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Besonderheiten der historischen Pragmatik

P RAKTISCHE H INWEISE

1.1 P RAGMATIK UND S PRECHAKTTHEORIE

1.1.2 Besonderheiten der historischen Pragmatik

1.1.2.1 Historizität und Kulturspezifität sprachlicher Äußerungen 1.1.2.1.1 Sprachliche Varietät

Inwieweit sind nun die Erkenntnisse und Methoden, die im vorangegangenen Kapitel be-schrieben wurden, auf eine Analyse von fam. 14 übertragbar? Schließlich beziehen sie sich (zumindest zum größten Teil) auf sprachliche Kommunikation in unserem heutigen Kultur-kreis405, während die Cicero-Briefe einer weit entfernten Epoche angehören, geprägt von einer ganz anderen Kultur. Dies betrifft nicht nur Sprache und Literatur, sondern ebenso sozio-kulturelle Verhältnisse wie Geschlechterrollen, Alters- und Berufsgruppen, Familienbeziehun-gen und Gesellschaftsschichten, die – neben eher individuellen, regionalen, medialen und si-tuativen Faktoren – Einfluss auf die sprachliche Ausgestaltung, den Inhalt, aber auch die Funk-tion sprachlicher Äußerungen nehmen können. Außerdem ist ihre spezifische Historizität zu beachten.406

402 Vgl. z. B. SZWED 2014, 40; HEINEMANN 2008, 131; ORTAK 2004, 104 und HEINEMANN UND HEINEMANN 2002, 86. Zur Illokutionsidentifikation vgl. a. das entsprechende Kap. ab S. 148.

403 Zum ISK vgl. z. B. BRINKER U. A.2014, 95 N. 31 (u. a. mit Bezug auf MOTSCH 1987 und BRANDT U. A.1983): „Bisher wurden im Rahmen dieses Ansatzes nur wenige konkrete Analysen zu komplexen Texten vorgelegt; es gibt z. B.

Analysen zu einzelnen Texten aus dem Bereich der Feststellungstexte […], der Anordnungstexte […], der produkt-begleitenden Texte […] und des Geschäftsbriefs […].“ HEINEMANN UND HEINEMANN 2002, 86 weisen auf die „Redu-zierung der Handlungsziele auf eine beschränkte Zahl von Handlungstypen“ hin, SZWED 2014, 40 spricht mit Bezug auf HARTUNG 2000 - 2001, 89 von einer „Einschränkung der funktionalen Erklärung von Texten durch die Festle-gung auf eine kleine Zahl von Handlungstypen (Illokutionen)“. Vgl. a. SCHRÖDER 2003, 21.

404 Vgl. z. B. ORTAK 2004, 104: „Einige Ergebnisse – etwa zur globalstrukturellen Sequenzierung von Illokutionen – sind durch die Spezifik des Textcorpus vorgezeichnet und nicht generalisierbar.“

405 Allerdings ist zu bemerken, dass dabei ein ziemlich weiter Zeitraum im 20. und 21. Jahrhundert erfasst wird und sich die betreffenden Arbeiten durchaus auf unterschiedliche Sprachen (v. a. Englisch und Deutsch) bezie-hen. Zum Kulturbegriff vgl. z. B. KUßE 2012, 25ff.

406 Vgl. JUCKER UND LANDERT 2017, 84ff., z. B. ebd., 87: „In principle, it would be important to explore all of the established levels of sociolinguistic variation – social class, gender, age, region and genre – to all sorts of prag-matic entities – speech acts, discourse markers, conversational styles and so on – in order to determine the interrelationship between synchronic variation at a given point in time and diachronic change. In reality many of these dimensions will remain very difficult to investigate because of the limited survival of relevant material and the impossibility of carrying out historical experiments.“ Vgl. a. BARRON 2017 („Variational Pragmatics“). Vgl.

außerdem FÖGEN 2001 über Cicero und dessen Einstellung zu den Varietäten im Lateinischen.

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1.1.2.1.2 Beispiele für den Einfluss historischer und kultureller Faktoren Emotionalität

Verschiedene Kulturen gehen z. T. unterschiedlich mit Emotionen um, bewerten diese anders und drücken sie v. a. anders aus.407 Die Unterschiede können sich dabei i. E. auf folgende As-pekte beziehen:

„Individualismus: Wird die Bedürfnisbefriedigung des Individuums oder die Rücksichtnahme auf die soziale Umgebung positiver bewertet? […]

Gefühlskomponente: Werden Emotionen eher als ein privates Phänomen oder als eine haupt-sächlich sozial relevante Erfahrung aufgefasst?

