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Grundzüge der Sprechakttheorie und Textpragmatik

P RAKTISCHE H INWEISE

1.1 P RAGMATIK UND S PRECHAKTTHEORIE

1.1.1 Grundzüge der Sprechakttheorie und Textpragmatik

1 Grundlegung

1.1 P

RAGMATIK UND

S

PRECHAKTTHEORIE

1.1.1 Grundzüge der Sprechakttheorie und Textpragmatik

Die Sprechakttheorie wurde von verschiedensten Seiten vielfältig beeinflusst, und seit ihrer Entstehung haben sich sehr unterschiedliche Ansätze und Strömungen entwickelt. Hier wird davon lediglich ein kleiner Ausschnitt dargestellt, und selbst dies nur in stark komprimierter Form mit Fokus auf den für die vorliegende Untersuchung besonders interessanten und wich-tigen Aspekten.41

1.1.1.1 Vorläufer der Sprechakttheorie?

1.1.1.1.1 Antike

Die Rhetorik kann zwar nicht als Vorläufer der Sprechakttheorie i. e. S. gelten, da diese sich nicht direkt aus ihr heraus entwickelt hat. Trotzdem findet man in der antiken Rhetorik und auch in der antiken Sprachphilosophie bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der modernen Pragmatik.

So wurden tatsächlich bereits ‚Sprechakte‘ als besonderes Phänomen wahrgenommen. Lt.

Diogenes Laertius (DIOG.LAERT. 9.8.53-54) soll schon Protagoras vier Formen des Logos unter-schieden haben: εὐχωλής ‚Wunsch‘, ἐρώτησις ‚Frage‘, ἀπόκρισις ‚Antwort‘, ἐντολή ‚Befehl‘.

Diese Liste sei von späteren Sophisten um weitere Formen wie διήγησις ‚Erzählung‘, ἀπαγγελία ‚Nachricht‘ und κλῆσις ‚Aufruf‘ ergänzt worden. Aristoteles (int. 17.a.1-7) differen-ziert zwischen Äußerungen mit und ohne Wahrheitswert (λόγος ἀποφαντικός ‚Urteil‘ vs. z. B.

εὐχή ‚Bitte‘). An einer anderen Stelle (poet. 1456.b.8-19) benennt er im Einzelnen Ausdrucks-arten (σχήματα τῆς λέξεως) wie ἐντολή ‚Befehl‘, εὐχή ‚Bitte‘, διήγησις ‚Bericht‘, ἀπειλή ‚Dro-hung‘, ἐρώτησις ‚Frage‘ und ἀπόκρισις ‚Antwort‘. In der Aussagenlogik der Stoiker42 werden u. a. folgende (vollständige) Lekta aufgezählt: ἀξιώματα ‚Aussagen‘, συλλογισμοί ‚Syllogis-men‘, ἐρωτήματα καὶ πύσματα ‚Entscheidungs- und Bestimmungsfragen‘, προστακτικά ‚Auf-forderungen‘, ὁρκικά ‚Eide‘.43

In der Rhetorik trifft man auf eine Vielzahl von modi des Sprechens, die es in den genera causarum zu berücksichtigen gelte. Quintilian (inst. 3.4.1-3) zählt einige dieser modi auf, um welche die ursprünglichen drei genera (genus iudiciale, genus deliberativum, genus demon-strativum bzw. laudativum) ergänzt wurden: „Insbesondere das epideiktische genus, mit seinen Formen des Lobens und Tadelns, verleitete die Rhetoriker dazu, sich zu überlegen, dass es dann auch für das Bedauern, das Trösten, das Besänftigen, das Aufstacheln, das Er-schrecken, das Beweisen, das Vorschreiben, die Formen des Interpretierens von dunkel Ge-sagtem, für die Erzählung, für die Abbitte, für den Dank, für das Beglückwünschen, für das

41 Ein kurzer Überblick über Grundlagen und zentrale Werke findet sich z. B. in LIEDTKE 2018. Zu Entstehung und Entwicklung der Sprechakttheorie bzw. Pragmatik vgl. a. LEVINSON 2017, 200ff.; HUANG 2014, 1ff.; JUCKER 2012;

SCHMITT 2000, 17ff.; VERSCHUEREN 1995, 2ff.; SBISÀ 1995, 495ff.; LEECH 1983, 1ff. und SCHLIEBEN-LANGE 1979, 23ff. Für weitere Informationen sei auf die einschlägige umfangreiche Fachliteratur verwiesen.

