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Beziehungs- und Identitätskonstitution

P RAKTISCHE H INWEISE

4. Beziehungs- und Identitätskonstitution

→ Analyse des Verhältnisses zwischen Cicero und Terentia (alle Hierarchieebenen)

Abbildung 4: Kapitelaufbau der Beispielanalysen

Identifikation und Klassifikation der Handlungseinheiten werden demnach innerhalb eines Ka-pitels (Abbildung 4: 3.1 und 3.2) miteinander verbunden. Aufgrund ihres engen Zusammen-hangs entstehen notwendigerweise häufig Überschneidungen, und so können Wiederholun-gen in der Darstellung besser eingegrenzt werden. Ein zusammenfassender Überblick (gem.

764 Hier wie auch allgemein steht man immer im Konflikt zwischen dem Anspruch, der Komplexität eines Sach-verhalts in differenzierter und möglichst nicht anfechtbarer Weise gerecht zu werden, auf der einen Seite und dem Bemühen um Klarheit und Verständlichkeit mithilfe eines praxistauglichen Verfahrens auf der anderen Seite: Vgl. ORTNER 2014b, 313.

765 Ein „Überblick über die Einzelillokutionen aller Briefe in fam. 14“ findet sich im Anhang (ab S. 426).

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Abbildung 3, Punkt 7) über die Ergebnisse der drei Detailanalysen, ergänzt um Beispiele aus den übrigen 21 Briefen des Analysekorpus, findet sich in Kap. 2.2.

1.3.2 Illokutionsidentifikation

1.3.2.1 Allgemeine Problematik

In sprechakttheoretischen Studien wird nur selten explizit thematisiert, wie genau Sprechakte bzw. Illokutionen zu bestimmen und von anderen abzugrenzen sind, obwohl dies eigentlich die Grundvoraussetzung für die Untersuchung der Handlungsebene eines Textes ist.766 Oft werden Illokutionen einfach mit Sätzen gleichgesetzt. Eine solche Vorgehensweise, die ja be-reits bei Austin und Searle angelegt ist, erleichtert die Arbeit zwar ungemein, kann aber im Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten kaum befriedigen. Illokution und Satz fal-len nämlich nicht immer zusammen: Ein Satz kann aus mehreren Illokutionen bestehen, und umgekehrt kann sich eine Illokution über mehrere Sätze erstrecken. Offensichtlich wird die Problematik beispielsweise, wenn man den Satz „Ich bitte dich, das Fenster zu schließen, denn (oder auch: weil) es zieht.“ mit der Äußerung „Ich bitte dich, das Fenster zu schließen. Es zieht.“ vergleicht. Es scheint kaum überzeugend, in dem einen Fall eine Illokution, im anderen zwei Illokutionen anzunehmen. Dabei stellt sich nicht zuletzt – v. a. (aufgrund der Besonder-heiten der Überlieferung, z. B. im Zusammenhang mit der Interpunktion) auch bei antiken Texten – die Frage, was ein Satz überhaupt ist.767

Das Problem liegt darin begründet, dass es sich bei Illokutionen nicht um syntaktische, son-dern um pragmatische Einheiten handelt. Entscheidend ist also die kommunikative Funktion und nicht die grammatische Ausgestaltung, die lediglich Anhaltspunkte für deren Bestimmung

766 Vgl. SCHMITT 2000, 37 und ebd., 51: „Wie groß ist die Einheit Sprechakt? Wie kann determiniert werden, wo die Grenze zwischen zwei Illokutionen anzusetzen ist? Wohl kein anderes Gebiet der Pragmatik liegt so im Dun-keln wie die Frage nach der Illokutionsidentifikation; häufig wird es sogar noch nicht einmal als Problem erkannt.“