Moralische Wertigkeit einzelner Emotionen und situative Einbettung: Welche Emotionen gel-ten als angemessen in welchen Situationen?

Emotionsregulation: Welche Strategien im Umgang mit Emotionen werden für effektiv und zulässig erachtet?

Emotionsentwicklung und Emotionsausdruck: Wie unterstützt die Bezugsperson, die sehr stark durch ihre kulturelle Herkunft geprägt wird, die Emotionsentwicklung? Welche Formen des Emotionsausdrucks sind üblich?“408

Emotionalität ist wohl zu einem großen Teil gesellschaftlich geprägt (konstruiert) und unter-liegt zudem einem historischen Wandel. Einige grundlegende (universale) Komponenten ähneln sich jedoch in den verschiedenen Kulturen und Epochen und sind anscheinend biolo-gisch determiniert.409 Selbst hinsichtlich des sprachlichen Ausdrucks scheint es gewisse Uni-versalien zu geben, z. B. bei der Verwendung von Interjektionen und Reduplikationen.410

407 Zur Definition von ‚Emotion‘ und verwandten Begriffen wie ‚Gefühl‘, ‚Empfindung‘ und ‚Affekt‘, die in dieser Arbeit weitgehend synonym verwendet werden, vgl. z. B. ORTNER 2014b, 5ff. bzw. ebd., 13ff.; SCHWARZ-FRIESEL 2013, 43ff. und VAŇKOVÁ 2014, 11ff. Dort (z. B. ebd., 13) wird u. a. auch zwischen ‚Emotionsausdruck‘ (Zeigen von Emotionen), ‚Emotionsbeschreibung‘ (Sprechen über Emotionen) und ‚Emotionserregung‘ (Emotionalisierung) unterschieden. Ein Überblick über die Forschung zum Thema „Sprache und Emotion“ (mit Berücksichtigung u. a.

von Sprechakttheorie / Pragmatik und Sprachfunktionsforschung) findet sich z. B. in ORTNER 2014b, 45ff. Vgl. a.

SCHWARZ-FRIESEL 2013, 12ff. Zu Emotionen im antiken Rom (und Griechenland) vgl. z. B. KAZANTZIDIS UND SPATHARAS 2018a (Hoffnung); HARRIS 2018 (Schmerz und Freude); HARRIS 2004 (Wut); CHANIOTIS UND DUCREY 2013 (darin u. a.

MUSTAKALLIO 2013 zum Gefühl der Trauer); FULKERSON 2013 (Reue und Schuldgefühl); GRISWOLD UND KONSTAN 2012 (Vergebung); LACOURSE MUNTEANU 2011a (Emotionen in der Literatur mit besonderem Blick auf die Geschlechts-spezifik) und KASTER 2005 (zu den Grundemotionen verecundia, pudor, paenitentia, invidia, fastidium).

408 ORTNER 2014b, 151f. (mit Bezug auf HOLODYNSKI 2006 und HELFRICH 2003). ORTNER 2014b, 152 weist auch auf die Interdependenzen der Faktoren hin: „Teilweise korrelieren diese Faktoren miteinander, z.B. ist in kollektivistischen Kulturen oft auch eine höhere Machtdistanz zu beobachten […].“ Allgemein bemerkt sie (ebd., 150): „So, wie das Farbspektrum von Sprache zu Sprache höchst unterschiedlich mit Wörtern belegt wird, sind auch die Abstufungen der Emotionalität unterschiedlich fein und von verschiedenen Kategorien geprägt.“

409 Vgl. z. B. ebd., 41 und ebd., 153. Zur Historizität vgl. a. ebd., 160: „Die Regeln [der Emotionalität] unterliegen historischem Wandel und zeigen rollen-, geschlechts-, schicht- und (sub-)kulturspezifische Variation, in denen sich gesellschaftliche Bewertungen von Emotionen ausdrücken. Verstöße, Abweichungen und Abschwächungen sind möglich.“

410 Vgl. z. B. ebd., 188. Zu den Unterschieden beim sprachlichen Ausdruck von Emotionen in verschiedenen Spra-chen vgl. a. ebd., 158 (mit Bezug auf PAVLENKO 2005, 117f.). Vgl. außerdem ORTNER 2014b, 164 zu den sozialen und kulturellen Einflüssen: „Interpretationen von Sätzen, Äußerungen und Texten hängen ganz wesentlich an lexikalischen Entscheidungen und semantischen Beziehungen zwischen den einzelnen sprachlichen Elementen.

