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6. Ästhetisches Verweilen in pädagogischer Perspektive

6.2 Erziehung und Bildung im Umgang mit dem Ästhetischen

6.2.1 Differenztheoretische Relationen: Erziehung und Bildung

Im Folgenden werde ich Erziehung und Bildung als ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung differenztheoretisch spezifizieren. Damit sollen Differenzen als Relationierung des Verhältnisses von Aisthetischem und Ästhetischem (1), ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung als Zeitpraxen (2) und Lebenswelt und schulischer Welt (3) dargestellt werden.

(1) Ästhetische Differenz. Da das Ästhetische sinnlich-leiblich nicht einfach gegeben ist, ist seine Konstitution in der Erfahrung der Zeit als Verweilen zugleich die Konstitution einer Differenz im und zum Sinnlich-Leiblichen, nämlich der ästhetischen Differenz. In ihrer Angewiesenheit auf das Ästhetische in der Erfahrung werden ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung zu Zeitpraxen. Das Ästhetische fungiert sozusagen als ‚Bindeglied‘

zwischen diesen Praxen und ermöglicht deren Wechselspiel. Mit der Relationierung der ästhetischen Differenz kann es gelingen, dass der Eigensinn des Ästhetischen in der Erfahrung der Zeit als Verweilen nicht aus dem Blick der Analyse gerät.

(2) Pädagogische Differenz. Ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung als Zeitpraxen sind dadurch verbunden, dass sie auf das Ästhetische angewiesen sind. Dass sie als Zeitpraxen auf das Ästhetische angewiesen sind, bedeutet aber noch nicht, dass ihr Verhältnis

zum Ästhetischen identisch ist. Hier kommt die pädagogische Differenz insofern zur Geltung, als sie gerade den Unterschied dieses Verhältnisses zum Ästhetischen markiert. Wie sieht dieses Verhältnis bei ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung aus? Während es bei der ästhetischen Erziehung um eine Praxis der Ermöglichung des Verweilens geht, bezeichnet die ästhetische Bildung eine Praxis des Verweilens selbst. Die eine Praxis zielt auf eine Ermöglichung des Verweilens ab, die andere meint den Vollzug desselben. Mit der Relationierung der pädagogischen Differenz kann es gelingen, dass ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung als Zeitpraxen differenziert werden, ohne ihre Verbindung im Ästhetischen aufzulösen.

(3) Phänomenologische Differenz. Ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung sind nicht nur als Zeitpraxen zu unterscheiden. Sie müssen zugleich in Bezug auf den Kontext, in den sie eingebettet sind, genauer spezifiziert werden. Mit der phänomenologischen Differenz kann eine institutionstheoretische Relationierung möglich werden. Bei den Beispielen, die ich in den Kapiteln drei (musikalische Hörerfahrung) und vier (alimentäre Erfahrung) analysiert habe, geht es um einen bestimmten institutionellen Kontext: die (Ganztags-)Schule. In Kapitel eins habe ich schon darauf hingewiesen, dass die Institution Schule ein besonderer Ort ist, an dem lebensweltliche Erfahrungen thematisiert und durch Unterricht und pädagogische Praxis künstlich (inszenatorisch) und kunstvoll (didaktisch) überschritten und erweitert werden. In diesem Sinne ist die schulische Welt von der Lebenswelt von Kindern zu unterscheiden.133 Hier kommt die phänomenologische Differenz zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Wissen und Können zur Geltung.

Die Erfahrungen, die Kinder in ihrem alltäglichen, familiären und sozialen Leben machen, sind zwar der unentbehrliche ‚Boden‘, auf den schulisches bzw. institutionalisiertes Erziehen und Lehren, Lernen und Bildung bezogen bleiben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Schule dem Kind völlig anzupassen wäre. Dies macht Martinus Langeveld deutlich, wenn er behauptet, dass das Schulkind ein „intellektualisiertes Kind“ ist, das „in die Kulturarbeit eintritt“ (Langeveld, 1968, S. 104f.).134 In der Schule ist das Kind mit Situationen, Praxen und

133 Diesbezüglich kann die Feststellung, dass Kinder anders als Erwachsene sind, so verstanden werden: Kinder sind nicht Mängelwesen oder defizitär, sondern im Grunde ‚Fremde‘. Sie erfahren Zeit und Raum, Selbst- und Weltverhältnisse auf eine besondere Art und Weise (vgl. Meyer-Drawe & Waldenfels, 1988). Kinder können auch ohne pädagogische Unterstützung lernen, wobei dieses ‚Lernen‘ – und vielleicht auch Bildung – noch nicht bedeutet, dass sie erzogen werden (vgl. Prange, 2012, S. 59).

