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Das Wechselspiel von ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung

6. Ästhetisches Verweilen in pädagogischer Perspektive

6.2 Erziehung und Bildung im Umgang mit dem Ästhetischen

6.2.2 Das Wechselspiel von ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung

Ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung als Zeitpraxen sind unterschiedlich, aber zugleich aufeinander bezogen. Das verbindende Ästhetische setzt sie in ein Wechselspiel:

Während ästhetische Erziehung auf die Ermöglichung von ästhetischer Bildung abzielt, gibt ästhetische Bildung Indizien dafür, wie sie angeregt werden kann. Im Folgenden werde ich eine allgemeine Bestimmung von ästhetischer Bildung (a) und ästhetischer Erziehung (b) vornehmen, welche in einem weiteren Schritt zur Analyse von konkreten Praxen des Verweilens dienen soll (vgl. Kapitel 6.3).

Ad (a). Ästhetische Bildung als Praxis des Verweilens. Obwohl das Ästhetische in der Erfahrung nicht einfach gegeben ist, ist die Möglichkeit der Erfahrung der Zeit als Verweilen durchaus sinnlich-leiblich gegeben. Davon zeugen eine leibliche und eine aisthetische Reflexivität (vgl. Kapitel 4.5). Man ist immer schon sinnlich-leiblich in der Welt verankert.

Mit dieser Verankerung ist eine leibliche Reflexivität in Welt- und Selbstverhältnissen gegeben. Durch Selbstwahrnehmung wird man sich dieser Welt- und Selbstverhältnisse bewusst. Diese Selbstwahrnehmung erscheint als eine aisthetische Reflexivität, die an die protoreflexive Struktur der sinnlich-leiblichen Wahrnehmung gebunden ist. Diese Struktur kann sowohl im Bereich der Außensinne (Exterozeption) – man denke z. B. an die taktile Selbstberührung oder die akustomotorische Selbstwahrnehmung der eigenen Stimme – als auch im Bereich körperinterner Prozesse (Interozeption) zustande kommen – man beachte z.

B. die Wahrnehmung von Muskelanspannungen oder den Hunger (vgl. Kapitel drei und vier).

Leibliche und aisthetische Reflexivität basieren im Grunde auf Bewegungen des Leibkörpers, die Welt- und Selbstverhältnisse schaffen. Von einer ästhetischen Reflexivität kann in diesem Zusammenhang noch nicht gesprochen werden. Denn erst wenn ein temporales

Distanzverhältnis zu diesen sinnlich-leiblichen Verhältnissen entsteht, können sich das Ästhetische in der Erfahrung und damit die ästhetische Reflexivität konstituieren.

In der Erfahrung der Zeit als Verweilen, die auf einem Bruch im linearen Zeitverhältnis basiert, kann man in ein temporales Distanzverhältnis zu schon existierenden Verhältnissen treten, wobei auch eine Distanz zur Zeit geschaffen wird, welche als ästhetische Freiheit bzw.

Freiheit in und für die Zeit erfahrbar werden kann. Gerade diese reflexive Struktur bezeichnet die ästhetische Reflexivität als Verhältnis zur Zeit, zu den Objekten und Situationen und zu sich selbst. In der Zeit des Verweilens wird eine imaginative Überschreitung des Sinnlich-Leiblichen möglich, die dieses jedoch weder auflöst noch völlig verlässt. Somit ist die ästhetische Reflexivität nicht mehr nur sinnlich-leiblicher Art. Im Verweilen werden vielmehr Sinnlich-Leibliches und Begriffliches und Symbolisches in ein Wechselspiel gesetzt, ohne dass Begriffe oder Symbole privilegiert werden (vgl. Kapitel vier). Indem man sich auf die Zeit, die Objekte und Situationen einlässt, in denen man verweilt, kann sich die ästhetische Bildungszeit konstituieren, und zwar als eine Zeit, die weder ausschließlich subjektiv noch objektiv fassbar ist.

An dieser Stellte möchte ich erneut einmal (vgl. Kapitel 4.5) meinen Ansatz zur ästhetischen Bildung von jenem von Dörpinghaus unterscheiden (vgl. Dörpinghaus, 2003, 2015, 2018), da beide Ansätze auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen.