Emotionale Kommunikation ist somit nicht völlig idiosynkratisch, sondern durch soziale und kulturelle Schemata

69 Höflichkeit

Der Umgang mit Emotionen wird auch durch Höflichkeitskonventionen geregelt, die allerdings noch andere Aspekte des gesellschaftlichen Miteinanders betreffen.411 Wieweit Höflichkeits-regeln kulturspezifisch sind, ist dabei umstritten. Das bekannte Modell von Brown / Levinson beansprucht bspw., weitgehend universelle Regeln der Höflichkeit bzw. des Face-Manage-ments zu beschreiben. Menschen seien im Rahmen eines allgemeinen Kooperationsprinzips generell bemüht, das Gesicht anderer zu wahren.412 Als entscheidende Faktoren werden dabei

„degrees of social distance“, „degrees of (vertical) social hierarchy“ und „degrees of imposi-tions“ genannt: Je unbekannter man einer anderen Person, je höher deren (gesellschaftlicher) Rang und je größer ein evtl. erbetener Gefallen seien, umso höflicher verhalte man sich ten-denziell.413 Dieser Universalitätsanspruch wird vielfach in Frage gestellt, indem z. B. darauf hingewiesen wird, dass Höflichkeit durch bestimmte, für eine Gesellschaft spezifische Wert-vorstellungen geprägt sei, die mit den ihr jeweils eigenen sprachlichen Mitteln zum Ausdruck gebracht würden.414 Brown / Levinson gehen selbst durchaus von sozialen und kulturspezifi-schen Eigenheiten aus, stellen aber insgesamt fest: „[…] while the content of face will differ in different cultures (what exact limits are to personal territories, and what the publicly relevant content of personality consists in), we are assuming that the mutual knowledge of members’

public self-image or face, and the social necessity to orient oneself to it in interaction, are universal.“415

Davon abgesehen werden noch zahlreiche weitere Kritikpunkte gegen Brown / Levinson vor-gebracht – was jedoch genauso für alternative Ansätze gilt.416 Ein allgemein anerkanntes

Mo-mitbestimmt.“ Zu den Unterschieden beim sprachlichen Ausdruck von Emotionen in verschiedenen historischen Epochen vgl. z. B. ebd., 180: „Historische Texte weisen auch historische Emotionskonzepte, Grammatik, Semantik und Pragmatik auf, was in der Analyse eines Textes, der nicht aus der Gegenwart stammt, berücksichtigt werden muss.“

411 Zur Definition von ‚Höflichkeit‘ vgl. z. B. HUANG 2014, 142: „Politeness can be defined as any behaviour in-cluding verbal behaviour of an interlocutor to maintain his or her face and that of the individuals he or she is interacting with.“ Vgl. a. BROWN 2017, 383ff.; NEVALA 2010, 421f. und ROESCH 2004, 141f. In Bezug auf Höflichkeit als wissenschaftlichem Konzept spricht man von ‚second order politeness‘, die vom alltagssprachlichen Verständ-nis von Höflichkeit (‚first order politeness‘) unterschieden wird: Vgl. z. B. HUANG 2014, 143 und TERKOURAFI 2012, 618. Zur Höflichkeitsforschung insgesamt vgl. z. B. EHRHARDT 2018; UNCETA GÓMEZ 2018, 10ff. und UNCETA GÓMEZ 2014a, 3ff.; ARCHER 2017;BROWN 2017, 384ff.; DICKEY 2012b, 313ff.; KUßE 2012, 86f.; NEVALA 2010; HALL 2009, 5ff.

und HOPPMANN 2008, 530ff.

