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3. Dimensionen der Erfahrung am Beispiel musikalischer Hörerfahrung

3.4 Temporale Dimension

3.4.2 Die Zeit des ästhetischen Verweilens

Die musikalische Hörerfahrung beginnt also damit, dass die Melodie erklingt und dass sie als Melodie in der Zeit wahrgenommen wird. Das Hören von der Melodie als Melodie ändert sich qualitativ, wenn man im passiv-aktiven Aufmerksamkeitsgeschehen beim Zu-Hörenden zu verweilen beginnt. Das passive Moment im Verweilen zeigt sich zunächst darin, dass die Melodie als Melodie auffällt: Wenn die Schülerin ‚verloren‘ in der Zeit gleichsam nach innen schaut, dann könnte sich eine Aufmerksamkeit auf das Hören und seine Erfahrung selbst einstellen. Die Melodie und ihr Hörerlebnis steht für eine Weile im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wird ggf. dann auch in ihrer Dauer wahrgenommen. Dabei gibt die Schülerin sich dem Moment und seiner Weile hin, weil das sinnlich-leiblich Wahrgenommene sie ggf. anspricht, anrührt, fasziniert oder in Bann schlägt. Indizien dafür geben die entspannte Körperhaltung, ihr Blick und die rhythmischen Bewegungen des Wippens. So könnte man sagen, dass sich das Phänomen des Verweilens primär als Erfahrung einer Weile manifestiert (vgl. Brinkmann & Willatt, 2019). Die Weile des Ver-weilens bezeichnet eine subjektiv erlebte Zeit, eine „ungemessene Zeitspanne“, die sich von der gemessenen, objektiven Zeit unterscheidet (Grimm & Grimm, 1854/1999, Bd. 28, Sp. 791). In der Weile eröffnet sich ein Zeitraum, dessen unbestimmte Dauer erfahrbar wird. Die Zeit des Verweilens hebt sich aus der Zeit des Alltäglichen heraus, indem sie geschieht. Sie markiert einen gewissen Bruch im

objektiven, linearen und messbaren Zeitverhältnis. Ähnlich wie bei der Erfahrung der Langeweile entspringt die Weile des Verweilens aus der Zeitlichkeit des Daseins (vgl.

Heidegger, 2004). In der Erfahrung der Lange-weile wird auf radikale Weise das Vergehen der Zeit erfahren, die es paradoxerweise nicht zu vergehen scheint. Die Zeit vergeht gewissermaßen quälend langsam und stehend und zwingt die Erfahrenden dazu, sie zu

‚vertreiben‘. Im Unterschied dazu wird die Weile im Verweilen oftmals lust- und genussvoll erfahren, wobei die Zeit quasi unmerklich vergeht. Im Mittelpunkt der Erfahrung des Verweilens steht in erster Linie also nicht das Objekt, an dem und mit dem das Verweilen entsteht, sondern die subjektiv erlebte Zeit in ihrer unbestimmten Dauer.

Das aufmerksame und verweilende Hören von der Melodie kommt bei der Schülerin sinnlich-leiblich zum Ausdruck: Sie lässt sich von der Musik treiben. Sie wippt im Takt. Das

‚Wippen‘ als Ausdrucksformen der Verkörperung zeugen von einem aktiven Moment in der musikalischen Hörerfahrung, das auf der Passivität des Verweilens basiert. Man könnte sagen, dass die Schülerin aktiv auf den „Appell“ (vgl. Langeveld, 1968, S. 146; Meyer-Drawe, 1999, S. 332) der Melodie vor der Lehrerin und den Mitschülerinnen antwortet. Dabei wird die Zeit des Verweilens als ein gewisser Bruch im objektiven, linearen und messbaren Zeitverhältnis erfahren: Das verweilende Hören, das passiv geschieht, drängt auf körperliche Bewegungen, die auf den Appell der Melodie antworten und die sich der Zeit der Hörwahrnehmungsaufgabe entziehen. Das Geschehen des Verweilens bedeutet jedoch noch nicht, dass die die Zeit der Hörwahrnehmungsaufgabe außer Kraft gesetzt ist. Während die Schülerin hörend bei der Melodie verweilt, wird die für die Hörwahrnehmungsaufgabe veranschlagte Zeit nicht ausgesetzt: Diese geht erst zu Ende, wenn die ganze Melodie in ihren unterschiedlichen Tonhöhen und Variationen zu Ende gespielt wird. Die Zeit des Verweilens manifestiert sich vielmehr als Überkreuzung von Zeitordnungen. Die Zeit des Verweilens lässt sich als eine Art ‚Zwischen-Zeit‘ beschreiben, die weder ausschließlich subjektiv noch ausschließlich objektiv zu fassen ist.