42 Überliefert durch Diogenes Laertius und Sextus Empiricus. Hier zitiert nach HÜLSER 1992, 26.

43 Vgl. z. B. SBISÀ 1995, 496; SCHIRREN 2010, 79ff. (zu Protagoras); HÜLSER 1992, 26 (zu den Stoikern) und SCHENKEVELD 1984 (zu Stoikern und Peripatetikern).

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Beschwören, für das Beschimpfen, für das Beschreiben, für das Empfehlen, für das Aufkündi-gen, für das Wünschen und das Meinen, usw. jeweils eigene genera geben müsse.“44 Aller-dings ist hier weniger eine Abgrenzung von einzelnen mit Sprache möglichen Sprechhandlun-gen intendiert, sondern die Unterscheidung ist sehr eng mit der praktischen Gestaltung von Reden als Ganzes verbunden.45

Zu einigen Sprechakten gibt es aber durchaus differenzierte theoretische Überlegungen, wie bspw. die Ausführungen von Aristoteles zu ‚Frage‘ und ‚Antwort‘ im Bereich der Dialektik (top.

8) und die von Quintilian (inst. 9.2.6) zum Unterschied von ‚rhetorischen Fragen‘ (interrogare) und ‚informativen Fragen‘ (percontari) zeigen.46 Eine vollständige, deskriptive und präzise sys-tematisierende Erfassung von Sprechakten fehlt jedoch weitgehend (trotz einzelner Bemü-hungen v. a. der Stoiker) und wurde auch, was speziell die Rhetorik betrifft, gar nicht ange-strebt.47

Im Unterschied zur Sprechakttheorie geht es in der Rhetorik darum, was man mit Sprache subjektiv ‚bewirken‘ kann, nicht darum, was man objektiv mit ihr ‚tun‘ kann.48 Sie ist deshalb schon vom Grundsatz her eher bewertend und auf Sprachproduktion ausgerichtet.49 Die Sprechakttheorie erhebt im Gegensatz dazu den Anspruch auf neutrale und umfassende Be-schreibung eines Sprachzustandes und bezieht z. B. neben der (öffentlichen) Rede stärker auch andere Textsorten und Kommunikationsformen mit ein.50 Da die Sprechakttheorie ihren Untersuchungsbereich irgendwann auf ganze Texte erweitert hat, besteht in dieser Hinsicht hingegen kein Unterschied mehr zur Rhetorik, wie man ihn im Vergleich zur ursprünglichen satzzentrierten Sprechakttheorie noch feststellen konnte.51 Sowohl in der Rhetorik als auch in der Sprechakttheorie geht es nicht nur um die sprachlich-stilistische Ausgestaltung von Ein-zeläußerungen, sondern auch um den Gesamtaufbau von ganzen Texten (unter rezeptions-orientierten Gesichtspunkten). Dabei werden in beiden Disziplinen zudem umfangreiche Überlegungen zur Kommunikationssituation angestellt.52 Trotz aller grundlegenden Unter-schiede gibt es also durchaus einiges, was Rhetorik und Sprechakttheorie verbindet. Festzu-halten bleibt insbesondere, dass man sich in der Antike der Wirkungsmacht und des Hand-lungscharakters von Sprache sehr bewusst war.

