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5.9 Prädiktoren bezüglich Belastungserleben und maladaptiven Verarbeitungs- Verarbeitungs-formen der Angehörigen

5.9.1 Prädiktoren für eine hohe subjektive Belastung der Angehörigen

In die CART-Analysen zur subjektiven Belastung der Angehörigen konnten 129 der 145 Angehörigen der Stichprobe eingeschlossen werden, so dass die Ergebnisse der Analysen repräsentativ für die vorliegende Stichprobe sind. Die Angehörigen geben im Durchschnitt 15.9 verschiedene Belastungen im Belastungsfragebogen an, was die Viel-zahl und Vielfältigkeit der Belastungen der Angehörigen in ihrem Alltag mit den Er-krankten widerspiegelt. Entsprechend den Ergebnissen der CART-Analysen differenzie-ren fünf Variablen besonders gut zwischen Angehörigen, die viele Belastungen nennen, und Angehörigen mit wenigen Belastungen in Folge der Fürsorge für den Patienten. Die erste Differenzierung zeigt, dass die 46 Angehörigen von Patienten mit chronischem Krankheitsverlauf durchschnittlich 2.4 Belastungen mehr nennen als die 83 Angehöri-gen von nicht chronisch kranken Patienten. Dieses Ergebnis bestätigt bisherige Studien, welche Chronizität und Dauer der Erkrankung als Belastungsfaktoren belegen (Lowyck et al., 2004; Mittelman, 2005). Dauert die Erkrankung lange bzw. ist keine Besserung absehbar, so sind die Angehörigen häufig erschöpft und brauchen Erholung, welche jedoch durch die anhaltende Krankheitssymptomatik schlichtweg nicht möglich ist.

Chronizität und Dauer der Erkrankung sind deshalb entscheidende Marker hinsichtlich der Ermittlung von Hoch-Risiko-Angehörigen bzgl. notwendiger Unterstützung.

Von den Angehörigen der chronisch kranken Patienten geben darüber hinaus dieje-nigen 31 Angehörigen 2.7 Belastungen mehr an, deren Familienmitglied an einer chro-nischen Schizophrenie, bipolar affektiven Störung oder Persönlichkeitsstörung leidet im Vergleich zu den 15 Angehörigen der chronisch depressiven Patienten. In der deskripti-ven Auswertung der Global-Belastungswerte, welche allerdings auf der Stichprobe aller

Angehörigen und nicht nur der Angehörigen der chronisch Erkrankten basiert, schätzten sich die Angehörigen der depressiv Erkrankten ebenfalls als am geringsten belastet ein.

Der Unterschied zu den Angehörigen der schizophren Erkrankten liegt allerdings nur bei 0.7 Punktwerten. Hinsichtlich der Punktbewertungen liegen die Belastungsscores der vier Diagnosesubgruppen alle relativ nahe beieinander, so dass keine klare Abstu-fung in der Belastung in Abhängigkeit von der Diagnose des Patienten möglich ist. Al-lerdings weist das Ergebnis auf die bisher häufig stark unterschätzte und kaum unter-suchte Belastung der Angehörigen von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen hin. Hier besteht Forschungs- und Handlungsbedarf.