767 Vgl. z. B. ebd., 52, wo folgende Probleme einer Gleichsetzung von Satz und Illokution (im Englischen und Deut-schen) genannt werden: „1. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition des Konzeptes ‚Satz‘, vielmehr sind zahlreiche Begriffsbestimmungen denkbar, von denen jede ihre eigenen Schwierigkeiten aufweist […]. 2. Meh-rere eigenständige Sätze können zu einem komplexen Satz zusammengezogen werden, eventuell unter Verwen-dung von Konjunktionen, oder ein komplexer Satz kann in mehrere Einzelsätze aufgelöst werden, ohne dass sich in der pragmatischen Leistung der Äußerung etwas ändert […]. 3. Die Annahme einer Möglichkeit mehrerer Sprechakte innerhalb eines Satzes darf nicht auf syntaktisch komplexe Sätze beschränkt sein. Semantisch kom-plexe, syntaktisch jedoch nicht hierarchisch durch Hypo- oder Parataxe gegliederte Sätze erscheinen intuitiv ebenso als aus mehreren verknüpften Sprechakten bestehend.“ Vgl. a. HERINGER 2015, 29; BRINKER U. A.2014, 28;

SZWED 2014, 156; WÜEST 2011, 58; GANSEL UND JÜRGENS 2008, 66ff.; KROON 2007, 145; SCHRÖDER 2003, 36; BICKMANN 1998, 43; RISSELADA 1993, 50; ROSENGREN 1987, 29; VIEHWEGER 1983, 231; DIMTER 1981, 86 und SCHLIEBEN-LANGE 1979, 110. Zur ‚Tradition‘ der Gleichsetzung von Sprechakt und Satz von den Anfängen bis in neuere Zeit vgl. z. B.

SCHMITT 2000, 51: „Wissenschaftsgeschichtlich ist hier früh eine zweifelhafte Weichenstellung aus den Anfangs-tagen der Sprechakttheorie in die Forschung übernommen worden, der erst in den letzten etwa eineinhalb Jahr-zehnten widersprochen wird. Sowohl Austin als auch Searle setzten in ihren Grundlagenwerken Sprechakt und Satz vom Umfang her gleich.“ Vgl. aber auch SZWED 2014, 156 zu frühen Ansätzen mit einer (teilweisen) Aufbre-chung dieser Gleichsetzung (z. B. bei KOCH U. A.1981). Vgl. außerdem SCHMITT 2000, 37. Zu den Gründen für die Gleichsetzung vgl. z. B. ebd., 53 N. 3: „Warum immer wieder auf den Satz zurückgegriffen wird, ist offensicht-lich: Zum einen existiert einfach kein wirkliches Alternativkonzept, zum anderen ist die Gleichsetzung, zumindest wenn man sich auf eine bestimmte Satzdefinition festlegt, sehr bequem.“ Vgl. a. LUPPOLD 2015, 402 (zu Schröders Konstituentenmodell: s. N. 364). Zu den Besonderheiten der Überlieferung antiker Schriften vgl. z. B. N. 377.

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liefern kann.768 Mehr noch zählt bei der Bewertung des Illokutionsstatus der Kontext, in den eine Äußerung eingebettet ist. Am Ende muss man, um die (mutmaßliche) Intention eines Au-tors zu erfassen, auf das eigene (Welt- und Sprach-)Wissen und somit auf die Intuition zurück-greifen, wobei eher psychologische als linguistische Aspekte eine Rolle spielen.769 Zur genau-eren strukturellen Abgrenzung einer Illokution wäre jedoch (zusätzlich) ein besser zu operati-onalisierendes Verfahren wünschenswert. Die wenigen Versuche, Sprechakte unabhängig von den Satzgrenzen zu bestimmen, nehmen meist die Proposition als Ausgangsbasis, wie z. B.

SCHMITT 2000 und STAFFELDT 2014. Denn jede Illokution ist (nach Searle) untrennbar mit einer Proposition verbunden. Hat man die Proposition erfasst, ist demnach zugleich der Sprechakt als (abgegrenzte) Handlungseinheit festgelegt.770 Die Proposition dient also als „struktureller Anker“771. Schmitt fasst die Bedeutung seiner Vorgehensweise folgendermaßen zusammen:

„Damit erhält die Illokution, die bisher lediglich von ihrem psychologischen Ursprung her be-kannt war, eine Form, wird greifbar. Die Intention wird durch einen festen Körper realisiert, also ist es jetzt die Aufgabe, mittels dieses festen Körpers und unter Einbindung des Weltwis-sens und mit Hilfe der die situativen Bedingungen erfassenden Intuition die Intention des Sprechers zu rekonstruieren.“772

1.3.2.2 Propositionsanalyse als Verfahren zur strukturellen Abgrenzung von Il-lokutionen

STAFFELDT 2014 versucht die Proposition bzw. Referenz und Prädikation durch eine Thema-Rhema-Analyse im Anschluss an die Duden-Grammatik zu ermitteln.773 Die Referenz ent-spricht dabei dem Thema, die Prädikation dem Rhema. Er ergänzt das Verfahren durch eine grammatische Bestimmung von Subjekt und Prädikat, die er weitgehend mit Referenz bzw.