44 SCHIRREN 2010, 82. Der genaue Wortlaut bei Quintilian lautet: Sed tria an plura sint ambigitur. Nec dubie prope omnes utique summae apud antiquos auctoritatis scriptores Aristotelen secuti, qui nomine tantum alio contiona-lem pro deliberatiua appellat, hac partitione contenti fuerunt. Verum et tum leuiter est temptatum, cum apud Graecos quosdam tum apud Ciceronem in libris de oratore, et nunc maximo temporum nostrorum auctore prope inpulsum, ut non modo plura haec genera sed paene innumerabilia uideantur. Nam si laudandi ac uituperandi officium in parte tertia ponimus, in quo genere versari uidebimur cum querimur consolamur mitigamus concita-mus terreconcita-mus confirmaconcita-mus praecipiconcita-mus, obscure dicta interpretamur, narraconcita-mus deprecamur, gratias agiconcita-mus, gratulamur obiurgamus maledicimus describimus mandamus renuntiamus optamus opinamur, plurima alia?

45 Ebd., 82ff.

46 Vgl. AX 1992, 252 bzw. PINKSTER 1996, 246.

47 Vgl. SCHIRREN 2010, 83 und AX 1992, 252.

48 LUPPOLD 2015, 343.

49 Vgl. z. B. ADAMZIK 2016, 10ff.; BRINKER 2006, 2540; AX 2006a, 241 und BLACK 1995, 21.

50 Vgl. z. B. BICKMANN 1998, 44f. Vgl. a. LEECH 1983, der sein „rhetorical model of pragmatics“ entgegen der klassi-schen Rhetorik vornehmlich auf Alltagsgespräche („everyday conversation“) ausrichtet „and only secondarily to more prepared and public uses of language“ (ebd., 15).

51 Vgl. LUPPOLD 2015, 344.

52 Vgl. z. B. ADAMZIK 2016, 12; ARWEILER 2010, 203; AX 2006a, 241 und KALVERKÄMPER 2000 - 2001, 4.

13 1.1.1.1.2 Bühler und Jakobson

Daran knüpft auch Karl Bühler mit seinem Organon-Modell an, das sich auf Platons Kratylos beruft, wo die Sprache als ὄργανον ‚Werkzeug‘ bezeichnet wird, also als etwas, womit Men-schen ‚handeln‘ können.53 In Bühlers kommunikativen Modell kommen einem sprachlichen Zeichen bzw. einer sprachlichen Äußerung drei Funktionen zu: Darstellung (Bezug auf „Ge-genstände und Sachverhalte“), Ausdruck (Bezug auf den „Sender“) und Appell (Bezug auf den

„Empfänger“).54

Roman Jakobson, Vertreter der funktional-strukturalistischen Prager Schule, baut mit seinem eigenen Modell darauf auf und ergänzt es um weitere drei Funktionen.55 Die referenzielle Funktion (Bühlers Darstellungsfunktion) ist gekennzeichnet durch eine „Orientierung auf den KONTEXT hin“, die konative Funktion (Bühlers Appellfunktion) durch ihre „Ausrichtung auf den EMPFÄNGER“, die emotive oder expressive Funktion (Bühlers Ausdrucksfunktion) dadurch, dass sie „sich an den SENDER richtet“. Neu hinzu kommen die metasprachliche Funk-tion mit ihrer Orientierung „am KODE“, die phatische FunkFunk-tion mit einer „Einstellung auf den KONTAKT“und die (nicht auf die Dichtung beschränkte) poetische Funktion mit einer „Einstel-lung auf die BOTSCHAFT“.56

Obwohl Jakobson allgemein zugestanden wird, die in Bühlers Modell angeführten Grundfunk-tionen der Sprache um ein paar wichtige Facetten bereichert zu haben57, werden seine Ergän-zungen zum Teil sehr kritisch gesehen. Im Fokus steht häufig die poetische Funktion, der in Jakobsons Betrachtungen ein besonderer Stellenwert zukommt.58 So erscheine der Begriff