Obwohl Dörpinghaus nicht von der Erfahrung des Verweilens, sondern von der Erfahrung der Verzögerung spricht, ist beiden Ansätzen gemeinsam, dass sie sich auf eine zeitlich-reflexive Struktur der Erfahrung beziehen. Zudem sind sowohl Praktiken der Verzögerung (vgl.

Dörpinghaus, 2018, S. 460ff.) als auch Praxen des Verweilens Praxen im Umgang mit der Zeit, durch die Bildungsprozesse ermöglicht werden können. Diese können eine Distanz zur sinnlich-leiblichen Wahrnehmung schaffen, ohne sie zu verlassen. Die „Bildungszeit“ (ebd., S. 460) ist bei Dörpinghaus eine Zeit, die es erst in und durch Praktiken der Verzögerung zu ermöglichen gilt – ähnlich wie die ästhetische Bildungszeit in dieser Arbeit. Diesbezüglich teile ich auch mit diesem Ansatz die Einsicht, dass Bildungszeit oftmals unter dem

„Gesichtspunkt ihrer Ausnutzung, nicht ihrer Ermöglichung thematisiert“ wird (ebd. S. 462).

Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem Ansatz des Verweilens und dem der Verzögerung grundlegende Unterschiede: Aus Dörpinghaus’ Perspektive ist die Möglichkeit der Verzögerung nicht sinnlich-leiblich gegeben, sondern in der Sprache als „Medium der Begriffe und der Reflexion“ fundiert (Dörpinghaus, 2015, S. 477). D. h. Dörpinghaus’ Ansatz basiert auf einem Begriff der Reflexion, der sich auf das Sprachliche beschränkt, wobei

sinnlich-leibliche reflexive Strukturen aus dem Blick geraten.137 Zwar leugnet Dörpinghaus die Bedeutung des Sinnlich-Leiblichen in der Erfahrung nicht (vgl. ebd., S. 470), spricht aber mit Wilhelm von Humboldt (2002) der Sprache die Exklusivität des Reflexiven zu. Aus diesem Grund, so meine Kritik, stößt er auf eine erste Schwierigkeit, den Eigensinn des Ästhetischen in der Erfahrung zu fassen. Er setzt vielmehr Aisthetisches (Wahrnehmung) mit Ästhetischem gleich, ohne die jeweiligen Reflexivitäten zu differenzieren. Das Ästhetische ist Dörpinghaus zufolge ein „Fundament“ (ebd., S. 474; Hervorhebung im Original) der Reflexion, an sich aber nicht reflexiv. Ich hingegen habe versucht deutlich zu machen, dass das Ästhetische zunächst nicht einfach gegeben ist und deshalb kein Fundament der Reflexion sein kann. Das Ästhetische, das sich erst in der Erfahrung der Zeit als Verweilen konstituieren kann, ist selbst reflexiv, indem es einem temporalen Distanzverhältnis zu diesen sinnlich-leiblichen Verhältnissen entspringt. Der Konstitutionsprozess des Ästhetischen im Verweilen impliziert gleichermaßen Momente von Passivität und Aktivität. In diesem Sinne stellt die Bestimmung der Verzögerung als „angestrengtes Tätigsein“ (Dörpinghaus, 2018, S. 458) eine weitere Schwierigkeit dar. Die einseitige Betonung der Aktivität in der Verzögerung lässt passive Momente in der Konstitution des Ästhetischen aus dem Blick geraten. Im Unterschied dazu wird im Verweilen immer von einer Passivität ausgegangen, die dem Tätigsein der Erfahrenden vorausgeht. Das Verweilen lässt sich auf kein Zutun des Subjektes zurückführen.

Im Verweilen geht es eben nicht darum, einen Moment oder eine Handlung zeitlich zu verschieben, sondern eher um eine Hingabe.

