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1.4.1 Definition und Abgrenzung zu Erbkrankheiten

In der Arzneitherapie hat die Forschung auf dem Gebiet der Pharmakogenetik in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen (Brockmöller und Tzvetkov 2008).

Pharmakogenetik ist die Untersuchung des Einflusses, den Gene auf die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten haben können (Kalow 2005). Zum einen reagieren Patientinnen und Patienten individuell sehr unterschiedlich auf die Einnahme gleicher Medikamente in gleichen Dosierungen. Dafür gibt es nicht-erbliche (umweltbedingte) Ursachen und genetische (angeborene) Ursachen (Evans und Relling 1999). Genetische Polymorphismen sind Varianten von Genen, die mit einer Häufigkeit von 1% oder mehr in der Bevölkerung vorkommen. Für seltenere Varianten gibt es keinen spezifischen Begriff.

Man spricht dann von seltenen Genvarianten oder, wenn sie bislang nur einmal beobachtet wurden, von Singletons. Die pharmakogenetische Forschung beschäftigt sich schon seit langem viel mit Polymorphismen in Genen, die für Proteine des Arzneistoffwechsels kodieren. Diese beeinflussen die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Medikamenten, sodass es zu Überdosierungen und unerwünschten Wirkungen oder sogar toxischen Effekten kommen kann. In der medizinisch angewandten Konsequenz ist das Ziel der pharmakogenetischen Forschung, Dosierungen von Arzneimitteln an die individuelle genetische Ausstattung von Patientinnen und Patienten anzupassen (Kirchheiner et al. 2006). Neben diesem Nutzen für die klinische Praxis wird die Pharmakogenetik zum anderen auch in der Arzneimittelentwicklung angewandt, um neue Medikamente oder Medikamenten-Angriffspunkte zu erforschen und die Arzneimittel-Sicherheit, auch in klinischen Studien, zu verbessern (Kalow 2005). Zum Beispiel werden Medikamente, deren Wirkungen und Nebenwirkungen sehr variabel sind und von Genvarianten abhängen, eher vermieden.

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Die Weiterentwicklung in der Forschung führte von der Analyse einzelner Kandidaten-Gene zur Nutzung genomweiter Analysen zur Klärung der Erblichkeit individueller Unterschiede im Ansprechen auf Medikamente (Evans und McLeod 2003). Diese genomweiten Analysen begründeten Ende der 1990er Jahre den Begriff der

„Pharmakogenomik“ in der medizinischen Literatur (Mini und Nobili 2009). Im Gegensatz zu monogenetischen Erkrankungen werden die meisten Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten durch das Zusammenspiel verschiedener Genprodukte bestimmt, sind also polygenetisch beeinflusst. Deshalb werden in der Pharmakogenomik auch genetische Polymorphismen in Angriffspunkten, Transportern oder Arzneimittel-metabolisierenden Enzymen erforscht (Evans und McLeod 2003). Genetische Variabilität in diesen Strukturen trägt bedeutend zum Auftreten von Nebenwirkungen in der Arzneitherapie bei (Nebert und Vesell 2004). Heutzutage werden die Begriffe Pharmakogenetik und Pharmakogenomik oft synonym verwendet (Mini und Nobili 2009).

Die Pharmakogenetik lässt sich durch zwei bedeutende Unterschiede von der Humangenetik abgrenzen. Zum einen befasst sich die Humangenetik unter anderem mit Erbkrankheiten (Nebert et al. 2008). Bestimmte erbliche Besonderheiten treten in einer Familie gehäuft auf, was zu Erkrankungen in der Familie in der Regel mit hoher Penetranz führt. Oft handelt es sich dabei um schwere Erkrankungen. Im Unterschied dazu ist ein Individuum, das eine pharmakogenetische Variante aufweist, gesund oder nur mit einem gering veränderten Risiko für manche Erkrankungen belastet. Dennoch kann sich diese pharmakogenetische Variante im Auftreten von Nebenwirkungen oder in einer reduzierten Wirksamkeit eines Medikamentes äußern (Kalow 2002). Zum anderen sind Erbkrankheiten in der Regel monogenetisch, also durch Mutationen in einem Gen, beeinflusst. Im Gegensatz dazu werden pharmakogenetische Varianten oft auch polygenetisch vererbt, da Arzneimittel von vielen verschiedenen Enzymen verstoffwechselt werden, für die unterschiedliche Gene kodieren (Nebert et al. 2008). Allerdings kommen auch pharmakogenetische Merkmale vor, die eher monogenetische Eigenschaften aufweisen. So ist der Stoffwechsel vieler Medikamente zu einem hohen Anteil fast monogenetisch durch die Zytochrom-P450-Enzyme (CYP) 2C19 oder 2D6 bedingt. Das Antikonvulsivum Mephenytoin wird zum Beispiel hauptsächlich über CYP2C19 verstoffwechselt, während das Antihypertensivum Debrisoquin und das Antiarrhythmikum Spartein vor allem von CYP2D6 metabolisiert werden (Goldstein 2001; Wijnen et al. 2007). Unterschiede zwischen dominanten monogenetischen und kodominanten Erbgängen lassen sich an der Häufigkeitsverteilung der so genannten Phänotypen, also der vererbten Eigenschaften,