Prädikation gleichsetzt. Ihm ist klar, dass diese Methode eine Vereinfachung darstellt, „mitun-ter zu seltsamen Ergebnissen“774 führt und insgesamt noch verfeinert werden müsste, meint

768 Vgl. z. B. SCHMITT 2000, 53 N. 3: „Beim Satz handelt es sich um eine grammatische Entität; die Illokution hinge-gen ist eine pragmatische, aus der Intention des Sprechers geborene, teleologische Einheit.“ und ebd., 105f.: „[…]

die Grammatik [steht] zur Pragmatik in einem, wenn auch nicht willkürlichen, so doch in einem flexiblen Verhält-nis […], sodass jede starre grammatische Definition der pragmatischen Basiseinheit Illokution zum Scheitern ver-urteilt ist. […] Grammatische Merkmale sind für die Analyse zwar nicht bedeutungslos, sie erhalten jedoch den Status eines dienenden Hilfsmittels.“ Vgl. a. WEIGAND 2003, 26f. Vgl. außerdem GANSEL UND JÜRGENS 2008, 66ff.

und (speziell zum Brief) LANGEHEINE 1983b, 198 sowie WEIGAND 2003, 56f.; ERMERT 1979, 196 und (zur „Literal Force Hypothesis“ Searles) S. 20.

769 Vgl. z. B. SCHMITT 2000, 42f.: „Mit der Ausrufung der Intention als entscheidendem Kriterium ergeben sich […]

zwei Probleme: Zum einen ist die Intention als solches nicht greifbar, sie besitzt, im Unterschied zur Lokution, keinen messbaren, physischen Körper. Sie ist ein psychischer Zustand, der erst durch den Vollzug des Sprechakts Körper und Kontur gewinnt. Hinzu kommt, dass die Intention und die Form der Illokution, die Lokution, in keinem festen Verhältnis zueinander stehen. […] Zum Zweiten kann die Intention, die ein Sprecher mit einem Sprechakt hegt, äußerst vielschichtig und -fältig sein. […] Die Fülle […] und der Facettenreichtum eines Sprechaktes hin-sichtlich seiner Intentionen ist [!] unermesslich und mit linguistischen Mitteln allein nicht greifbar. Um der Inten-tion eines Sprechers auch nur entfernt nahekommen zu können, bedarf es also zunächst eines Werkzeugs, das weit über das durch strukturelle Kriterien Erfassbare hinausgeht: die (kommunikative und außerkommunikative) Erfahrung, das Weltwissen, die Intuition.“

770 Vgl. z. B. STAFFELDT 2014, 113 sowie WEIGAND 2003, 76. Vgl. a. S. 24.

771 Ebd., 46.

772 SCHMITT 2000, 45.

773 Vgl. STAFFELDT 2014, 113ff. Er bezieht sich auf S. 1122 der 8. Auflage der Duden-Grammatik (KUNKEL-RAZUM UND EISENBERG 2009). Vgl. a. N. 391.

774 STAFFELDT 2014, 115.

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aber aufgrund seiner eigenen Textanalysen, dass damit durchaus ein sinnvolles und erfolgrei-ches Arbeiten möglich sei.775

SCHMITT 2000, dessen Ansatz mit dem Staffeldts grundsätzlich im Einklang steht, jedoch viel umfassender ist, hat ein recht ausgefeiltes System entwickelt, das entsprechend weniger leicht zugänglich ist776, aber dennoch gut praktikabel scheint und trotzdem der Vielfältigkeit der meisten Texte gerecht wird, obwohl letztlich auch hier Vereinfachungen notwendig sind.

