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Pragmatik in der Lateinischen Philologie: Forschungsüberblick

P RAKTISCHE H INWEISE

1.1 P RAGMATIK UND S PRECHAKTTHEORIE

1.1.3 Pragmatik in der Lateinischen Philologie: Forschungsüberblick

Je nach Betrachtungsweise divergieren die Meinungen darüber, wie groß die Anzahl pragma-tischer Arbeiten in der Klassischen Philologie tatsächlich ist449: Bei welchen Studien handelt es sich überhaupt um pragmatische Arbeiten? Bei welchen nur um Vorarbeiten? Welche sind zwar wichtig für den Bereich der Pragmatik, ihm aber nicht i. e. S. zuzuordnen? Wie sind Ar-beiten zu bewerten, die nur unbewusst oder zumindest recht unreflektiert, theoretisch bzw.

empirisch wenig fundiert oder nur sehr allgemein pragmatische Phänomene behandeln? Wel-cher Stellenwert kommt der Pragmatik in einer Untersuchung überhaupt zu? Ist sie entspre-chend nicht evtl. eher einer anderen wissenschaftlichen Disziplin zuzuordnen?450 Außerdem spielt es eine Rolle, auf welche Forschungsregion man sich bezieht. Der folgende – notwendi-gerweise unvollständige – Überblick soll einen ersten Eindruck von der Vielfalt und den Mög-lichkeiten dieses spannenden Forschungsfeldes vermitteln.451

449 Vgl. z. B. RICOTTILLI 2009, 123 (mit dem Schwerpunkt Italien): „[…] la bibliografia sulla pragmatica linguistica o

‚pragmalinguistica‘ applicata al latino è ormai estremamente ricca.“ und ebd., 134: „Esiste un ricco filone di studi in cui la linguistica pragmatica (e la linguistica del testo) viene applicata allo studio della lingua latina […].“ Vgl. a.

ALBRECHT 2003, 5. Dagegen z. B. ARWEILER 2010, 199f.: „Latinists engage in the study of sentences and the produc-tion of sentences about the sentences they have studied. They work on and with words, meaning, reference, predication, representation, and a whole lot of other notions regarding the use of words and symbols. Given this obsession, it is astonishing to note that the efforts of various disciplines in the 20th century to understand and to analyse language have left comparatively few traces in Latin scholarship. Especially in the different branches of philosophy of language, including speech act analysis, but also linguistics, logic and epistemology, people are studying what are at the same time objects of Latin scholarship and its means of communication.“ Vgl. a. FUHRER UND NELIS 2010, 1 und ebd., 6.

450 Vgl. z. B. RICOTTILLI 2009, 134: „[…] va rilevato che negli studi latini in cui viene applicata la considerazione pragmatica non di rado è difficile distinguere in modo netto fra ambito linguistico, ed analisi letteraria e stilistica del testo.”

451 Vgl. a. die Übersichten in ebd. (bes. ebd., 135ff.) und QUETGLAS 2005 (bes. ebd., 581ff.) sowie (zu Höflichkeits-studien) in UNCETA GÓMEZ 2014a; UNCETA GÓMEZ 2018 und auf der Internetseite https://www.historicalpoliteness.net/bibliography/index.html (zuletzt geprüft am 12.11.2020). Vgl. außerdem

78 1.1.3.1 Ältere (Vor-)Arbeiten

Bereits lange vor Entstehung der modernen Pragmatik gab es handlungsorientierte Reflexio-nen und Zugangsweisen zu sprachlichen Äußerungen, wie bereits an anderer Stelle mit Bezug auf das klassische Altertum deutlich geworden ist. Solche finden sich auch in der älteren Phi-lologie bzw. Linguistik der Neuzeit.452 In Kommentaren zu antiken Texten, die aktuellen Lesern irgendwie erklärt werden mussten, v. a. aber in (grammatischen) Arbeiten zu Sprache und Stil wird – obschon unbewusst – z. T. eine pragmatische Sichtweise eingenommen. Sogar gewisse Ähnlichkeiten zu Konzepten wie ‚Präsupposition‘ und ‚indirekter Sprechakt‘ begegnen einem (z. B. in Hofmanns Werk zur lateinischen Umgangssprache).453 Häufig werden pragmatische Phänomene im Zusammenhang mit Stilistik, Syntax (v. a. Satzarten) und Deixis in den Blick genommen, dabei mitunter als eine Art Agrammatikalität oder Inkorrektheit angeführt (z. B.

