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5. Ästhetisches Verweilen als ästhetische Erfahrung bei Schiller

5.1 Schiller zwischen praktischer Freiheit und Freiheit als Praxis

5.1.1 Praktische Freiheit und Schönheit bei Kant

Kant beschreibt den Menschen als ‚Bürger zweier Welten’. Der Mensch sei unfrei als ein empirisch durch die Kausalität der Natur bedingtes Lebewesen und zugleich frei als vernünftiges Wesen, das spontan handeln und kausale Beziehungen stiften könne (vgl. Kant, 1781/1992, S. 492ff.). Dieser anthropologische Dualismus hat auch eine konkrete Konsequenz für die praktische Philosophie: Die menschliche Freiheit sei nur unter Bedingungen einer Ablehnung von Neigungen und Begierden möglich (vgl. Kant, 1788/1991, S. 192). Praktische Freiheit ist Kant zufolge jene Freiheit, die dem Menschen als vernünftigem Wesen zukommt. Damit erweisen sich die sinnliche Welt der Natur und die übersinnliche der Freiheit als entgegengesetzte und unverbundene Welten. Um dieses Problem zu lösen, weist Kant darauf hin, dass zwischen Natur und Freiheit durchaus ein Übergang möglich sei, damit die Freiheit in der sinnlichen Welt realisiert werden könne (vgl.

Kant, 1790/1989, S. 83). Dieser Übergang kommt in der Struktur der reflektierenden Urteilskraft als vermittelnde Instanz zum Ausdruck. In seinem transzendental-philosophischen Ansatz verortet Kant die Urteilskraft in der Gruppe der ‚oberen‘ bzw.

‚intellektuellen‘ Erkenntnisvermögen als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft. Zu den

‚unteren‘ Vermögen gehört die Sinnlichkeit, die aus Sinn und Einbildungskraft besteht (vgl.

Kant, 1790/1989, S. 15; 1796/1977, S. 425).

Unter Urteilskraft versteht Kant „das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.“

(Kant, 1781/2014, S. 184; Hervorhebung im Original) Die Urteilskraft ist also die Fähigkeit, das Besondere unter dem Allgemeinen zu subsumieren. Wenn das Allgemeine gegeben ist, spricht Kant von einer bestimmenden Urteilskraft. Wenn z. B. ein Arzt eine Entscheidung bezüglich der richtigen Behandlung für einen Patienten treffen muss, dann muss er über ein medizinisches Wissen etwa in Form von Begriffen, Regeln, Gesetzen, Prinzipien oder

Richtlinien verfügen, das er zweckmäßig in diesem Fall (Krankheit) anwenden muss (vgl.

Willatt, 2019a, S. 33). So muss er ein Urteil fällen: Er muss auf verfügbares Wissen (Allgemeines) rekurrieren, um etwas (Besonderes) in der Welt erkennen und dementsprechend handeln zu können. Die bestimmende Urteilskraft verbindet das bekannte Allgemeine mit dem besonderen Fall und ermöglicht dadurch eine Erkenntnis der Welt. Diese Urteilsform bezeichnet Kant daher als „Erkenntnisurteil“ (Kant, 1790/1989, S. 122). Wenn hingegen das Allgemeine nicht gegeben ist, muss dieses erst gesucht werden. Dabei handelt es sich um eine reflektierende Urteilskraft: Ausgehend von einem Besonderen sucht man ein Allgemeines, das nicht vorhanden ist – und letztendlich nicht gefunden werden kann. Dieser Urteilsform entspricht nach Kant das Geschmacksurteil. Man denke z. B. an die musikalische Hörerfahrung: Man hört ein Musikstück und will ein Urteil fällen – ob es einem gefällt oder nicht. Hier ist nur das Besondere (das konkrete Musikstück) gegeben und deshalb muss ein passendes Allgemeines (Begriff, Regel, Gesetz, Prinzip, Richtlinie) für das Geschmacksurteil gefunden werden.

Des Weiteren bestimmt Kant das Geschmacksurteil hinsichtlich der Gefühle von Lust und Unlust, mit denen menschliche Handlungen verbunden sein können (Kant, 1790/1989, S.

122). 103 Kant zufolge ist die Lust oder das Wohlgefallen an einem Gegenstand im Normalfall Ausdruck entweder subjektiver Neigungen oder objektiver Eigenschaften des Gegenstandes.

Das Wohlgefallen am Schönen sei jedoch weder bloß subjektiv noch objektiv. Das Geschmacksurteil – seine Form: ‚X ist schön‘ – sei vielmehr ein subjektiv-allgemeines Urteil:

subjektiv als Ausdruck des Lustgefühls, das im Subjekt ausgelöst werde; allgemein als ein Urteil, das eine Allgemeingültigkeit beanspruche, die über die Subjektivität hinaus gehe.

