderungen viele verschiedene Formen haben und damit die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind. Deshalb wissen Verantwortlichen oft nicht, was sie ändern sollen, um sehbehinderten und blinden Menschen den Zugang zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Ein weiterer Grund, nicht zu handeln ist die Annahme, dass manche Massnahmen – z.B. baulicher Art oder das Personal betreffend – viel zu aufwändig und teuer sind für die geringe Anzahl von sehbehinderten und blinden Benutzern. Diesem Argument müssen zwei Aspekte entgegengehalten werden: Zum einen sind das die Kosten. Es gibt verschiedene Massnahmen, die mit sehr wenig finanziellen Mitteln umgesetzt werden können, die aber eine wesentliche Verbesserung für die Zugänglichkeit bedeuten – das kann eine Umstellung in der Möblierung sein, ein Umplatzieren von Hinweistafeln oder die Verwendung anderer Beleuchtung bzw. Leuchtmittel. Wenn die Barrierefreiheit umfassend realisiert werden möchte – also nicht nur für sehbehinderte Menschen –, dann wird es teurer. Die Nationalfonds-Studie „Behindertengerechtes Bauen – Vollzugsprobleme im Planungsprozess“ berechnete die Zusatzkosten, wenn ein Gebäude barrierefrei gebaut wird. Bei Neubauten verursacht hindernisfreies Bauen gemäss der Studie Mehrkosten von 1,8 % der Bausumme. Das ist jedoch ein Durchschnittswert. Bei kleinen, öffentlich zugänglichen Bauten mit einer Bausumme von 0,5 Mio. Franken betragen die Mehrkosten 3,5 %. Bei grösseren Projekten von

über 5 Mio. Franken lediglich noch 0,5 % (Volland & Manser, 2004, S. 4). Bei bestehenden kleineren Gebäuden betragen die Zusatzkosten für eine hindernisfreie Lösung 15 % bzw. weniger als 1 % bei grösseren Gebäuden (Volland & Manser, 2004, S. 7). Es zeigt sich also, dass ein Nachbessern wesentlich teurer kommt. Wenn man nur die Wahrnehmungshilfen für sehbehinderte und blinde Menschen umsetzen möchte, machen die Zusatzkosten nur noch 1 % aus (Volland & Manser, 2004, S. 9).

Die Überlegung bleibt, ob es sich lohnt, diese Summe aufzuwerfen für einige wenige Benutzer. Allerdings ist davon auszugehen, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit mehr sehbehinderte und blinde Menschen das Archiv besuchen, wenn sie wissen, dass sie gute Bedingungen antreffen. Ausserdem darf man bei solchen Abwägungen nicht ausser Acht lassen, dass solche Investitionen auch Menschen zugutekommen, die zwar nicht per definitionem als sehbehindert gelten, aber dennoch nicht gut sehen.

Schrammel (2007) erwähnt noch weitere Faktoren, die gegen eine barrierefreie Umgestaltung aufgeführt werden: „Zu hoher zeitlicher Aufwand, um sich dem Thema zu widmen […] Kein Mitspracherecht bei baulichen Veränderungen, da das Gebäude nur gemietet ist; Denkmalschutz […] Keine räumliche Ausweichmöglichkeiten vorhanden“

(S. XII d. Anhangs). Und schliesslich sind Projekte, wie eine barrierefreie Website oder grössere Bestände zu digitalisieren (siehe dazu Kapitel 5.1.3 und 5.2.3), schwieriger zu finanzieren.

Ein dritter Grund dafür, dass sich Verantwortliche für Archive schwer tun, die Zugänglichkeit zu verbessern, ist die Einstellung, dass es nicht Aufgabe des Archives ist, die Schwierigkeiten von sehbehinderten und blinden Menschen zu beheben, sondern dass sie selber dafür sorgen sollen. Zu was Archive genau verpflichtet sind und was Sache der Betroffenen ist, ist eine politische und gesellschaftliche Diskussion und kann hier nicht geführt werden. Die Verantwortlichen der Archive müssen hier eine Entscheidung fällen. Dennoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass – wie Fäh (2013, S. 30) es wünscht – jeder Mensch möglichst viel Autonomie und Bewegungsfreiheit haben sollte. In der Studie COVIAGE des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen SZB bekräftigen sie diese Aussage: „Die Möglichkeiten, den eigenen Alltag zu bewältigen, beeinflussen die Bewertung der eigenen Lebensqualität“

(Blommaert et al., 2018, S. 13). Spring (2020) geht noch einen Schritt weiter, indem er schreibt: „Sofern die betroffenen Personen in ihrer Autonomie und Selbständigkeit unterstützt werden, können die sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Behinderung niedrig gehalten werden“ (S. 37).