bei Hofmann und in Kühner-Stegmanns Satzlehre).454 Einer Arbeit wie bspw. MILLER 1914 („Ro-man etiquette of the late Republic as revealed by the correspondence of Cicero“), in der Höf-lichkeitsaspekte und die (bewusste und unbewusste) Berücksichtigung sozialer Faktoren (wie Alter, Beruf, Rang usw.) durch die römischen Briefeschreiber thematisiert werden, liegen letzt-lich ebenfalls pragmatische und soziolinguistische Erkenntnisse zugrunde.455

Kap. 1.2.2.3.2, wo einige Arbeiten zu Ciceros Briefen genannt werden, die auch pragmatische Aspekte berücksichtigen.

452 Vgl. z. B. RICOTTILLI 2009, 122: „Possiamo individuare anche nei contributi relativi alla lingua ed alla letteratura latina studiosi che operavano con strumenti tipicamente pragmatici prima ancora che apparissero teorizzazioni sulla pragmatica linguistica: del resto, la stessa retorica antica aveva un’impostazione che oggi potremmo defi-nire pragmatica.“ Vgl. a. (in allgemeinerer Sichtweise) CHERUBIM 1980, 12 (mit Bezug auf WUNDERLICH 1970): „In einem Aufsatz von 1970 hat D. Wunderlich zu Recht darauf hingewiesen, daß außer in der Stilistik und in der Rhetorik auch in der historischen Sprachwissenschaft immer schon pragmatische Perspektiven verfolgt wurden […].“ Vgl. außerdem das Kap. „Antike“ (ab S. 11).

453 Vgl. z. B. RICOTTILLI 2009, 133 (mit Bezug auf die Erstausgabe 1926 von HOFMANN 1978): „[…] già orientata in ottica pragmatica è l’attenzione di Hofmann alle ‚comunanza di presupposti‘ fra parlante e ascoltatore (che non sembra molto lontana dal moderno concetto di ‚presupposizioni‘), nonché l’importanza che egli conferisce, nell’interazione fra parlante e ascoltatore, alla necessità da parte del primo di influire sul secondo (ad es. di persuaderlo a fare qualcosa: si veda a questo riguardo l’analisi delle forme di persuasione e dei performativi come quaeso, oro, rogo, obsecro §§ 113-125), e l’attenzione agli atti linguistici indiretti (come le frasi esclamative e interrogative in funzione di un’affermazione – §§ 65-66 –, le frasi interrogative in funzione di un comando – § 67 –, le frasi imperative in sostituzione di proibizioni – § 68); in questo ambito H. sembra anticipare anche le trattazioni di Austin e di J. R. Searle sugli atti linguistici.“

454 Vgl. z. B. QUETGLAS 2005, 575ff. Vgl. a. RISSELADA 1993, 24: „It is interesting to note that most linguists, in de-scribing such properties [= expressive properties of utterances or certain properties of non-declarative sen-tences], make use of notions that belong to an action perspective, even if they are not explicitly committed to such a perspective. If we take as a random example Kühner-Stegmann's characterization of the imperative mood in Latin, we can find that they repeatedly refer to elements that relate to the performance of a speech act: ‚Der Imperativ ist der Modus des unmittelbar ausgesprochenen Willens oder Gewollten, der als Befehl an eine Person gerichtet wird.‘ (I, 195) Thus unmittelbar ausgesprochenen refers to the way in which the speech act is actually performed, des (…) Willens oder Gewollten refers to the intentions of the speaker, der (…) an eine Person gerich-tet wird involves the addressee, and als Befehl is a speech act label.“ Vgl. außerdem PINKSTER 1996, 247, der von einem nur begrenzten Interesse an pragmatischen Phänomenen in den älteren lateinischen Grammatiken spricht und dazu bemerkt: „[…] ces phénomènes sont souvent présentés comme des écarts (incorrects) de l’expression correcte, en somme, au même titre que des agrammaticalités.“ Er veranschaulicht seine Aussage anhand von Beispielen aus KÜHNER UND STEGMANN 1966 (§ 118) und HOFMANN 1978 (in der Ausgabe von 1951).