‚poetisch‘ im Zusammenhang mit z. B. Werbe- und Nachrichtentexten unangemessen.59 Das von Jakobson selbst genannte Beispiel eines politischen Wahlslogans sei zudem letztlich eher als konativ bewerten.60 Einige sehen in der poetischen Funktion nur eine Variante der Aus-drucksfunktion.61 Die phatische und die metasprachliche Funktion werden manchmal eben-falls lediglich als Unterfälle der Bühler‘schen Funktionen betrachtet.62 Die konkrete Zuordnung sprachlicher Äußerungen gestaltet sich z. T. ziemlich schwierig, was bspw. daran deutlich wird, dass sowohl eigentlich referenzielle und expressive als auch konative Äußerungen unter die

53 BÜHLER 1999, 1 und ebd., 24f. Die Werkzeugmetapher hat z. T. heftige Kritik hervorgerufen, wie z. B. bei REISIGL 1999, 30, der sie als „extrem misanthropisch“ empfindet, da durch sie der Mensch zu einem zu bearbeitenden Material herabwürdigt werde. Vgl. a. ORTNER 1992, 280, der meint, dass die Metapher deshalb unangemessen sei, weil sprachliche Äußerungen kein festes Gebilde seien, sodass höchstens von „Werkzeugbauplänen“ gespro-chen werden könne, und dies auch nur mit Bezug auf die langue.

54 Eine genauere Beschreibung des Organon-Modells findet sich u. a. bei COȘERIU 1994, 71ff.; REISIGL 1999, 29ff.

und natürlich bei Bühler selbst: BÜHLER 1999, 28ff.

55 Details zu Jakobsons Modell kann man u. a. nachlesen in JAKOBSON 1979; COȘERIU 1994, 76ff.; REISIGL 1999, 53ff.

und KUßE 2012, 72f.

56 JAKOBSON 1979, 88ff.

57 Das geben selbst seine Kritiker zu, wie z. B. REISIGL 1999, 64f. und COȘERIU 1994, 87.

58 Bemerkenswert ist dabei auch Jakobsons Ansicht, die Poetik sei Teil der Linguistik: JAKOBSON 1979, 84f.

59 COȘERIU 1994, 79ff.

60 COȘERIU 1994, 79f.

61 Vgl. z. B. REISIGL 1999, 59.

62 Vgl. z. B. ebd., 65, der jedoch auch bemerkt: „Die phatische und die metasprachliche Funktion als Unterfälle der Appell- und Darstellungsfunktion anzusehen, dafür dürfte vieles sprechen. Sie aber einfach wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen, wo sie sich nun einmal als begriffliche Destillationen bereits gut bewährt haben, erscheint mir wenig sinnvoll.“

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phatische Funktion fallen können.63 Das Problem liegt u. a. in den heterogenen Unterschei-dungskriterien begründet. Entscheidend müssten eigentlich kommunikativ-handlungsfunktio-nale Aspekte sein. Der phatischen und auch der metasprachlichen Funktion liegen aber bspw.

inhaltliche Merkmale zugrunde. Erstere ist v. a. durch den Bezug auf das Kontaktmedium de-finiert, letztere unterscheidet sich im Grunde nur durch ihre Referenz auf die Sprache selbst (den Kode) von der Darstellungsfunktion.64 Die Definition der poetischen Funktion wiederum wird auf eher formale Kriterien reduziert.65

Auch Bühlers Modell ist hinsichtlich der Differenzierungskriterien nicht konsistent, insofern die Darstellungsfunktion einem sprachlichen Zeichen – im Gegensatz zur Ausdrucks- und Ap-pellfunktion – unabhängig vom tatsächlichen kommunikativen Gebrauch zukommt.66 Diese Kritik betrifft dann natürlich ebenso Jakobsons referenzielle Funktion. Außerdem ist bei Bühler genau wie bei Jakobson die Zuweisung der Funktionen zu einzelnen Kommunikationsfaktoren nicht in jeder Hinsicht überzeugend und stark vereinfachend. Die konative bzw. Appellfunk-tion wird in den Modellen z. B. dem Empfänger zugeordnet, obwohl letztlich die Art der Ver-wendung einer sprachlichen Äußerung durch den Sender entscheidend ist. Allgemein ist bei beiden eine Überbetonung der Senderseite unter Vernachlässigung der Empfängerseite und insgesamt der Interaktionalität menschlicher Kommunikation festzustellen.67

Die Modelle von Bühler und Jakobson gelten aus heutiger Sicht teilweise als überholt.68 In gewisser Weise können sie jedoch sogar als recht fortschrittlich bezeichnet werden, da sie z. B.