Bei Dörpinghaus bleibt weiterhin ungeklärt, ob das Ästhetische in der Erfahrung gegeben ist oder ob es sich erst in der Erfahrung konstituiert. Denn aufgrund der Gleichsetzung von Aisthetischem und Ästhetischem spricht er von einer allgemeinen „Wahrnehmungsebene“

(Dörpinghaus, 2015, S. 474), welche zugleich aisthetisch und ästhetisch wäre. Diese aisthetisch-ästhetische Ebene der Wahrnehmung sei die Ebene der ästhetischen Bildung als

„Bildung erster Ordnung“ (ebd., S. 472): eine Bildung, die als „Einführung in die

‚begriffliche Welt‘“ (ebd., S.473) fungiere. Ästhetische Bildung sei eine Propädeutik, eine Einführung in die „Bildung zweiter Ordnung“, die „die eigentliche begriffliche kritische Distanzleistung als tribunaler Bildungsprozess, der die Distanz zu den eigenen Vermögen einschließt.“ (ebd., S. 474; Hervorhebung im Original) Die Sprache ist daher nach Dörpinghaus nicht nur Medium der reflexiven Distanz, sondern auch Medium der Kritik. Die Bildung zweiter Ordnung ‚erhebt sich‘ also über die Ebene der Wahrnehmung, um eine

137 Um den klassischen Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft zu vermeiden, spricht Dörpinghaus von

„begriffliche[n] Fähigkeiten“, welche in der Wahrnehmung immer schon enthalten sind (Dörpinghaus, 2015, S.

472). D. h. die sinnlich-leibliche Wahrnehmung ist gewissermaßen schon ‚begrifflich‘.

„andere Ebene der Sicht“ (ebd., S. 474) zu ermöglichen. Auf diese Weise werden die sog.

„begriffliche[n] Fähigkeiten“ (ebd., S. 470), die in ästhetischen Bildungsprozessen erworben und ausdifferenziert werden, metaphorisch in Verbindung mit dem Sehsinn gebracht (vgl.

ebd.). Diese metaphorische Verbindung weist nicht zuletzt darauf hin, dass Dörpinghaus mit der alten Hierarchie und Einteilung von Fern- und Nahsinnen operiert, ohne dies transparent zu machen. Das Sehen als ‚Fernsinn‘ wäre imstande, Distanz zu schaffen (vgl. kritisch dazu Exkurs in Kapitel 4). Im Unterschied dazu versucht der Ansatz des Verweilens zu zeigen, dass Wahrnehmungs- und Erfahrungsvollzüge vielmehr eine intersensorische und synästhetische Struktur aufweisen. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass das Verhältnis von Nähe und Distanz sich auf Grundlage einer ‚bewegten Wahrnehmung‘

konstituiert (vgl. Straus, 1935/1956, S. 405f.). Während Dörpinghaus’ Ansatz das Sehen konventionell mit der Distanzleistung eines Fernsinnes verbindet, hebt das Sehen im phänomenologischen Sinne vielmehr die Dynamik von Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Phänomene hervor, was weder mit Hierarchisierung noch Einteilung der Sinnesorgane zu tun hat.138 Basierend auf dieser allgemeinen Bestimmung der ästhetischen Bildung möchte ich im Folgenden ästhetische Erziehung umreißen.

Ad (b). Ästhetische Erziehung als Praxis der Ermöglichung des Verweilens. Ich habe bereits angedeutet, dass die ästhetische Bildungszeit nicht einfach verfügbar ist. Sie muss erst ermöglicht werden. Praxen des Verweilens lassen sie entstehen. Dies wirft eine zentrale Frage der ästhetischen Erziehung auf: Wie können Praxen des Verweilens ermöglicht werden, damit ästhetische Erfahrungen als bildende Erfahrungen und Bildungsprozesse stattfinden können?

Ich spreche hier bewusst von ‚Ermöglichung‘, da die Praxen des Verweilens pädagogisch nicht kausal bewirkt werden können. Sie können höchstens pädagogisch angeregt werden.

Von ‚Vermittlung‘ oder ‚Weitergabe‘ soll hier nicht mehr die Rede sein, wie es noch bei dem Ansatz der ästhetisch-kulturellen Alphabetisierung der Fall ist (vgl. Kapitel 6.1.1). Die Intention dieser erzieherischen Praxen besteht darin, einen verweilenden Umgang mit Objekten zu ermöglichen, damit diese sich in ihrer Andersheit und Fremdheit als ästhetische Objekte zeigen können.