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erkennen. Der dominante monogentische Erbgang zeigt eine zweigipflige (bimodale) Verteilungsfunktion, bei der sich für Zytochrom-P450-Enzyme vor allem die schnellen von den langsamen Metabolisierern unterscheiden. Beim kodominanten Erbgang findet sich eher eine dreigipflige (trimodale) Verteilung, bei der sich zusätzlich Unterschiede zwischen den Gruppen der homozygoten und heterozygoten Trägerinnen und Träger finden (Rietbrock et al. 2013).

In der Pharmakogenetik sind zahlreiche Varianten in Enzymen, Transportern, Rezeptoren oder anderen Proteinen bekannt, die mit einem Funktionsverlust oder veränderter Funktion einhergehen und damit beispielsweise für schwere Nebenwirkungen von Medikamenten verantwortlich sein können. In Tabelle 1 sind exemplarisch die Häufigkeiten wichtiger genetischer Polymorphismen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen dargestellt:

Tabelle 1 Beispiele funktionell bedeutender Varianten in Genen mit Relevanz in der

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1.4.2 Individualisierte Medizin in der klinischen Anwendung

Pharmakogenetik und Pharmakogenomik sollen in der individualisierten Medizin dazu genutzt werden, die optimale Dosierung eines Medikamentes für die jeweilige Patientin oder den jeweiligen Patienten auszuwählen und besonders von Nebenwirkungen gefährdete Patientinnen oder Patienten zu identifizieren, um deren Risiko für toxische Nebenwirkungen zu senken (Mini und Nobili 2009). Die Anpassung der Therapien an die individuelle genetische Ausstattung einer bestimmten Patientin oder eines bestimmten Patienten gestaltet sich allerdings dadurch schwierig, dass die meisten Arzneimittelwirkungen multifaktoriell bedingt und auch durch Umwelteinflüsse geprägt sind. Deshalb ist ein Ansatz die Zuordnung von Patienten zu einer Gruppe von Personen mit ähnlichen Eigenschaften, zum Beispiel den gleichen betrachteten Genen, als Grundlage der auf Daten zu Subgruppen basierten Medizin (Kalow 2002). Auch andere Faktoren wie Alter, Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit könnten für die Zuordnung genutzt werden. Beispielsweise kann ethnische Zugehöhrigkeit genetische Profile mitbestimmen, während der Prozess des Alterns die Expression von Genen und somit deren Aktivität verändern kann (Kalow 2006).

Aktuell können Pharmakogenetik und Pharmakogenomik vor allem in der Therapie mit Psychopharmaka und Antikoagulantien sowie in der Krebstherapie klinisch angewandt werden. Denn die Pharmakogenetik hat vor allem bei der gleichzeitigen Einnahme mehrerer Arzneimittel sowie bei der Einnahme von Medikamenten mit geringer therapeutischer Breite eine Relevanz. Besonders Arzneimittel, die in der Krebstherapie

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eingesetzt werden, zeigen eine geringe therapeutische Breite. Dazu kommt, dass Anti-Tumortherapien standardisiert dosiert werden, zum Beispiel angepasst an die Körperoberfläche, und somit oft toxische Nebenwirkungen auftreten (Mini und Nobili 2009). Eine besondere Herausforderung der Krebstherapie stellt die Tatsache dar, dass sowohl Mutationen in der Keimbahn als auch im Genom des Tumors die Toxizität und Wirksamkeit der Chemotherapeutika beeinflussen (Paugh et al. 2011).

Ein Beispiel dafür, wie Pharmakogenetik klinisch angewandt werden kann, ist die Therapie der Akuten Lymphoblastischen Leukämie bei Kindern mit dem Zytostatikum 6-Mercaptopurin. Dieses Medikament kann von dem Enzym Thiopurin-S-Methyltransferase (TPMT) inaktiviert werden. Das Enzym ist allerdings bei einem von 180 bis einem von 3.700 Menschen nicht aktiv. Patienten mit inaktivem Enzym laufen Gefahr, durch Akkumulation aktiver Metaboliten von 6-Mercaptopurin eine lebensbedrohliche Knochenmarkstoxizität zu entwickeln (Paugh et al. 2011). Auf dieser Grundlage begann man schon vor über 30 Jahren mit der individuellen Dosierung dieses Medikamentes (Evans et al. 2013). Doch obwohl der klinische Nutzen einer genetischen Testung für die Anwendung dieses Zytostatikums bewiesen ist (Relling und Ramsey 2013), gehört die Genotypisierung vor 6-Mercaptopurin-Applikation in der klinischen Anwendung in Europa noch nicht zum Therapiestandard (Brockmöller und Tzvetkov 2008).

1.5 Physiologische Grundlagen der Pharmakokinetik: Bedeutung von