Diese subjektive Allgemeinheit sei nicht mit einem Allgemeinen (Begriff, Regel, Gesetz, Prinzip, Richtlinie) gleichzusetzen. Sie verweise auf das Gefühl der Lust, das das „freie[]

Spiel[] der Erkenntnisvermögen“ bewirke, d. h. das freie Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand, und das zugleich bei anderen Menschen vorausgesetzt werden

103 Kant geht davon aus, dass menschliche Handlungen wesentlich an Interessen gebunden sind. Den Interessenbegriff führt Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft als ‚Interesse der Vernunft‘ ein. In einer berühmten Passage formuliert er die drei Fragen, die das theoretische und praktische Interesse des Menschen darstellen: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (Kant, 1781/1992, S. 677). Diese Fragen bestimmen zudem die Themen seiner Kritiken: Die erste Frage nach dem Wissen ist theoretisch und wird in der Kritik der reinen Vernunft behandelt. Die zweite nach dem Sollen ist praktisch und wird in der Kritik der praktischen Vernunft erörtert. Die dritte ist zugleich theoretisch und praktisch und wird in der Kritik der Urteilskraft aufgegriffen. Dort unterscheidet Kant in der Analytik des Schönen hauptsächlich zwei Formen des Interesses, nämlich das Interesse der Sinne am Angenehmen und das Interesse der Vernunft am Guten (vgl. Kant, 1790/1989, S. 115ff.). Diese Unterscheidung entspricht jeweils den Begriffen von sinnlicher Natur und übersinnlicher Freiheit, die für Kants Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische Philosophie leitend sind. Daher ist die Lust bzw. das Wohlgefallen im Normalfall immer interessiert, sei es als Wohlgefallen am Angenehmen oder Wohlgefallen am Guten, da man es „mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinde[t]“ (ebd., S. 116).

könne (Kant, 1790/1989, S. 132; Hervorhebung im Original). Dieses Gefühl der Lust oder Wohlgefallen sei interesselos insofern, als es „indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes“ zustande komme (ebd., S. 122). Im Umgang mit schönen Gegenständen werden die Erkenntnisvermögen zwar tätig, ohne aber Erkenntnis im strikten Sinne zu erzeugen. Das Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen mündet hier weder in theoretische noch praktische Begriffe und bleibt als Suchbewegung eher unbestimmt und reflexiv. Dabei kommt lediglich eine „Erkenntnis überhaupt“ zum Vorschein (ebd.), d. h. eine Erkenntnis darüber, dass die Erkenntnisfähigkeit des Menschen funktioniert (vgl. Bertram, 2014, S. 67).

Im § 59 der Kritik der Urteilskraft postuliert Kant eine strukturelle Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem moralischen Urteil, ohne aber die strikte Abgrenzung des Ästhetischen gegenüber dem Moralischen aufzulösen (vgl. Kant, 1790/1989, S. 298f.).

Diese Abgrenzung lässt sich wie folgt erklären: Während das reine Geschmacksurteil uninteressiert und ohne Begriff zustande kommt, verfährt das moralische Urteil interessiert, und zwar gemäß des sittlichen Gesetzes. Obwohl Kant den formalen Aspekt des Geschmacksurteils hervorhebt, hat die Einführung einer strukturellen Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem moralischen Urteil zunächst eine implizite Aufwertung der Sinnlichkeit zur Folge. Eine solche Aufwertung vollzieht Kant im Rahmen seiner Analyse des Schönen und des Erhabenen – wenngleich nur auf ästhetisch-transzendentaler Ebene. In der Analytik des Schönen behauptet er die Gleichwertigkeit von Sinnlichkeit im Verhältnis zum Verstand. Im ‚freien Spiel‘ von Einbildungskraft und Verstand sind beide Erkenntnisvermögen gleichermaßen tätig, sodass die Sinnlichkeit ihren untergeordneten und passiven Status augenblicklich verliert. In der Analytik des Erhabenen entwickelt Kant diesen Gedanken der Gleichwertigkeit mit Blick auf die Vernunft weiter. Dort geht es allerdings nicht mehr um ein freies und harmonisches Spiel der Erkenntnisvermögen, sondern um einen Widerstreit. Ein solcher Widerstreit ergibt sich daraus, dass weder die Einbildungskraft darauf verzichtet, Vernunft unter die Bedingungen der Darstellung zu bringen, noch die Vernunft ihre Herrschaft über das Sinnliche aufgibt (vgl. ebd., S. 182).

Des Weiteren handelt es sich sowohl beim Geschmacksurteil als auch beim moralischen Urteil um eine Freiheit und Allgemeinheit. Analog zum reinen Geschmacksurteil, das sich als subjektiv-allgemeines Urteil völlig frei von materiellen Bestimmungen und erkenntnistheoretischen Ansprüchen artikuliert, sieht das moralische Urteil von jeglichen empirischen Bedingungen ab und kann deshalb verallgemeinert werden. Aufgrund dieser Analogie kann Kant zufolge das Schöne zum „Symbol des Sittlich-guten“ werden (ebd., S.

297), d. h. das Schöne als subjektiv-allgemeines Gefühl sei imstande, die sittliche Freiheit

indirekt darzustellen (ebd., S. 296). Diese indirekte Darstellung oder Symbolisierung des Sittlich-guten bedeutet jedoch noch keine Realisierung der Freiheit. Denn das Schöne bzw.

das Ästhetische steht im Grunde in strikter Abgrenzung zu Erkenntnis und praktischer Handlung und deshalb bleibt unklar, wie es in der Praxis wirken kann. Im Folgenden möchte ich zeigen, inwiefern Schiller eine ambivalente Position gegenüber Kants Verständnis von Freiheit und Schönheit entwickelt.