412 BROWN UND LEVINSON 2006, 311. Vgl. a. das Kap. „Subsidiäre Illokutionen“ ab S. 54, bes. N. 346.

413 Vgl. BROWN 2017, 386 bzw. ebd., 387f. Vgl. a. BROWN UND LEVINSON 2006, 319ff.

414 CATRAMBONE 2016, 174. Vgl. a. ebd., 175 und DICKEY 2012b, 315. Dazu und zu weiteren Kritikpunkten vgl. außer-dem N. 416.

415 BROWN UND LEVINSON 2006, 312. Vgl. a. BROWN 2017, 386ff., bes. ebd., 387f.: „Cross-cultural variability in polite-ness is attributable to facts of social structure, cultural meaning and cultural value (how hierarchical/egalitarian is the society, how much value do people place on respect and social distance vs brotherhood and conviviality, what kinds of social relationships do they have, how do they define situations and activities and what kinds do they find especially threatening, etc.), but across diverse societies, the same principles are at work producing analogous ways of putting things – communicative styles – in relatively analogous situations (e.g. intimate vs formal).“

416 Zur Kritik an Brown / Levinson vgl. z. B. EHRHARDT 2018, 287f.; UNCETA GÓMEZ 2018, 18; ARCHER 2017, 386ff.;

BROWN 2017, 388ff. und DICKEY 2012b, 313ff. Weitere bedeutsame Vertreter der Höflichkeitsforschung sind u. a.

Erving Goffman, Robin Lakoff, Geoffrey Leech, Marina Terkourafi und Richard Watts. In der neueren Forschung stehen u. a. Unhöflichkeit, alltagssprachliche Höflichkeitskonzepte, Beziehungsaspekte sowie die Kulturspezifik

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dell gibt es bislang nicht; alle Theorien haben ihre Stärken und Schwächen. Am weitesten ver-breitet, insbesondere auch in der historischen Pragmatik und speziell in der Latinistik, ist nach wie vor das Modell von Brown / Levinson: Es bietet eine umfassende und einfach anzuwen-dende Grundlage für Höflichkeitsanalysen – zwar nicht für alle, aber doch sehr viele (v. a. west-lich geprägte) Kulturen, und das sogar für Sprachen, die man nicht perfekt beherrscht.417 So hat z. B. auch Jon Hall418 den Ansatz aufgegriffen, allerdings mit Blick auf die Besonderheiten der römischen Gesellschaft modifiziert. In Anlehnung an die Unterscheidung von positiver und negativer Höflichkeit differenziert er eine „affiliative politeness“ zur Herstellung von Nähe und Verbundenheit (z. B. durch Zuneigungsbekundungen) und eine „redressive politeness“

zur Abmilderung und Kompensation von FTAs (z. B. durch Begründungen). Ergänzt wird eine dritte Kategorie: die zeremonielle „politeness of respect“ (lat. verecundia), mit der (z. B. durch respektvolle Anredeformen) die soziale Distanz der Kommunikationspartner betont wird.419 Gerade den (in Abhängigkeit vom Adressaten variierenden) formellen Höflichkeitsritualen, wie sie für die ‚politeness of respect‘ typisch sind, kommt in der stark hierarchisch geprägten römischen Gesellschaft ein hoher Stellenwert zu.420 Höflichkeit gilt dabei nicht nur als Zeichen

und Historizität von Höflichkeit im Mittelpunkt: Vgl. z. B. EHRHARDT 2018, 288ff.; UNCETA GÓMEZ 2018, 18; ARCHER 2017, 384f. und ebd., 394f. sowie HUANG 2014, 142ff.

417 Vgl. z. B. UNCETA GÓMEZ 2016a, 268 und RIDEALGH 2016, 150 sowie DICKEY 2016, 201 und ebd., 197f. Vgl. aber auch ebd., 207: „Despite all its drawbacks, Brown and Levinson’s framework has some real advantages that allow one to attain genuine insight into particular polite usages, though it did not in this trial [d. h. bei ihrem eigenen Anwendungsversuch] provide the easy shortcut that it is often thought to offer, since extensive scrutiny of data was required in order to employ the theory usefully.“