Paradoxerweise impliziert der verweilende Umgang mit Objekten einen gewissen Bruch in dem linearen und messbaren Zeitverhältnis, das jede erzieherische Praxis als planbare und an der Zukunft orientierte Maßnahme voraussetzt. Wie schon gesehen kann das Ästhetischwerden von Objekten in der Erfahrung der Zeit als Verweilen durch eine

138 Dazu Heidegger: „Das ‚Sehen‘ meint nicht nur nicht das Wahrnehmen mit den leiblichen Augen, sondern auch nicht das pure unsinnliche Vernehmen eines Vorhandenen in seiner Vorhandenheit. Für die existenziale Bedeutung von Sicht ist nur die Eigentümlichkeit des Sehens in Anspruch genommen, daß es das ihm zugängliche Seiende an ihm selbst unverdeckt begegnen läßt.“ (Heidegger, 2006, S. 147).

imaginative Überschreitung des Sinnlich-Leiblichen erfolgen, die in ein Wechselspiel von Aisthetischem und Ästhetischem mündet. Eine solche Überschreitung zeugt von der Überkreuzung von Zeitordnungen, in der die erzieherische Intention gebrochen wird. Das Ereignis des Verweilens unterbricht zeitweilig die Zukunftsorientierung erzieherischer Praxen und fordert gleichsam, die Aufmerksamkeit auf den Moment des Erfahrens selbst zu richten.

In diesem Sinne lassen sich erzieherische Praxen der Ermöglichung des Verweilens auch als Inszenierungen negativer Erfahrungen bestimmen, in denen Entzugsmomente und Momente von Nicht-Verfügbarkeit zustande kommen. Das Wort ‚negativ‘ hat im alltäglichen Sprachgebrauch zwar eine bestimmte Konnotation: etwa als Synonym für ‚ungünstig‘,

‚nachteilig‘ oder ‚nicht wünschenswert‘. Negativ ist etwas, das wir lieber meiden würden, weil es vielleicht mit Unangenehmen, Störendem oder Schmerzhaftem verbunden sein könnte (vgl. Benner, 2005, S. 7). Die Rede von ‚negativen Erfahrungen‘ nimmt diesen alltagssprachlichen Aspekt in den Blick, geht aber zugleich über ihn hinaus, indem sie auch die logische Dimension der Verneinung (Negation, Negativität) umfasst. Daher sind Negation und Negativität nicht einfach mit dem ‚Nichts‘ im philosophischen Sinne gleichzusetzen, sondern sie weisen immer auch auf „eine Verneinung, Infragestellung und Durchstreichung von etwas“ hin (Rödel, 2017, S. 122; Hervorhebung im Original).139

In Bezug auf die Bestimmung von erzieherischen Praxen der Ermöglichung des Verweilens als Inszenierungen negativer Erfahrungen könnte man also sagen, dass die ästhetische Bildungszeit im Verweilen möglich wird, wenn die Zeit der erzieherischen Intention in ihrer einseitigen Zukunftsorientierung momentan scheitert. Mit der Relationierung der phänomenologischen Differenz lassen sich diese Praxen institutionstheoretisch genauer gestalten, und zwar je nach pädagogischem Kontext (z. B. in der Schule). Dies betrifft zunächst die Auswahl von Objekten, die potenziell ästhetisch werden können und in der Inszenierung durch Erziehende bzw. Lehrende z. B. in Form von Aufgaben – im Fall unterrichtlicher Situationen – die Erfahrung des Verweilens anregen können. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass der Umgang mit diesen Objekten in der Schule mit und vor Anderen stattfinden kann.

Im nächsten Abschnitt werde ich mit Blick auf die Beispiele aus den Kapiteln drei und vier zeigen, wie ästhetische Bildung als Praxis des Verweilens und ästhetische Erziehung als Praxis der Ermöglichung des Verweilens konkret aussehen könnten.

139 Für eine genaue Beschreibung und Analyse negativer Erfahrungen im schulischen Kontext siehe die umfassende Arbeit von Rödel (2019).