455 Vgl. UNCETA GÓMEZ 2014a, 9.

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1.1.3.2 Fachdidaktik: Schullektüre und Schul- bzw. Studiengrammatiken

In die (deutsche) fachdidaktische Literatur bzw. Schullektüre finden pragmatische und sprech-akttheoretische Überlegungen bislang nur vereinzelt Eingang. So regt KUHLMANN 2014b in sei-ner Schulausgabe „Römische Briefliteratur – Plinius und Cicero“ zu eisei-ner Interpretation kom-munikativer Äußerungen durch Zuordnung zu verschiedenen Funktionstypen an.456 Deutliche-ren Einfluss hat hingegen eine eher strukturell ausgerichtete Textlinguistik ausgeübt, wie sich in der ausführlichen Theoretisierung und, wie es scheint, erfolgreichen Anwendung entspre-chender Methoden zur Texterschließung im Lateinunterricht zeigt. Gelegentlich sind aber auch hier stärker funktionale Herangehensweisen anzutreffen, wie z. B. bei HÖHN 1979, die u. a. Textfunktionen und Illokutionspotenziale von den Schülern analysieren lassen will.457 Ähnlich sieht die Situation bei den Schul- und Studiengrammatiken aus. Zwar gibt es mit „In-terpretatio – Neue Lateinische Textgrammatik“ von GLÜCKLICH U. A.1980 ein frühes Beispiel für eine Grammatik, die konsequent und in großem Umfang die Text- und dabei explizit auch die pragmatische Ebene mit einbezieht. Sie stellt mit ihrem Konzept allerdings eine Ausnahmeer-scheinung dar, obgleich Stefan Kipf zur neueren Entwicklung meint: „Insgesamt ist die Text-grammatik ein gängiger Teil altsprachlicher SchulText-grammatiken geworden.“458 Das Ausmaß der Berücksichtigung textgrammatischer und insbesondere funktionaler bzw. pragmatischer As-pekte ist tatsächlich aber immer noch oft recht begrenzt, und sie ist eher in Grammatiken aus dem nicht-deutschsprachigen Raum festzustellen, die dann in ihrer übersetzten Version wei-tere Verbreitung auch hier finden. In der (urspr. in Frankreich erschienenen) „Lateinischen

456 Vgl. a. den zugehörigen Erwartungshorizont in KUHLMANN 2014a, 62 bzw. ebd., 65.

457 NICKEL 2014, 2 hält die Anwendung moderner Textanalyseverfahren im Lateinunterricht für mittlerweile üb-lich. Vgl. a. TOURATIER 2013, 14. Im „Altsprachlichen Unterricht“ und verschiedenen Sammelbänden sind zu die-sem Thema zahlreiche Aufsätze erschienen, wie z. B. „Lineares Dekodieren, Textlinguistik und typisch lateinische Satzelemente“ (GLÜCKLICH 1976), „Zur Anwendung textlinguistischer Verfahren im Lateinunterricht der Sekundar-stufe II“ (HÖHN 1979), „Latein und Textlinguistik“ (CONTI UND PROVERBIO 1990) und „Interpretieren heißt Verknüp-fen“ (NICKEL 2014). Die praktische Anwendbarkeit auf konkrete Textbeispiele wurde z. B. demonstriert in „Text-wissenschaftliche Aspekte der unterrichtlichen Behandlung von Plinius ep. X 96 und 97“ (TÖCHTERLE 1980) und

„‚Ovids ‚Weltalter‘ – Eine textlinguistische Interpretation“ (TÖCHTERLE 1985). Vgl. außerdem neuere Fachdidakti-ken wie z. B. KEIP UND DOEPNER 2014 (bes. ebd., 81ff. zu „Übersetzung und Texterschließung“). Der Nutzen textlin-guistischer Methoden für den Lateinunterricht wurde früh erkannt, wenn auch bisweilen etwas skeptisch beur-teilt. Vgl. z. B. TÖCHTERLE 1985, 4: „Der große Tübinger Sprachwissenschaftler E. Coșeriu stellt in seiner Einführung zur Textlinguistik fest, daß sie in der einen Weise Interpretation im guten alten Sinn, in der anderen eigentlich nur Ausweitung grammatikalischer Beschreibung über die Satzgrenze hinaus sei. Dies mag den Altphilologen trösten, der beim Betrachten der Publikationsflut zur Textwissenschaft sich vielleicht die bange Frage stellt, ob er sein Geschäft bisher nur sehr unzulänglich, auf einem ungenügenden theoretischen Fundament betrieben habe. In der Tat hat die Altphilologie sowohl in der wissenschaftlichen Beschreibung ihrer Sprachen ganz allge-mein und speziell in textrelevanten Disziplinen wie Rhetorik und Stilistik, als auch in der schulischen Überset-zungsarbeit viele Verfahrensweisen der Textlinguistik bereits vorweggenommen. Zur verstärkten und bewußten Hereinnahme textexterner Gesichtspunkte in die Texterklärung war der Lehrer der alten Sprachen schon durch die Distanz von antiker und moderner Welt gezwungen, die Beachtung mancher transphrastischer Phänomene wurde durch die Schwierigkeit der antiken Sprache gefordert und durch das langsame Lesetempo, als deren Folge, ermöglicht. Dennoch läßt sich die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts zurecht anregen von neuen Ergebnissen der Textlinguistik, die sich außerhalb unserer altphilologischen Disziplin entwickelt hat, und baut einiges von ihren teilweise doch neuen Methoden in die Unterrichtsarbeit ein.“ Vgl. a. BLÄNSDORF 2007, 106.