Er strebt eine große Anwendungsbreite an und berücksichtigt zudem kontextuelle Fakto-ren.777 Außerdem ermöglicht sein Konzept die Erfassung von mehreren gleichartigen Illokuti-onen hintereinander, was bspw. das ISK nicht vorsieht. Dieses nimmt eine neue Illokution erst bei einem Wechsel der Sprecherabsicht an778 – ein Vorgehen, das in meinen Augen nicht über-zeugend ist und das Gesamtbild einer sprechakttheoretischen Analyse verzerrt.

Sowohl Staffeldt als auch Schmitt machen im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern ihr Vorgehen transparent und vermeiden eine einfache Gleichsetzung von Sätzen und Sprech-akten. Der Ansatz Staffeldts hat den Vorteil, dass man dennoch relativ schnell zu Ergebnissen kommt, scheint für meine Zwecke aber nicht ausreichend zu sein, weshalb ich mich im Folgen-den bei der Darstellung meiner eigenen Vorgehensweise weitgehend an Schmitt orientiere.

Obwohl eine Propositionsanalyse prinzipiell sehr sprachspezifisch ausgerichtet ist, steht einer Übertragung auf das Lateinische dabei zunächst nichts entgegen. Schmitt selbst legt seinen Analysen deutsche und englische Texte zugrunde. Insbesondere wenn Sprachen eng mit-einander verwandt sind, wie es bei den genannten Sprachen der Fall ist, zeigen sich viele Ge-meinsamkeiten.779 Einige trotzdem notwendige Anpassungen bleiben natürlich vorbehalten.

1.3.2.2.1 Grundsatzannahmen

Eine Propositionsanalyse ist sehr aufwendig und wird umso wahrscheinlicher an ihre Grenzen stoßen, je feinmaschiger sie erfolgt, insbesondere bei größeren Textmengen. Hier stellt sich dann irgendwann die Frage, bis zu welchem Grad überhaupt noch ein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist.780 Allgemein ist aber davon auszugehen, dass in einem einfachen Satz i. d. R.

775 Vgl. z. B. STAFFELDT 2014, 115 und ebd., 143.

776 Vgl. a. SCHMITT 2000, 110: „Möglicherweise erscheint das [!] so entstandene Entwurf zur Identifikation illoku-tionärer Einheiten dem einen oder anderen Leser als zu differenziert. Dies mag zwei verschiedene Gründe ha-ben: Zum einen haben wir uns als Sprecher, zumal in monologischen Texten, daran gewöhnt, viele intentionale Akte innerhalb eines Satzes zu vollziehen; mit anderen Worten, die Handlungsdichte, mit der wir Sprache produ-zieren, fällt uns gar nicht mehr auf. Zum anderen ist das Verständnis von Sprechakten durch die Rezeption eher philosophisch ausgerichteter Literatur häufig in einseitige Bahnen gelenkt worden.“

777 Vgl. z. B. ebd., 55f.: „Das Kriterium [zur Illokutionsidentifikation] muss kontextsensitiv sein. Es darf nicht auf die Analyse isolierter Äußerungen beschränkt sein, sondern muss für identische Äußerungen in unterschiedlichen Kontexten auch potentiell unterschiedliche Illokutionskompositionen annehmen können. […] Dabei ist nicht nur der sprachliche Kotext, sondern auch der situationelle Kontext für die Interpretation von Bedeutung. So kann [!]

in manchen Situationen bestimmtes Vorwissen der Hörerschaft, bestimmte Einstellungen etc. vorausgesetzt werden, in anderen nicht.“ Vgl. a. ebd., 106.

778 Vgl. z. B. ebd., 56 und SZWED 2014, 173 bzw. KOCH U. A.1981, 161.

779 Vgl. Kap. 1.1.2.3.

780 Vgl. z. B. ADAMZIK 2016, 231f.: „Die relevante Minimaleinheit [bei der Analyse von „Inhaltskomplexen“] sind […] Propositionen. Diese können bereits durch einzelne Wörter (Wohnungsbrand) oder Wortgruppen (in der heimgesuchten Wohnung) repräsentiert sein; daher können in einem einzelnen Satz mehrere (bis viele) erschei-nen. Eine vollständige Propositionsanalyse ist außerordentlich aufwendig und gerät schnell an die Grenzen kog-nitiv verarbeitbarer Darstellungsformen […]. Sie ist daher nur bei sehr kurzen Texten oder Textpassagen möglich