418 HALL 2009.

419 Ebd., 8ff. Vgl. a. DICKEY 2016, 204 und DICKEY 2012b, 317f. sowie UNCETA GÓMEZ 2016a, 268f. Zur Unterscheidung von ‚redressive politeness’ und ‚politeness of respect’ vgl. z. B. HALL 2009, 15: „[…] the Roman material is best analysed (I believe) by drawing a distinction between the more ceremonial politeness of respect, which derives from a broader cultural ethos (that is, the respect owed to individuals according to their age, gender, wealth, political position, and so on), and redressive politeness, which occurs in response to specific face-threatening acts.“ Vgl. a. UNCETA GÓMEZ 2016a, 269: „The division of negative politeness into two categories is similar to the one proposed by Andreas Jucker in various publications […]. The names given to these two categories are ‚de-ference politeness‘, which Jucker explicitly connects with Watts’ […] ‚politic behaviour‘, and ‚non-imposition po-liteness‘.“ Vgl. außerdem DICKEY 2016, 204 (mit Bezug auf KASTER 2005): „[…] this category [= politeness of respect bzw. verecundia] draws heavily on the work of Kaster (2005). Although Hall does not explicitly make this com-parison, his uerecundia is very similar to Watts’s politic behaviour.“

420 Vgl. z. B. HALL 2009, 4. Vgl. a. RIDEALGH 2016, 149f., dessen Ausführungen die besondere Bedeutung der ‚poli-teness of respect‘ als eigene Kategorie für die Analyse von Höflichkeitsaspekten in der Antike unterstreichen:

„[…] the modern concept of ‚politeness‘ needs to be better defined when it is applied to the ancient world, especially if the culture or language system under study has no direct terminology or understanding of ‚polite-ness‘ as it is defined today. This is primarily due to the ancient world having a fixed hierarchical structure, where social power and distance supported interpersonal relationships and were maintained by set linguistic structures.

The assessment of such relationships and communicative acts in the ancient world is not fully compatible with modern frameworks of politeness, and so one of the difficulties faced is that when politeness frameworks are too theoretical or reliant on modern concepts and technology, it is not always possible to utilize them in the same way as if a modern language was under review.“ Zum (fehlenden) Höflichkeitsbegriff bei den Römern bzw.

verwandten Konzepten wie humanitas, urbanitas, dignitas, observantia und verecundia vgl. außerdem HALL 2009, 4 bzw. ebd., 191 sowie UNCETA GÓMEZ 2019a und UNCETA GÓMEZ 2014a, 11, der (unter Verweis auf Watts) auch auf deren Einfluss auf die moderne Höflichkeitstheorie aufmerksam macht (vgl. N. 436). Vgl. des Weiteren GIORGIO 2015, 106 zur Vereinbarkeit von Face-Konzept und (weniger „aggressiver“) antiker sermo-Theorie.

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gegenseitiger Achtung, sondern auch von Bildung und dient v. a. dem Herstellen und Aufrecht-erhalten von Kontakten.421 Hinsichtlich der sprachlichen Realisierung von höflichen Sprechak-ten sind dabei durchaus ÄhnlichkeiSprechak-ten mit unseren modernen Sprachen festzustellen.422 Sprechakte

Jede Kultur bzw. Sprache hat ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten, sowohl was die gramma-tische und semangramma-tische als auch die pragmagramma-tische Ebene betrifft. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit stellt sich dabei insbesondere die Frage, wieweit Sprechhandlungen uni-versell oder historisch und kulturspezifisch geprägt sind. Dies wird durchaus kontrovers disku-tiert.423

Tendenziell wird den übergeordneten Sprechaktkategorien eher eine universelle Bedeutung zugemessen424, jedenfalls sofern diese deduktiv abgeleitet sind und Handlungsfunktionen der menschlichen Kommunikation allgemein zu erfassen versuchen, wie z. B. bei der Klassifikation Searles, also nicht induktiv erschlossen worden sind, wie z. B. bei der Klassifikation Wunder-lichs, die nicht so leicht auf andere Sprachen übertragbar ist, weil sie von den syntaktischen Gegebenheiten der deutschen Sprache ausgeht.425

In Bezug auf die einzelnen Untermuster wird dagegen häufiger auf kulturspezifische Beson-derheiten hingewiesen. Manche Sprechakte seien bspw. nicht in allen Kulturen anzutreffen, einige würden nur in wenigen oder sogar nur einer einzigen Kultur existieren. Insgesamt

421 Zur Funktion von Höflichkeit im antiken Rom vgl. z. B. HALL 2009, 25 und (mit besonderem Bezug auf die po-liteness of respect) ebd., 191f.