458 TOURATIER 2013, 14. Insgesamt kommt er aber zu dem Schluss: „Gleichwohl kann nicht die Rede davon sein, dass die altsprachliche Grammatik konzeptionell grundsätzlich geändert wurde: Man kann wohl am ehesten von einer strukturalistischen Anreicherung eines nach wie vor diachron ausgerichteten Systems sprechen.“ (ebd., 14).

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Grammatik“ von TOURATIER 2013 (Untertitel „Linguistische Einführung in die lateinische Spra-che) wird z. B. im Zusammenhang mit der Syntax das Thema-Rhema-Konzept angewendet. In der (urspr. in den Niederlanden erschienenen) „Lateinischen Grammatik“ von PANHUIS 2015 gibt es sogar ein eigenes Kapitel zur „Textlinguistik“, in dem ebenfalls das Thema-Rhema-Kon-zept Anwendung findet, aber auch der „Text im Kontext“unter Einbeziehung des „Sprechakts“

und die „Funktionen im Text“ behandelt werden.459 Außerdem werden die „kommunikative Perspektive“ im Zusammenhang mit der Wortstellung und „die emotive und die spezielle Wortstellung“ thematisiert.460 Die Neubearbeitung von Menges „Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik“ durch BURKARD UND SCHAUER 2012 wiederum wird ihrem Anspruch, mo-derne linguistische Erkenntnisse zu berücksichtigen, nur eingeschränkt gerecht, insbesondere was die Pragmatik betrifft.461

1.1.3.3 Wissenschaftliche Forschung

Bereits in den 1970er Jahren versuchte Heinz Happ (z. B. HAPP 1976: „Grundfragen einer De-pendenz-Grammatik des Lateinischen“), die Valenz- und Dependenzgrammatik in systemati-scher Weise für die deutsche Latinistik fruchtbar zu machen. Gleichwohl hat die moderne Lin-guistik in der Wissenschaft des deutschsprachigen Raums bis heute einen schweren Stand.462 Entsprechende Forschungsimpulse kommen eher aus dem Ausland. Sie entspringen v. a. dem

„Internationalen Kolloquium zur Lateinischen Linguistik“ (ICLL), das zum ersten Mal 1981 in Amsterdam stattfand und seither im zweijährlichen Wechsel in verschiedenen Städten orga-nisiert wird, und dem von Gualtiero Calboli und Pierluigi Cuzzolin herausgegebenen „Journal

459 PANHUIS 2015, 239ff. bzw. ebd., 243f. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Begriffe ‚Sprechakt‘ und

‚Funktion im Text‘ hier in einem weiteren Sinne gebraucht werden als in der vorliegenden Arbeit.