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Subjekt (= Referenz) und Prädikat mit dazugehörigen Objekten (= Prädikation) eine Proposi-tion bilden, während bei Attributen und adverbialen Bestimmungen der IllokuProposi-tionsstatus je-weils genauer untersucht werden muss. Entsprechendes gilt dann auch für Subjekt- und Ob-jektsätze auf der einen, Attribut- und Adverbialsätze auf der anderen Seite.781

Die vielfältigen Möglichkeiten, in einem einzigen Satz verschiedene (zusätzliche) Informatio-nen einzubetten, könInformatio-nen eine Illokutionsidentifikation sehr erschweren.782 Entscheidend im Hinblick auf die Propositionsermittlung ist, ob eine intentionale Weitergabe einer neuen In-formation vorliegt. Einem Element kommt ein eigener Illokutionsstatus nur dann zu, wenn es eine eigenständige Information enthält, nicht aber, wenn es zum Verständnis der Hauptinfor-mation unbedingt erforderlich (inforHauptinfor-mationstragend) oder lediglich informationsspezifizie-rend ist. Äußerungen, die einen bereits im Vorfeld formulierten Inhalt nur stilistisch variieren, ohne dass eine neue Information zu erkennen wäre, können demnach bspw. nicht als eigen-ständige Illokutionen gelten.783

1.3.2.2.2 Hilfsmittel zur Lösung von Problemfällen

In den meisten Texten findet man – aus sprachökonomischen und stilistischen Gründen – eine hohe Sprachverdichtung, die dazu führen kann, dass Illokutionen ohne vollständige Explizie-rung von Referenz und Prädikation formuliert werden.784 In solchen Fällen bietet sich zur Il-lokutionsidentifikation eine Erweiterungsprobe an, die Schmitt folgendermaßen erläutert:

„Eine Illokution ist dann anzunehmen, wenn ein gegebenes Äußerungsfragment so ergänzt oder umgeformt werden kann, dass es eine eigenständige (grammatisch unabhängige) und vollständige Proposition ergibt, wenn dabei die Restproposition ihre eigenständige illokutio-näre Funktion unverändert beibehält. Hierbei ist weder nach einer syntaktischen noch nach einer semantischen (informationsstrukturellen) Erweiterungsfähigkeit des Äußerungsteils ge-fragt, sondern nach einer pragmatischen, die sich darin manifestiert, dass das erweiterte Frag-ment innerhalb desselben Kontextes die gleiche vom Sprecher intendierte Aufgabe erfüllt wie das Fragment selbst.“785

bzw. sinnvoll, z.B. wenn es darum geht, einen sehr komprimierten Aussagenkomplex in seine Einzelbestandteile zu zerlegen, um Hintergründiges oder nur Implizites aufzudecken.“

781 Bei den adverbialen Bestimmungen können zusätzliche Angaben, die eine eigenständige Illokution darstellen, und spezifizierende bzw. präzisierende Ergänzungen, die keinen eigenen Illokutionswert haben, unterschieden werden.

782 Vgl. z. B. SCHMITT 2000, 46: „Im tatsächlichen Sprachgebrauch werden zahlreiche, vielleicht sogar die meisten Illokutionen wesentlich subtiler realisiert, als dass sie allein durch die Identifikation der grammatischen Entitäten Subjekt und Prädikat erfasst werden könnten.“ Vgl. a. ebd., 63ff. zu den verschiedenen „Möglichkeiten der Wei-tergabe zusätzlicher Informationen“ i. E. Vgl. außerdem ebd., 171ff. zur „Einbettung von Illokutionen“ (im Zu-sammenhang mit der Illokutionsklassifikation).

783 Vgl. ebd., 108f. (s. N. 789), wo „kommunikativ eigenständige“, „kommunikativ tragende“ und „kommunikativ untergeordnete“ Elemente unterschieden werden. Die Differenzierung wird an dieser Stelle entsprechend ange-passt, wobei es auch hier letztlich um die kommunikative Funktion geht, nur eben mit dem Fokus auf ihrer (sprachlichen) Realisierung als pragmatischer Information. Vgl. a. ebd., 59f. und ebd., 107f. (s. N. 789).