Im verweilenden Hören kann zudem eine bestimmte Freiheit entstehen. Diese Freiheit, die wie die subjektiv erlebte Zeit weder sichtbar noch empirisch greifbar aber durchaus erfahrbar ist, lässt sich vorgreifend als ästhetische Freiheit bezeichnen, d. h. als eine Freiheit in der Zeit und für die Zeit. Diese Freiheit, die quasi durch den Bruch in der linearen Zeit der Hörwahrnehmungsaufgabe möglich wird, lässt das Verhältnis der Schülerin zur Zeit und zugleich zu Melodie als ästhetischem Objekt in der Unterrichtssituation erfahrbar werden.

An dieser Stelle möchte ich darauf aufmerksam machen, dass ich die Bezeichnung

‚ästhetisches Objekt‘ bewusst verwende, auch wenn sie auf den ersten Blick problematisch

erscheinen mag. Problematisch mag sie insofern erscheinen, als sie suggeriert, dass ein ästhetisches Objekt (z. B. die Melodie) als Anderes in der Wahrnehmung in ein Subjekt-Objekt-Verhältnis verstrickt ist, wobei es auf das reduziert wird, was das Subjekt im Umgang mit ihm erfährt. So würde man die Melodie nur als eine Sache behandeln, die aus sachlichen und bestimmbaren Eigenschaften besteht: Tonhöhen, Intervalle, Rhythmus. Die Bezeichnung

‚ästhetisches Objekt‘ meint hier aber vielmehr ein Objekt, das in seinem Ästhetischwerden in der Erfahrung der Zeit als Verweilen einen paradoxen Status aufweist. Denn es erscheint zum einen als ‚verfügbar‘ im praktischen Umgang. D. h. ein ästhetisches Objekt ist ein Objekt für ein Subjekt insofern, als es an Erfahrungen und Praxen des Verweilens in einem bestimmten sozialen und kulturellen Kontext gebunden ist. Die Schülerin ‚geht‘ mit der Melodie ‚um‘, indem sie die Melodie als Melodie hören und bei ihr verweilen kann. Dieser persönliche Umgang ist nicht solipsistisch, sondern immer schon sozial und kulturell bedingt. Die Tonalität (d-Moll) und die Rhythmik (2/2) der Melodie (vgl. Grafik 1) erweisen sich als grundlegende Elemente der klassischen Musik in der europäischen Tradition. Dazu kommt die Entwicklung der Notenschrift. Aufgrund ihrer Komplexität und Virtuosität gilt Bachs Musik als kanonisch und repräsentativ für die Musik des Barocks. Als Bestandteil der europäischen ‚Hochkultur‘ hat diese Musik eine bestimmte soziale Bedeutung und wird nach wie vor insbesondere in ‚kultivierten‘ Kreisen gehört. In diesem Sinne zielt die Hörwahrnehmungsaufgabe zunächst auf das Vertrautmachen mit dieser Musik ab und ermöglicht somit einen Zugang zu diesem ‚ästhetischen Objekt‘ im Modus der Alphabetisierung, d. h. als Einführung in die europäische (Hoch-)Kultur (vgl. Kapitel sechs).

Die Grundannahme ist dabei, dass die Melodie als ästhetisch-kulturelles Objekt an die nachwachsende Generation weitergegeben werden kann.

Zum anderen erscheint das ästhetische Objekt aber als ‚nicht-verfügbar‘. Es kann in keine Zeitordnung eindeutig eingeordnet werden. Die Melodie wird zwar in einem bestimmten sozialen und kulturellen Kontext (Schule) weitergegeben und dadurch zugleich als Notenschrift und ‚Zeitobjekt‘ zugänglich gemacht. Im Rahmen der Aufgabe kann die Lehrerin beim Klavierspielen bis zu einem gewissen Grad – und auf der entsprechenden musikalischen Tradition basierend – über das Wie der Entfaltung der Melodie entscheiden (z.

B. durch die Veränderung von Tempo und Dynamik). Im verweilenden Hören kann aber das Erscheinen der Melodie im Sinnlich-Leiblichen zeitweilig und imaginativ überschritten werden, d. h. die Melodie wird zum ästhetischen Objekt in einer imaginativen Überschreitung ihres Erscheinens im Medium des Sinnlich-Leiblichen, die das Verweilen erst ermöglicht.

Dabei zeigt sich die Melodie als nicht-verfügbares Objekt, als ein Objekt, das sich der

rationalen Verfügung im lust- und genussvollen Moment des Verweilens entzieht. Die Zeit der imaginativen Überschreitung im Verweilen überkreuzt die lineare Zeit, in der die Melodie sich entfaltet. Auf diesen Punkt werde ich im nächsten Kapitel (4.4) zurückkommen.