460 Ebd., 245ff.

461 Vgl. z. B. BURKARD UND SCHAUER 2012, XVII: „Diese Orientierung an neueren Forschungsansätzen (die inzwischen gar nicht mehr so neu sind) ist keine Verneigung vor einer Mode, sondern entspringt der Überzeugung, dass mithilfe neuerer Tendenzen der Sprachwissenschaft die lateinische Grammatik einfacher und adäquater zu be-schreiben und zu erklären ist. Dadurch wird der Entwicklung in der Linguistik (auch der alten Sprachen) Rechnung getragen und eine Brücke zu den Neuphilologien geschlagen, wo die betreffende Begrifflichkeit längst auch außerhalb der sprachwissenschaftlichen Disziplinen bekannt ist.“ Dagegen HEBERLEIN 2001, 155 (zur Erstausgabe 2000): „Insgesamt ergibt sich nicht der Eindruck, daß der neue Menge mit seinem Anspruch, eine moderne wis-senschaftliche Grammatik zu sein, gegen die existierenden (Touratier) und im Erscheinen begriffenen (Pinkster, Reference Grammar) modernen Grammatiken synchroner Ausrichtung einen leichten Stand haben wird. Sein künftiger Platz in der grammatischen Literatur dürfte vielmehr der traditionelle bleiben: Er ist das modernste Glied in der Traditionskette der ‚stilistischen Grammatik‘ und damit das umfassendste Referenzwerk für alle Fra-gen der deutsch-lateinischen Übersetzung.“

462 Vgl. a. HAPP 1976, 333ff. zu Vorarbeiten z. B. von Dressler, Pape-Zifonun, Pinkster, Schmitt-Brandt, Barié, und Zielinski. HOFFMANN 2018 nennt außerdem Anton Scherers „Handbuch der lateinischen Syntax“ (SCHERER 1975),

„das zwar einen traditionellen Rahmen wahrte, aber erstmals im deutschsprachigen Raum neuere Theorien in größeren Umfang einbezog“ (HOFFMANN 2018, 16), u. a. „sogar ein Kapitel zur Textsyntax“ (ebd., 16) enthält. Er bezeichnet die Arbeit insgesamt als „konzeptionell eher eine Mischsyntax, die versucht, Altes mit Neuem zu ver-binden“ (ebd., 16f.), kommt allerdings immerhin zu dem Schluss: „[…] das Verdienst dieses Buches [liegt] darin, dass hier, kurz vor dem Erscheinen von Happs ‚Grundfragen‘ (1976) zum ersten Mal innerhalb der lateinischen Grammatik die Tesnièrsche Valenztheorie zum Angelpunkt der Syntax gemacht wurde.“ (ebd., 17). Vgl. a. N. 482.

Darüber hinaus weist Hoffmann auf noch frühere Studien (zur generativen Grammatik) außerhalb Deutschlands hin, nämlich LAKOFF 1968 und CALBOLI 1972.

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of Latin Linguistics“ (JOLL, vorher: „Papers on Grammar“).463 Das ICLL wurde von Harm Pinks-ter initiiert, einem der HauptvertrePinks-ter der sog. AmsPinks-terdamer Latinistenschule, die insbeson-dere funktionale Ansätze (in der Tradition Simon C. Diks) verfolgt und zu der u. a. noch Alide Machtelt Bolkestein, Caroline Kroon und Rodie Risselada gehören. In ihren Arbeiten kommt ebenso wie in den Beiträgen zum ICLL und zum JOLL pragmatischen Themen ein großer Stel-lenwert zu. Auffällig dabei ist jedoch, dass deutsche Wissenschaftler in den betreffenden Gre-mien kaum vertreten sind und auch sonst offensichtlich nur recht wenige Studien zur Linguis-tik allgemein und zur PragmaLinguis-tik im Besonderen aus dem deutschsprachigen Raum stam-men.464 Die überwiegende Mehrzahl der Arbeiten ist in den Niederlanden, den anglophonen und romanischen Ländern entstanden, wobei einzelne Autoren häufig in verschiedenen Spra-chen publizieren, besonders natürlich auf Englisch.

Bei den meisten Arbeiten aus dem Bereich der historischen Pragmatik handelt es sich eher um Resümees und empirische Erprobungen des Bisherigen. Viele weisen zwar durchaus einen ho-hen Grad an theoretischer Reflexion auf, eigene theoretische Ansätze (wie z. B. in HALL 2009) werden aber nur selten entwickelt.465 Die Sprechakttheorie findet ihren Niederschlag v. a. in Höflichkeitsstudien, welche sich zu einem bedeutsamen Schwerpunkt der historischen Prag-matik innerhalb der Klassischen Philologie entwickelt haben.466 In dem kürzlich erschienenen Sammelband DENIZOT UND SPEVAK 2017a („Pragmatic approaches to Latin and Ancient Greek“) sind sprechakttheoretische Untersuchungen und Höflichkeitsstudien folgerichtig zusammen-gefasst467, wobei allerdings zu bemerken ist, dass die Sprechakttheorie mehr als die Analyse von Höflichkeitsaspekten umfasst, ebenso wie die Höflichkeitsforschung nicht nur Sprech-aktanalysen beinhaltet. Weitere Schwerpunkte sind der Einfluss pragmatischer Faktoren auf die Wortstellung und die pragmatische Strukturierung von Texten. Demgemäß ist dieses Ka-pitel nachfolgend in vier Teilabschnitte gegliedert:

463 Vgl. HOFFMANN 2018, 12ff., der außerdem den seit 1985 stattfindenden Kongress zum Spät- und Vulgärlatein („Latin vulgaire – latin tardif“) anführt.