784 Vgl. z. B. ebd., 107. Vgl. a. HERINGER 2015, 30.

785 SCHMITT 2000, 59f. Vgl. a. ebd., 108. Vgl. außerdem ebd., 60: „Dieses Ergänzungs- bzw. Umformulierungskrite-rium ist das wichtigste KriteUmformulierungskrite-rium zur Illokutionsidentifikation. […] Das KriteUmformulierungskrite-rium geht […] im Gegensatz zu her-kömmlichen Ansätzen, die sich in ihrer Betrachtung zumeist auf die tatsächliche grammatische Ausformung be-schränken, von der Potenz einer intentional produzierten, jedoch innerhalb einer umfassenderen grammatischen

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In einigen Fällen führt die Erweiterungsprobe allerdings zu unbefriedigenden Ergebnissen.

Schmitt nennt als Beispiele Konditionale und Metasprechakte, bei denen die Annahme von zwei getrennten Illokutionen unnatürlich erscheine.786 Mithin gibt es auch den umgekehrten Fall, dass trotz (potenziell oder tatsächlich) vorhandener Verbindung von Referenz und Prädi-kation keine separate Illokution vorliegt. Dies gilt z. B. auch für restringierende und spezifizie-rende Attributsätze, die im Gegensatz zu freien Attributsätzen keine eigenständige Informa-tion beinhalten, sondern informaInforma-tionstragend oder -spezifizierend sind, und die meisten In-haltsbeziehungen. Letztere werden v. a. durch Objektsätze in Form von dass- bzw. quod- und Infinitiv(sätz)en, repräsentiert.787 Zu nennen sind außerdem direkte und indirekte Redewie-dergaben.788 Hinsichtlich der Textanalysen in dieser Arbeit sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass Zitate von Äußerungen des Briefadressaten von vornherein keinen eigenen Informations-wert besitzen. Ein solcher ist bei vielen stereotypen Formeln ebenfalls fraglich. Dabei zeigt sich allerdings der Unterschied zwischen semantischem und pragmatischem Informationswert bzw. kommunikativer Funktion, da sie trotz fehlenden Inhalts sehr häufig eine nicht zu unter-schätzende expressive Funktion besitzen, abgesehen davon, dass sie oft individuell abgewan-delt werden und dadurch ihren ursprünglichen Informationswert wiedererlangen können.

Zur Beantwortung der Frage, ob eine Information wirklich mit einer eigenständigen kommu-nikativen Funktion verbunden oder kommunikativ nur untergeordnet bzw. tragend ist, kann eine Weglassprobe (= Omissionsprobe) durchgeführt werden, zu der Schmitt anmerkt: „Hier-bei werden in Frage kommende Äußerungsfragmente gestrichen, um zu sehen, in wieweit [!]

sich die Äußerungsbedeutung verändert. Diese Methode kann als ein schnelles heuristisches Hilfsmittel zur Identifikation von Illokutionen angesehen werden, die dem primären Identifi-kationskriterium [= Erweiterungsprobe] jedoch immer untergeordnet ist. Sie eignet sich be-sonders für solche Illokutionen, die sich nur schwer in eine vollständige Proposition umformen lassen.“789

Struktur realisierten Illokution zur Bildung einer Proposition aus. Damit kann es als das primäre Identifikations-kriterium, die entsprechende Probe als Erweiterungsprobe bezeichnet werden.“

786 Vgl. SCHMITT 2000, 62: „Eine Erweiterung und die damit einhergehende Trennung in zwei verschiedene Aussagen ist zwar auch bei Konditionalen […] und neutralen (d. h. für den jeweiligen Sprechakt ohnehin zu erwartenden) Metasprechakten […] bzw. textuellen Markierungen grammatisch möglich, erscheint aber im Vergleich zu den ursprünglichen Äußerungen als zu künstlich, um noch als natürlicher Einzelsprechakt gelten zu können […].“ Vgl. a. ebd., 59f.