– trotz aller bemängelten Einschränkungen – bereits soziale Komponenten und eine relativ umfassende Kommunikationssituation mitberücksichtigen.69 Entsprechend haben sie einen sehr weitreichenden Einfluss gehabt und wurden vielfach aufgegriffen. Sehr populär ist bspw.

das in ihrer Tradition stehende Vier-Seiten-Modell von Schulz von Thun.70

Inwieweit gibt es nun aber Bezüge zur Sprechakttheorie?71 Hierzu ist festzustellen, dass die beschriebenen Modelle Sprachfunktionen beschreiben, während es in der Sprechakttheorie

63 Vgl. z. B. WEIGAND 2003, 46. Natürlich ist immer zu berücksichtigen, wie die einzelnen Funktionen genau defi-niert werden. Gerade in Bezug auf die ‚expressive‘ Funktion gibt es dabei einige Schwierigkeiten, auf die (im Kap.

„Besonderheiten der Expressiva“ ab S. 28) noch genauer eingegangen werden wird.

64 Vgl. ebd., 46; KUßE 2012, 72f. und COȘERIU 1994, 85ff.

65 Vgl. z. B. ebd., 79ff. und WEIGAND 2003, 46.

66 COȘERIU 1994, 90. Vgl. a. ROLF 2006, 2523. Vgl. außerdem PRASALSKI 2010, 20f.

67 Vgl. REISIGL 1999, 61f.; ORTNER 1992, 279f. und WEIGAND 2003, 46.

68 Vgl. z. B. ebd., 46 (zur in bestimmter Hinsicht fortschrittlicheren Denkweise der späteren Sprechakttheorie) und die Kritik von SPITZMÜLLER UND WARNKE 2011, 54 bezüglich des dem diskurslinguistischen Konstruktivismus widersprechenden „ontologischen Realismus“ der Modelle.

69 Zur sozialen Komponente vgl. PRASALSKI 2010, 17 (mit Bezug auf BÜHLER 1999, 68f.): „Auch Bühler macht darauf aufmerksam, dass bei der Erschließung der Sinneinheiten (Sprechakte) die ‚intersubjektiv geregelten Konventio-nen‘ […] und ‚das soziale Moment der Sprache […]‘ […] zu berücksichtigen sind.“ Zu Jakobson vgl. z. B. REISIGL 1999, 58. Zur kommunikativen Komponente: HEINEMANN UND HEINEMANN 2002, 34; HARTUNG 2000 - 2001, 83 (mit Bezug auf Bühler) und REISIGL 1999, 53 (mit Bezug auf Jakobson).

70 Dieses Vier-Seiten-Modell wird u. a. dargelegt in SCHULZ VON THUN 2010. Vgl. a. die Erweiterungen und Ergän-zungen in späteren Publikationen und auf seiner Website: www.schulz-von-thun.de/die-modelle bzw.

www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat (zuletzt geprüft am 12.11.2020).