Von den Angehörigen der chronisch depressiv Erkrankten geben wiederum diejeni-gen 7 Angehöridiejeni-gen 2.6 Belastundiejeni-gen mehr an, die die gesetzliche Betreuung für den Er-krankten übernommen haben, im Vergleich zu den 8 Angehörigen, die nicht gesetzli-cher Betreuer ihres erkrankten Familienmitgliedes sind. Hinsichtlich der Frage, ob ein Familienmitglied die gesetzliche Betreuung des Erkrankten übernehmen sollte oder (besser?) eine neutrale dritte, amtlich bestellte Person, gibt es stark gegensätzliche Mei-nungen mit jeweils guten Begründungen. Unabhängig von der Frage, wer die Interessen des Erkrankten am besten vertritt, ist jedoch die Aufgabe der gesetzlichen Betreuung für den Angehörigen eine Belastung in zeitlicher wie auch insbesondere in emotionaler Hinsicht. Der Angehörige als gesetzlicher Betreuer muss manchmal auch Entscheidun-gen fällen, die zwar zum Wohle des Erkrankten, aber geEntscheidun-gen seinen Willen sind. So muss er möglicherweise eine Klinikeinweisung bei mangelnder Krankheitseinsicht be-antragen oder auch „nur“ die Zuteilung des wöchentlich oder monatlich dem Erkrankten zur freien Verfügung stehenden Taschengeldes übernehmen. Gegner der amtlich be-stellten Betreuung argumentieren, dass auch durch die amtliche Bestellung eines Be-treuers Belastungen für den Angehörigen erwachsen, insbesondere, wenn der bestellte Betreuer nach Meinung des Angehörigen die Interessen des Erkrankten nicht ausrei-chend kennt oder sie nicht gut vertritt. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen jedoch, dass zumindest bei Angehörigen, deren Belastungsgrenze bereits durch die Si-tuation mit dem Erkrankten erreicht oder gar überschritten ist, eine amtlich bestellte gesetzliche Betreuung des Erkrankten bei Bedarf anzuraten ist.

Von den Angehörigen der nicht chronisch kranken Patienten geben diejenigen 38 Angehörigen 2.2 Belastungen mehr an, welche mehr als 35 Stunden in der Woche Kon-takt mit dem Erkrankten haben, im Vergleich mit den 45 Angehörigen, die weniger als 35 Wochenstunden mit dem Erkrankten verbringen. Dieser Zusammenhang zwischen

erhöhter Belastung infolge vermehrten Kontakts zum Erkrankten ist auch in anderen Studien bereits belegt (Jungbauer et al., 2001a; Rose, 1996). Verbringt der Angehörige mehr Zeit mit dem Erkrankten ist notgedrungen die Zeit für anderweitige Sozialkontak-te und eigene FreizeitaktivitäSozialkontak-ten reduziert. So beklagen Angehörige in qualitativen Stu-dien immer wieder, dass ihnen mit zunehmendem Kontakt zum Erkrankten die Abgren-zung von ihm schwerer fällt und der Erkrankte auch immer „mehr und mehr“ erwartet (Schmid & Spießl, 2007; Schmid et al., 2008, Schmid et al., 2005b).

Schließlich ist auch die Höhe des Familieneinkommens eine entscheidende Größe im Belastungsempfinden, allerdings nicht in der erwarteten Richtung: Von den Angehöri-gen der nicht chronisch Kranken mit weniger als 35 Wochenstunden Kontakt mit dem Erkrankten nennen diejenigen 32 Angehörigen, die mehr als 3.000 Euro Familienein-kommen angeben, 2.5 Belastungen mehr als die 13 Angehörigen mit einem Familien-einkommen bis 3.000 Euro. Geht man davon aus, dass bei Angehörigen mit höherem Familieneinkommen finanzielle Belastungen infolge der Erkrankung nicht in dem Aus-maß belastend empfunden werden wie in Familien mit geringerem Haushaltsbudget, so ist eine andere Erklärung, dass ein höheres Familieneinkommen nur dann erreicht wer-den kann, wenn ein größeres berufliches Engagement vorliegt. Engagement bedeutet im heutigen Berufsleben meist zusätzliche Arbeitsstunden und/oder hohe Mobilität. Beides lässt sich mit den vielfältigen Alltagsaufgaben im Zusammenleben mit einen psychisch Erkrankten nur schwer vereinbaren und bedeutet zusätzliche Belastung.

Angehörige mit den genannten Merkmalen bilden eine Hoch-Risiko-Gruppe bezüg-lich einer hohen Belastung und haben besonderen Unterstützungsbedarf, um eigene Er-krankung und damit auch Minderung der Unterstützung des Patienten durch den Ange-hörigen zu verhindern.