464 Vgl. z. B. ebd., 14 zum JOLL: „Dass in den beiden 19 Personen umfassenden [die beiden Herausgeber aus Bologna und Bergamo unterstützenden internationalen] Gremien keine einzige Person aus Deutschland ist, ist wohl ein anderes Thema, das eine längere Vorgeschichte hat und hier nicht vertieft werden sollte.“ Vgl. a. S. 3f.

Außerhalb der Klassischen Philologie sieht die Situation z. T. anders aus. Interessanterweise hat z. B. die Sprech-akttheorie in der deutschen Theologie recht früh größere Beachtung gefunden. Vgl. z. B. (zum Alten Testament) WAGNER 1997 sowie (zum Neuen Testament) BICKMANN 1998 und KLEINE 2002.

465 Vgl. a. DENIZOT UND SPEVAK 2017b, 1, die auf HERRING U. A.2001b (Ausgabe 2000) verweisen. In der historischen Pragmatik hat es allgemein eine gewisse Zeit bis zum Entstehen umfassenderer Theoretisierungen (vgl. v. a. die Arbeiten von Jucker) gedauert. Die Notwendigkeit historischer Analysen im Bereich der Pragmatik wurde zwar schon recht früh erkannt; es fanden sich allerdings nur wenige weitergehende theoretische Beiträge (v. a. in der Romanistik und Germanistik, aber auch der Geschichtswissenschaft), die zudem recht allgemein und insgesamt unzureichend blieben: Vgl. z. B. PRESCH 1981, 222ff. und JACOBS UND JUCKER 1995, 3ff., wo (neben PRESCH 1981) u.

a. (die Erstausgabe 1975 von) SCHLIEBEN-LANGE 1979; SCHLIEBEN-LANGE 1983; WUNDERLICH 1976 und CHERUBIM 1980 genannt werden. Vgl. außerdem SCHLIEBEN-LANGE 1976 und SCHLIEBEN-LANGE U. A.1979 sowie LANGEHEINE 1983b, 204f., der betont, wie wichtig der „Einbezug der historischen Dimension“ bei einer pragmatisch orientierten Briefanalyse“ sei. Zu empirischen Studien im Bereich der historischen Pragmatik vgl. z. B. RÜTTEN 2011, 13f.

466 Vgl. z. B. ARCHER 2010, 402, der (u. a.) „the utilisation of (im)politeness approaches” als „a recent trend among speech-act analysts“ bezeichnet und dazu bemerkt: „That speech acts and facework should overlap is not sur-prising, of course, given speech acts primarily help us to ‚do‘ things with language and when we ‚do‘ those things we impact upon our interlocutors‘ and/or our own actions or environment in some way.“ Vgl. a. Kap. 1.1.3.3.4.

467 Der Band ist in drei Teile unterteilt: „Speech acts“ (einschl. Höflichkeit und Pragmatikalisierung), „New insights into word order“ und „Pragmatic interfaces“ (zur Funktion verschiedener Arten von Partikeln).

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• Wortstellung (Kap. 1.1.3.3.1)

• Textstrukturierung (Kap. 1.1.3.3.2)

• Sprechakte und Sprechaktsequenzen (Kap.1.1.3.3.3)

• Höflichkeitsaspekte (Kap. 1.1.3.3.4).

Mit dieser Einteilung lassen sich m. E. die zugehörigen Arbeiten am übersichtlichsten zusam-menstellen, obwohl klar ist, dass sich die vier Themen in vielerlei Hinsicht überschneiden und die Zuordnungen nur nach den angenommenen Schwerpunkten erfolgen können. Die Wort-stellung ist bspw. auch ein Mittel der Textstrukturierung, Sprechaktsequenzen können quasi als das Ergebnis der Textstrukturierung betrachtet werden. Modalität, Abmilderung und Ver-stärkung wiederum, die unter Kap. 1.1.3.3.4 subsumiert werden, sind eng mit einzelnen Sprechakten verbunden und nicht unbedingt durch Höflichkeitserwägungen beeinflusst.