71 Ausführlicher zu „Bühler als Vorläufer der Sprechakttheorie“: PRASALSKI 2010.

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um Sprechhandlungsfunktionen geht.72 Letzteren liegen vom Sprecher beabsichtigte Hand-lungen zugrunde. Sprachfunktionen im Sinne Bühlers und Jakobsons machen dagegen keinen Unterschied zwischen intendierten und nicht intendierten Funktionen.73 Ihre Sprachfunktio-nen beziehen sich zudem auf konkrete sprachliche Äußerungen im Gebrauch („Zeichenge-brauchsaspekte“), die Sprechhandlungsfunktionen dagegen mehr auf abstrahierte Einheiten („Zeichenverwendungstypen“), die in Sprechaktklassen eingeordnet werden können.74 Dies verweist auch auf den fundamentalsten Unterschied zwischen den Modellen von Bühler und Jakobson (wie auch von Schulz von Thun) auf der einen Seite und den Klassifikationen der Sprechakttheorie (wie z. B. von Searle) auf der anderen Seite. Sowohl in Bühlers Modell als auch der ergänzten Version von Jakobson wird davon ausgegangen, dass einer sprachlichen Äußerung mehrere Funktionen zukommen, von denen i. d. R. aber eine dominiert, wobei Ja-kobson von einer Hierarchisierung der Funktionen ausgeht, während bei Bühler auch ein Gleichgewicht der Funktionen möglich ist.75 Damit unterscheiden sich ihre multifunktionalen Modelle grundlegend von den sprechakttheoretischen unifunktionalen Modellen, in denen mit einer sprachlichen Äußerung nur jeweils eine Illokution verbunden ist.76 Sollten mehrere Sprechhandlungen zu erkennen sein, werden i. d. R. (untergeordnete) direkte und (überge-ordnete) indirekte Sprechakte differenziert.77 In anderen Fällen wird gar kein Sprechakt ange-nommen, weil eine Proposition als Basis fehlt, z. B. im Zusammenhang mit paraverbalen Phä-nomenen.78 Zum Teil wird von perlokutionären Effekten ausgegangen, wie im Falle einer Be-leidigung, die bei Bühler als Ausdruck gleichzeitig mit einem Appell in einer sprachlichen Äußerung enthalten sein kann.79

1.1.1.2 Klassische Sprechakttheorie

1.1.1.2.1 Sprachphilosophie als Ursprung der Sprechakttheorie

Der Ursprung der klassischen Sprechakttheorie liegt also weder in der Antike noch in den Sprachfunktionsmodellen von Bühler und Jakobson. Vielmehr entsteht sie aus der analyti-schen Sprachphilosophie heraus. Als ein Wegbereiter wird oft Ludwig Wittgenstein80 genannt, auch wenn umstritten ist, wie weitreichend sein Einfluss tatsächlich war. Während er im

„Tractatus Logico-Philosophicus“ (1921) noch der Idee des logischen Empirismus von einer idealen Sprache anhängt und versucht, eine formale Beschreibungssprache zur exakten Abbil-dung der Realität zu entwerfen, leitet er mit seinen „Philosophischen Untersuchungen“ (1953) eine Kehrtwende ein, indem er sich nun der Alltagssprache zuwendet, die nicht mehr als defi-zitär, sondern sogar als hilfreich bei der Suche nach philosophischer Erkenntnis betrachtet wird.81 Hiermit findet ein Übergang zur „Ordinary Language Philosophy” statt, die allerdings

72 Vgl. z. B. WAGNER 1997, 23 und ROLF 2000 - 2001, 423.

73 Vgl. z. B. ORTNER 2014b, 57 und ORTNER 1992, 279f.

74 ROLF 2000 - 2001, 425. Vgl. COȘERIU 1994, 87; ROLF 2006, 2523 und PRASALSKI 2010, 19.

75 JAKOBSON 1979, 88 bzw. BÜHLER 1999, 32. Vgl. REISIGL 1999, 61 und WAGNER 1997, 214.

76 Vgl. z. B. PRASALSKI 2010, 20 und ROLF 2000 - 2001, 425. Vgl. a. N. 319.

77 Vgl. PRASALSKI 2010, 20.

78 Vgl. ebd., 21. Vgl. aber auch S. 20 und 28.

79 Vgl. PRASALSKI 2010, 21.

80 Genaueres findet man z. B. bei HARRAS 2004, 96ff.

81 Vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1979, 32: „In seinem Frühwerk, dem ‚Tractatus Logico-Philosophicus‘ [1921] hat er – ein Hauptanliegen des ‚Wiener Kreises‘, dem er nahestand – versucht, eine Beschreibungssprache zu konstruieren,

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nicht im näheren Umkreis von Wittgenstein in Cambridge, sondern (unter wohl noch größe-rem Einfluss von George E. Moore) in Oxford ihre Blüte erlebt.82 Zu den Hauptvertretern zäh-len Gilbert Ryle, Peter F. Strawson, Herbert P. Grice – und John L. Austin, dessen Sprechakt-theorie von seinem amerikanischen Studenten John R. Searle systematisiert und weiterent-wickelt wird.