787 Vgl. ebd., 59.

788 Vgl. dazu auch ebd., 171ff. („Einbettung von Illokutionen“).

789 Ebd., 61. Vgl. a. ebd., 108f.: „Bei der Anwendung der Omissionsprobe […] lassen sich drei verschiedene kom-munikative Funktionen des jeweiligen Fragments unterscheiden: I) Das Fragment ist kommunikativ tragend (in-tentional äußerungsmodifizierend). Hierzu gehören folgende Fälle: a) Die Aussage der Äußerung wird bei Omis-sion des Fragments verfälscht. […] b) Die Äußerung wäre so nicht getätigt worden. […] c) Bei der OmisOmis-sion von Aufzählungsteilen geht ein für die wahrheitsgetreue Abbildung bedeutender Teil einer Gesamtheit verloren: […]

d) Es kommt zur (nicht-intendierten) Verletzung einer sozialen Norm: […] e) Die Äußerung verliert bei Omission an (intendierter) Abbildungsgenauigkeit oder kommunikativer Ausrichtung. […] f) Bei Omission des Fragments fallen zum vollständigen Verständnis der Äußerung notwendige Informationen weg: […] g) Bei Omission käme es zu einem falschen Verständnis der Äußerung. Der Kontext erfordert das Fragment: […]. II) Das Fragment ist kom-munikativ untergeordnet. Hierzu können folgende Fälle gezählt werden: h) Im Verständnis der Äußerung ändert sich durch die Omission nichts. […] i) Bei der Omission von Aufzählungsteilen geht ein eher unwichtiger Teil einer Gesamtheit verloren, z. B. bei der Aneinanderreihung von Beispielen. j) Das weggelassene Fragment hat zwar eine gewisse Unabhängigkeit von der kommunikativen Haupthandlung, ist jedoch für die Gesamtaussage der

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In Abhängigkeit von der (grammatischen) Form der Informationsübermittlung ist entweder die Erweiterungs- oder die Weglassprobe zu bevorzugen.790 Erstere eignet sich besonders für Ellipsen, Parenthesen, Fälle von (Ko-)Referenz und verschiedene Arten von Nebensätzen791, letztere kann „bei [fast] allen anderen grammatischen Entitäten […] als der schnellere und direktere Weg angesehen werden“792. Manchmal kommen (je nach konkreter Realisierung) auch beide Methoden in Betracht, z. B. bei Aufzählungen. Erweiterungs- und Weglassprobe können prinzipiell nicht nur bei Assertiva, sondern genauso bei anderen Sprechaktklassen an-gewendet werden, obgleich solche Illokutionen oft weniger komplex gestaltet sind und eher isoliert auftreten.793

1.3.2.3 Fazit

Die Vorgehensweise bei der Illokutionsidentifikation kann wie folgt zusammengefasst wer-den794:

Eine Illokution (als kleinste funktionstragende Einheit) wird ermittelt

1. aufgrund des eigenen Sprach- und Weltwissens (≈ Intuition), und zwar unter Berücksich-tigung des Kontextes

→ allgemeine und endgültige Einordnung

2. durch Propositionsanalyse (unter Berücksichtigung der grammatischen Strukturen), wobei Folgendes gilt: (eigenständige) Information ≈ Proposition = Illokution

→ „struktureller Anker“

Abbildung 5: Illokutionsidentifikation

Obschon am Ende doch auf die eigene Intuition zurückgegriffen werden muss, wird bei diesem Verfahren durch die Heranziehung substanzieller Kriterien eine – im Vergleich zu anderen Vor-gehensweisen – weitergehende Objektivierung gewährleistet, die zugleich den konkreten textlichen Gegebenheiten gerechter wird. Allerdings ist auch damit nicht immer eine exakte Abgrenzung aller Illokutionen voneinander möglich – was einer handlungssemantischen Ana-lyse aber nicht abträglich sein muss.795

Äußerung so bedeutungslos, dass eine Omission keine grundsätzliche Veränderung des Verständnisses mit sich bringen würde: […] In allen diesen Fällen handelt es sich bei den ausgelassenen Fragmenten nicht um Illokutio-nen. Hingegen besitzt ein Fragment Illokutionsstatus, wenn es kommunikativ eigenständig ist (Fall III), d. h. bei seiner Omission eine eigenständige Sprachhandlung wie etwa die Weitergabe einer Information über die Welt, den Sprecher, den Text, eine Einschätzung, eine Wertung, ein Relationsakt oder ein Direktivum verlorengeht.“

790 Vgl. SCHMITT 2000, 107.

791 Vgl. ebd., 108.

791 Vgl. ebd., 108.