Zu ergänzen sind noch weitere Themen(aspekte), welche in Zusammenhang mit Pragmatik und Höflichkeitsforschung stehen (können) und die von dieser Systematik nur unzureichend erfasst werden. Dazu gehört u. a. der Einfluss sozialer Faktoren auf die sprachliche Ausgestal-tung lateinischer Texte, der bspw. in ADAMS 1984 („Female speech in Latin comedy“) und ADAMS 2013 („Social variation and the Latin language“), FÖGEN 2001 („Spracheinstellungen und Sprachnormbewußtsein bei Cicero“) und BIVILLE 2014 („Lettres de soldats romains“) themati-siert wird.468 Mit ‚Emotionalität bzw. Selbstausdruck und Selbstdarstellung‘ kann ein weiteres, in jüngerer Zeit florierendes Themengebiet umrissen werden, zu dem u. a. einige umfangrei-chere Arbeiten über Ciceros Briefe erschienen sind, die pragmatischen Betrachtungen einen mehr oder minder großen Platz einräumen.469 Teilweise stehen dabei ebenfalls soziolinguisti-sche Aspekte mit im Fokus, wie z. B. inLACOURSE MUNTEANU 2011a („Emotion, genre and gender in classical antiquity“), die darüber hinaus die Textsortenspezifität von Emotionalität unter-sucht.470

Die genannten Inhaltsbereiche sind also nur schwer voneinander zu trennen und werden ent-sprechend auch in vielen anderen Arbeiten miteinander verbunden, wie z. B. in HALLA-AHO

2009 („The non-literacy Latin letters – A study of their syntax and pragmatics“), die einen übergreifenden syntaktisch-pragmatischen Ansatz verfolgt, der u. a. eine Analyse von Wort-stellung, Textkohärenz und Textsorte umfasst, und BARRIOS-LECH 2016 („Linguistic interaction in Roman comedy“), der die Direktiva und die Rituale bei Eröffnung, Unterbrechung und Be-endigung von Gesprächen in der römischen Komödie untersucht und dabei auch Höflichkeits-aspekte und soziale Faktoren berücksichtigt. Erwähnt werden sollten außerdem oder vielmehr ganz besonders einige allgemeinere Werke zur lateinischen Sprache und Grammatik wie auch speziell zur Syntax, z. B. KIENPOINTNER 2010 („Latein-Deutsch kontrastiv – Vom Phonem zum Text“) und ONIGA UND SCHIFANO 2014 („Latin – A linguistic introduction) bzw. BAÑOS BAÑOS 2009 („Sintaxis del latín clásico“) und v. a. die Arbeiten von Pinkster, in denen

pragmatisch-468 Vgl. a. die in Kap. 1.1.3.1 erwähnte Studie von Anna Bertha Miller (MILLER 1914).

469 Vgl. Kap. 1.2.2.3.2. Vgl. a. NEVALA 2010, 419 undLACOURSE MUNTEANU 2011b, 1: „Studies of ancient emotions have flourished in recent years. In these, expressions of emotion in literature have been seen as reflections of social interactions and values.“

470 Vgl. ebd., 1, wo als Untersuchungsthemen „connections between genres and emotions“ und „gender-based peculiarities of emotions“ genannt werden.

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funktionalen Aspekten ausgiebig Raum gewährt wird, wie z. B. PINKSTER 1988 („Lateinische Syntax und Semantik“) und das aktuellere umfassende Grundlagenwerk „The Oxford Latin syntax“ (PINKSTER 2015 = OLS), das Kühner-Stegmanns Satzlehre (mit einem anderen Konzept) ersetzen soll, von dem bislang aber nur der erste Band („The simple clause“) erschienen ist, der zweite allerdings kurz vor der Fertigstellung steht.471

Arbeiten wie z. B. LAIRD 1999 („Powers of expression, expressions of power – Speech presen-tation and Latin literature“) und die Aufsätze im Sammelband von FUHRER UND NELIS 2010

Arbeiten wie z. B. LAIRD 1999 („Powers of expression, expressions of power – Speech presen-tation and Latin literature“) und die Aufsätze im Sammelband von FUHRER UND NELIS 2010