1.1.1.2.2 Austin

Spezifität der Sprechakttheorie Austins

Austins Einfluss auf die Sprechakttheorie äußert sich weniger durch eigene Publikationen als durch seine Lehrtätigkeit.83 Bedeutsam geworden sind v. a. die Mitschriften aus einer von ihm 1955 in Harvard gehaltenen Vorlesung, die 1962 unter dem Titel „How to do things with words” veröffentlicht wurden. Damit hinterlässt er keine geschlossene Theorie, sondern eher eine lose Aufeinanderfolge von Betrachtungen, die weder den Anspruch auf Vollständigkeit erheben können noch in sich immer widerspruchsfrei sind.84

Konstative und performative Sprechakte

Im Einklang mit Wittgenstein bzw. der „Ordinary Language Philosophy” will Austin sich nicht mehr auf die Beschäftigung mit deskriptiven Aussagen beschränken: Neben konstativen Sprechakten, die wahr oder falsch sein können, gebe es performative Sprechakte ohne Wahr-heitswert, die im Gegensatz zu ersteren dadurch gekennzeichnet seien, dass sie glücken oder nicht glücken können.85 Austin stellt in seinen Vorlesungen ausführlich sowohl die Glückens-bedingungen als auch insbesondere mögliche Unglücksfälle dar, die z. B. darin bestehen, dass sich ein Sprecher undeutlich ausdrückt („misfire“) oder dass er unaufrichtig ist („abuse“).

Performative Sprechakte können nach Austin explizit performativ oder implizit (primär) per-formativ sein. In explizit perper-formativen Äußerungen wird mit Hilfe von perper-formativ gebrauch-ten SB-Verben explizit gesagt, was man tut, z. B. in Sätzen wie „Ich verspreche dir (hiermit), dass ich das Buch mitbringen werde.“ oder „Die Anwesenden werden (hiermit) aufgefordert, den Raum zu verlassen.“, in denen ‚versprechen‘ bzw. ‚auffordern‘ performativ verwendet werden.86 Weniger deutlich, dafür aber ökonomischer sind implizit performative Äußerungen

die die Sachverhalte der Welt widerspiegelt. Dabei würde die logische Form der Sätze die Sachverhalte genau abbilden. In den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ [1953], mehr als 20 Jahre später, hat er dann die radikale Wende zur Sprachanalyse vollzogen, wobei er aufzuzeigen versucht, daß viele der Probleme beim Entwurf einer logischen Beschreibungssprache Scheinprobleme sind, die die Alltagssprache suggeriert.“

82 Vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1979, 33.

83 Es gibt nur wenige Aufsätze von Austin, die Themen der Sprechakttheorie betreffen, wie z. B. AUSTIN 1956 - 1957 und AUSTIN 1971. Genaueres zu Austins Sprechakttheorie kann man u. a. nachlesen bei STAFFELDT 2009, 37ff.;

HARRAS 2004, 114ff. und SCHLIEBEN-LANGE 1979, 33ff.

84 Die folgende Darstellung von Austins Sprechakttheorie bezieht sich, soweit nicht anders angegeben, auf AUSTIN 2009 bzw. AUSTIN 2002.

85 Vgl. a. AUSTIN 1971. Auf die Performativität bzw. den Handlungsaspekt von Sprache hat bereits Erich Koschmie-der (KOSCHMIEDER 1945) im Zusammenhang mit einer besonderen Verwendungsweise des hebräischen Perfekts („Koinzidenzfall“) hingewiesen. Zum Vergleich mit Austin vgl. a. WAGNER 1997, 51ff.