134 Mit dieser Beschreibung des Schulkindes weist Langeveld zugleich auf die Gefahr einer „Infantilisierung der Schule“ (vgl. Langeveld, 1968, S. 106) hin, die beispielhaft in dem reformpädagogischen Programm einer Pädagogik ‚vom Kinde aus‘ zum Ausdruck kommt. Damit ist prinzipiell eine Pädagogik gemeint, die auf die Verschmelzung von Lebenswelt und Schule zugunsten einer naiven Hingabe an Natur und Aktivität abzielt (vgl.

Buck, 2017). Eine solche Pädagogik verkennt die Eigenlogik der Schule und der damit verbundenen pädagogischen Praxis. Zudem ist sie nicht mehr imstande, zwischen schulischer Arbeit und Spiel zu differenzieren (vgl. Langeveld, 1968, S. 52).

kognitiv herausfordernden Inhalten konfrontiert, die es von seiner Lebenswelt distanzieren. Es ist eben diese Distanzierung, die nach Langeveld die ‚Intellektualisierung‘ als Aufgabe der Schule135 ausmacht: In der Schule wird die Welt zum Thema. Dies ist besonders relevant hinsichtlich des Umgangs mit Dingen bzw. Objekten, die üblicherweise als ‚ästhetisch‘

qualifiziert werden. Denn die Erfahrung des Verweilens ist meistens ein Verweilen bei konkreten Objekten der Lebenswelt, die ästhetisch werden können (vgl. Kapitel drei und vier).

Es ist m. E. nicht problematisch, dass nicht alle Objekte, mit und an denen man in lebensweltlichen Situationen ästhetische Erfahrungen machen kann, in der Schule Beachtung finden. Eine Auswahl von lebensweltlichen Objekten, die in der Schule als ‚Sache‘ oder

‚Lehrgut‘ behandelt werden (vgl. Langeveld, 1968, S. 105; Benner, 1999, S. 316;) ist notwendig, da es aus zeitlichen und organisatorischen Gründen unmöglich ist, alles zu thematisieren.136 Für problematisch halte ich hingegen den Umstand, dass gerade Objekte, mit und an denen man in lebensweltlichen und schulischen Situationen ästhetische Erfahrungen machen kann, unthematisch bleiben. Gebunden an diese Objekte sind Erfahrungen und Praxen, die ebenfalls unthematisch bleiben. Dies ist häufig der Fall bei Objekten der alimentären Erfahrung (Speis und Trank) und ihren jeweiligen Praxen (vor allem Essen und Trinken) im ganztagsschulischen Kontext (vgl. Kapitel vier). Grund dafür ist – wie ich in den Kapiteln eins und vier (Exkurs) gezeigt habe – die Tendenz zur Privilegierung von Kunstwerken. Die kritisierten Ansätze der Alphabetisierung und der Entdidaktisierung belegen insofern nicht nur die problematische Fixierung auf Kunstwerke, sondern zugleich auf die ‚Fernsinne‘ (Sehen und Hören) und damit auch auf tradierte Kunstformen und künstlerische Erfahrungen und Praxen (Musik, bildende Kunst, Dichtung, Theater usw.).

Während Kunstwerke und künstlerische Erfahrungen sowie Praxen in den Vordergrund rücken und ihnen eine bildungstheoretische und bildungspraktische Bedeutsamkeit beigemessen wird – nicht umsonst werden vor allem bildende Kunst und Musik als Bestandteil des Schulkanons anerkannt und institutionalisiert –, geraten andere ästhetische Objekte, Erfahrungen und Praxen nicht künstlerischer Art, die bildungstheoretisch und bildungspraktisch genauso relevant sein könnten, aus dem Blick.

Kurz: Es gibt aus Sicht der Aisthetik und Ästhetik keinen Grund dafür, Kunstwerke als ästhetische Objekte zu präferieren. Denn alle Objekte können potenziell ästhetisch werden.

Was immer ein Kunstwerk ist, interessiert hier nur insofern, als es sich als ästhetisches Objekt in der Erfahrung der Zeit als Verweilen konstituieren kann. Anders formuliert: Pädagogisch

135 Für eine weitere Bestimmung der Aufgaben der Schule siehe Brinkmann, 2017a.

136 Die Frage nach den Kriterien einer solchen Auswahl bzw. nach der Etablierung eines Schulkanons bleibt nach wie vor strittig.

bedeutsam sind sowohl künstlerische als auch nicht künstlerische Objekte, da sie ästhetische Bildung als Praxis des Verweilens ermöglichen können. In diesem Zusammenhang lässt sich der Aufforderungscharakter der Dinge bzw. Objekte als Aufforderung zum Verweilen bestimmen.

Basierend auf diesen drei Differenzen als Relationierung des Verhältnisses von Aisthetischem und Ästhetischem, ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung als Zeitpraxen und Lebenswelt und schulischer Welt möchte ich im Folgenden das Verhältnis von ästhetischer Erziehung als Praxis der Ermöglichung des Verweilens und ästhetischer Bildung als Praxis des Verweilens allgemein bestimmen.