422 Vgl. z. B. ROESCH 2004, 143ff. und DICKEY 2012a, 731.

423 Vgl. z. B. die ziemlich extreme Auffassung hinsichtlich der Universalität von Sprechakten von Schlieben-Lange:

„Meine (zugegebenermaßen starke) These ist: Es gibt keine universellen sprachlichen Handlungen, sondern nur je historisch bestimmte, unterschiedene, konventionalisierte sprachliche Handlungen. […].“ (SCHLIEBEN-LANGE 1976, 114). Sie gesteht eine universalistische Perspektive nur einer allgemeinen (eher sprachphilosophischen) Kommunikationstheorie zu: „Trotzdem ist die universalistische Fragestellung sinnvoll, aber nicht als Beschrei-bungsmöglichkeit für sprachliche Handlungen, sondern als Frage nach den normativen Sätzen, die Kommunika-tion regeln, als Fundament für eine Ethik des Sprechens.“ (ebd., 118) und stellt sich damit u. a. gegen die Auffas-sung von Wunderlich, der „gelegentlich von ‚naturwüchsigen‘ Sprechakten [rede], ohne daß deren Status ge-nauer erklärt würde.“ (ebd., 114), und Harald Weydt (vgl. SCHLIEBEN-LANGE U. A.1979). Vgl. dazu auch JACOBS UND JUCKER 1995, 20. Vgl. außerdem den Verweis in ebd., 19 auf die ebenfalls rigide Position von Wierzbicka (vgl.

WIERZBICKA 2003): „[…] different cultures, or one culture at two different points in history, may very well encode a different range of speaker intentions. Wierzbicka […] goes even further and advocates a kind of neo-Whor-fianism, i.e. she believes that speech acts are so culture-specific that we cannot compare them across cultures.“

Vgl. des Weiteren HUANG 2014, 152ff. (zu „Speech acts and culture“).

424 Vgl. a. LIEDTKE 2018, 39: „Bei der Diskussion im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Kulturspezifik ist es […] wichtig, die argumentativen Ebenen zu beachten, auf denen sich die Diskussion abspielt. So spricht die Tatsache, dass es kulturspezifische Realisierungen von Sprechakttypen gibt, nicht gegen den universellen Cha-rakter der Typen selbst – sondern setzt diesen mit der Redeweise von ‚Ausprägungen‘ geradezu voraus. Eine radikal kulturrelativistische Sicht würde dann die Universalität der Kategorien selbst bestreiten müssen, etwa derart, dass sich in einer spezifischen Kultur keine Sprechakte des einen oder anderen Typs nachweisen lassen, oder eben in dieser Kultur Sprechakte vorkommen, die es in keiner anderen gibt. Ob dies sich allerdings auf der allgemeinen Ebene der Sprechakttaxonomie mit (mehr oder weniger) fünf Sprechaktklassen zeigen lässt, er-scheint zweifelhaft. Kulturspezifische Vorkommnisse (oder Abwesenheiten) von Sprechakttypen lassen sich in der Regel auf einer feinkörnigeren Ebene aufzeigen, unterhalb der Taxonomie, wie sie beispielsweise von J. R.

Searle vertreten wurde.“

425 Vgl. z. B. WAGNER 1995, 270 und WAGNER 1997, 24. Zu Wunderlich vgl. a. ebd., 51 sowie WUNDERLICH 1976, 77ff.

und ebd., 148ff. Zu Searle bzw. den sprachphilosophischen Klassifikationen allgemein vgl. a. WAGNER 1997, 48ff.

Vgl. außerdem PRASALSKI 2010, 18 und SBISÀ 1995, 503.

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scheint es aber so zu sein, dass es einen Kern universeller Handlungsmuster (z. B. GRÜSSEN, ERZÄHLEN und ZUSTIMMEN) gibt.426 Allerdings können diese sich im Laufe der Zeit verändern, was z. B. ihre Ritualität und die genaue Interpretation betrifft. So haben sich Begrüßungsritu-ale, die sich ja (in synchroner Sicht) interkulturell häufig ebenfalls stark unterscheiden, (intra-kulturell) historisch i. d. R. gewandelt. Einige Handlungsmuster verlieren oder gewinnen an Bedeutung, eine evtl. vorhandene institutionelle Einbindung entfällt oder entsteht neu. Ent-sprechend können sich auch die Folgen bei der Be- bzw. Missachtung von Regeln im Zusam-menhang mit bestimmten Sprechhandlungen ändern, d. h. die (zu erwartenden und tatsächli-chen) Reaktionen der Adressaten und ggf. weiterreichende Handlungskonsequenzen bzw.