86 SB-Ausdrücke werden also nicht nur zur Bezeichnung von Sprechakttypen (z. B. BITTEN) genutzt, sondern kön-nen oft auch performativ (z. B.: „Wir bitten Sie, sich umgehend in die Empfangshalle zu begeben.“) verwendet werden. Außerdem ist eine referierende Gebrauchsweise (z. B. „Er bat sie telefonisch mehrfach um Hilfe.“) mög-lich. Was die performative Verwendung betrifft, so zeigen bereits die hier genannten Beispiele, dass sie in sehr verschiedener (grammatischer) Form auftreten. Ausführlicher dazu (in Bezug auf das Deutsche): WEIGAND 2003, 181ff., die i. E. zahlreiche Varianten solcher „lexikalisch ausgedrückter direkter Sprechakte“ differenziert, wie

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wie „Ich werde das Buch mitbringen.“87 Implizit performative Äußerungen können explizit ge-macht werden, wobei verschiedene Indikatoren (wie z. B. Verbmodus, Betonung, Adverbien und adverbiale Bestimmungen, Konjunktionen, begleitendes Verhalten des Sprechers und die Umstände der Äußerungssituation) die Art der vorliegenden Handlung signalisieren.88

Im Laufe der Vorlesungsreihe kommt es zu einer Wende, als Austin zur Überzeugung gelangt, dass es rein deskriptive Aussagen gar nicht gibt, sondern Menschen letztlich mit allen sprach-lichen Äußerungen handeln und entsprechend alle sprachsprach-lichen Äußerungen performativ sind.89 Auch konstative Äußerungen können glücken oder missglücken. Und die von ihm ur-sprünglich als performativ bezeichneten Äußerungen können durchaus auch nach dem Krite-rium ‚wahr oder falsch‘ beurteilt werden.

Aktlehre

An die Stelle der Trennung von konstativen und performativen Sprechhandlungen setzt Austin seine Aktlehre. Er geht davon aus, dass jeder Sprechakt drei verschiedene Dimensionen hat:

Eine Sprechhandlung besteht zum einen darin, dass man mittels eines lokutionären Aktes et-was sagt, z. B.: „Ich werde das Buch mitbringen.“ Zum anderen vollzieht man, indem man dies tut, durch einen illokutionären Akt eine Handlung mit einer bestimmten kommunikativen Funktion („illocutionary force“ = illokutive Kraft oder auch Rolle), z. B. verspricht man etwas.

Und außerdem kann man dadurch, dass man etwas sagt, mit einem perlokutionären Akt eine bestimmte Folgewirkung („consequential effects upon the feelings, thoughts, or actions of the audience, or of the speaker, or of other persons“) hervorrufen, z. B. eine freudige Reaktion des Angesprochenen.

Der lokutionäre Akt besteht i. E. aus einem phonetischen Akt („uttering certain noises“), einem phatischen Akt („uttering of certain vocables or words, i.e. noises of certain types, be-longing to and as bebe-longing to, a certain vocabulary, conforming to and as conforming to a certain grammar“) und einem rhetischen Akt („performance of an act of using those vocables with a certain more-or-less definite sense and reference“). Die Bedeutung des lokutionären Aktes kann wahr oder falsch sein. Ein illokutionärer Akt dagegen kann (wie die ursprünglichen performativen Sprechakte) glücken oder nicht glücken. Die zur Beurteilung des Glückens ent-scheidenden illokutionären Effekte („illocutionary effects“) bestehen gemäß Austin dabei da-rin, dass der Adressat eine Äußerung überhaupt versteht („securing of uptake“)90, dass die Äußerung (z. B. im Zusammenhang mit deklarativen Sprechakten wie bei einer Taufe) wirksam wird („taking effect“) und dass sie eine (standardmäßige) Antwort oder eine andere Reaktion hervorruft („inviting a response or sequel“), die sowohl vonseiten des Sprechers selbst (z. B.

das Erfüllen eines Versprechens) als auch von einer anderen Person kommen kann. Alle diese

das Erfüllen eines Versprechens) als auch von einer anderen Person kommen kann. Alle diese