Sanktionen.427 Am augenfälligsten zeigen sich Unterschiede in der konkreten (sprachlichen) Ausgestaltung von Sprechakten, z. B. im Hinblick auf das Ausmaß an Direktheit bzw. Indirekt-heit, das in einer bestimmten Kultur üblich ist. Teilweise wird aber auch hier von sprachlichen Universalien ausgegangen.428

Textsorten

Textsorten sind ebenfalls mehr oder weniger stark kulturspezifisch bestimmt: „Besonders aus-geprägt ist das überkulturelle Moment in Texten, die nicht an die Kultur eines Landes gebun-den, nicht aus ihr hervorgegangen sind, sondern ‚jenseits‘ von Sprach- und Kulturgrenzen eine eigene Kultur konstituieren […]. Textsorten, deren Schwerpunkt auf der einzelkulturellen Spe-zifik liegt, können sich in sehr verschiedenen Einzelaspekten unterscheiden: z. B. Unterschiede in Textlokution oder Textproposition, in Themenentfaltung und Argumentationsweise, Unter-schiede in textsortentypischen Sprachhandlungen und schließlich sogar in der Frage, wer die Textsorte realisieren (‚benutzen‘) darf […].“429 Klar ist zudem, dass Textsorten einem histori-schen Wandel unterliegen, was z. B. ihren allgemeinen Stellenwert, ihre konkrete sprachliche und inhaltliche Ausgestaltung sowie die Häufigkeit bestimmter Formelemente betrifft.430 In diachroner Perspektive können zudem jeweils andere Funktionen mehr zum Tragen kommen,

426 Vgl. z. B. LEVINSON 2017, 206: „Is there a finite set of speech act types, and if so how big is it? The answers are that we really don’t know. Is the set universal in character? Not in the sense that all speech acts are pan-cultural […], but it is an open question as to whether there is a pan-cultural core with such plausibly general functions as telling, questioning, greeting, agreeing, or initiating repair.“ Vgl. a. SCHLIEBEN-LANGE U. A.1979, 73 und WAGNER 1997, 49. Vgl. außerdem LIEDTKE 2018, 39 bzw. N. 424 sowie das Kap. „Antike“ ab S. 11 zu einigen bereits von den alten Griechen und Römern benannten Sprechhandlungsmustern (wie z. B. ERZÄHLEN).

427 Vgl. z. B. die Ergebnisse der Analyse mittelalterlicher Wörterbücher bei SCHLIEBEN-LANGE 1976, 115ff. und die diachrone Untersuchung der Sprechakte GRÜSSEN und KOMPLIMENT sowie des Nachrichtendiskurses bei JUCKER 2017, 557ff. Vgl. a. WAGNER 1997, 313.

428 Vgl. z. B. WÜEST 2011, 42 (mit Bezug auf WIERZBICKA 2003 und BLUM-KULKA U. A.1989) zur größeren Direktheit des Polnischen im Vergleich zum (australischen) Englisch sowie WAGNER 1997, 49: „Alle Sprachen besitzen ein bestimmtes Repertoire an sprachlichen Hinweisen auf Sprechaktkategorien […]. Auch wenn es in jeder Sprache verschieden sein dürfte, ist aber die Annahme, d a ß es in jeder Sprache ein solches Repertoire gibt, wohl univer-sal. […] Auch die […] Grundmöglichkeiten der sprachlichen Formung von Sprechakten gehören zu den universalen Annahmen.“

429 FIX 2014, 32f. Vgl. a. HEINEMANN 2000 - 2001c, 515: „Da Textsorten kondensierte Reflexe kommunikativer Auf-gaben darstellen, darf man auch von der universellen Geltung zahlreicher Basistextsorten ausgehen, variiert und

429 FIX 2014, 32f. Vgl. a. HEINEMANN 2000 - 2001c, 515: „Da Textsorten kondensierte Reflexe kommunikativer Auf-gaben darstellen, darf man auch von der universellen Geltung zahlreicher Basistextsorten ausgehen, variiert und