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In der Pflicht des Antifaschismus

Im Dokument Deutschland im 20. Jahrhundert (Seite 96-100)

Die komplizierte Gesamtsituation, in der sich unser Land befindet und die in ihrer Härte unvergleichbar ist mit anderen schwierigen Punkten der DDR-Geschichte, enthält Gefahren und Chancen für einen erneuerten, einen demokratischen, freiheit-lichen Sozialismus in der DDR. In dieser Situation gilt es die antifaschistische Sub-stanz unserer Gesellschaft entschlossen zu verteidigen. Mehr noch: Ein erneuerter Sozialismus auf deutschem Boden braucht — lebensnotwendig! — einen lebendi-gen, aktiven, erneuerten Antifaschismus. Die DDR ist auch künftig nur als ein Ge-meinwesen vorstellbar, zu dessen Charakteristika der Antifaschismus gehört. Dabei kann auf viel Wertvolles aufgebaut werden. Allein schon die Existenz der DDR ist ohne antifaschistische Leistungen, die die deutsche und internationale Geschichte hervorgebracht hat, nicht denkbar. Die DDR verstand sich stets als antifaschisti-scher Staat. Viel wurde geleistet, um diesem Anspruch gerecht zu werden.

Sich neuen Anforderungen zu stellen bedeutet aber ebenfalls: Der Sozialismus in der DDR bedarf auch künftig eines unbestechlich klaren Bildes über die Verantwor-tung, die ihm aus dem faschistischen Erbe und den antifaschistischen Traditionen deutscher Geschichte zukommt. Verantwortung – das ist ein zentrales Stichwort.

Haftung zu übernehmen für den Fortgang der Geschichte der DDR in antifaschisti-schen und sozialistiantifaschisti-schen Bahnen schließt die Forderung ein, im Alltag, im Klima der Gesellschaft, in der öffentlichen Aufmerksamkeit den Antifaschismus – immer wieder neu – zu bewahren, sorgsam mit ihm umzugehen und neu zu entfalten. Die Kernfrage bleibt dabei seine Verinnerlichung durch den Einzelnen und so durch die Gesellschaft. Vor Illusionen sollte man sich dabei mehr denn je hüten. Rezepte gibt es nicht. Die Überlegungen vieler sind gefragt. Hier ist schwere Arbeit zu leisten;

Augenmaß und Feingefühl sind ebenso gefordert wie Entschlossenheit, sich von Falschem, Nichtbewährtem oder Überholtem zu trennen.

Zentrale Gedenkstätten, traditionelle Kundgebungen, Aufmärsche, Namensträ-gerbewegungen und vieles andere mehr gehören zum Umgang mit dem antifa-schistischen Erbe in der DDR. Dagegen soll auch nicht gesprochen werden. Es sei hier nachdrücklich Respekt bekundet vor der hingebungsvollen erzieherischen Arbeit all jener, die sich im Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR organisiert haben, in dem seit längerem nach wirksamen Formen antifa-schistischer Arbeit gesucht wird.

Doch es kann einfach nicht länger übersehen werden, dass manches im Um-gang mit dem antifaschistischen Erbe in erstarrten Ritualen abläuft, in Tonlage, Gestus und Umfang überlebt ist, Jugendliche nicht erreicht. Es sei hier plädiert für einen ideenreichen, sehr differenzierten Umgang mit dem Antifaschismus in der DDR. Es gilt, die Vielfalt der individuellen Zugänge zum Antifaschismus, die Konkretheit und den Reichtum in der Geschichtsvermittlung sowie die

Erschlie-ßung des gesamten moralischen Potentials des Antifaschismus zu sichern oder neu zu schaffen.

Der eine kommt über Thälmann und Dimitroff zu persönlichen Standpunkten, der andere über das Schicksal einer unbekannten Leningrader Familie oder über die Selbstzeugnisse eines Soldaten der USA-Armee zu unverlierbaren Einsichten.

Wieder andere schöpfen aus Dietrich Bonhoeffers Gebet und Weg, aus Graf Molt-kes Bekenntnis und Haltung, aus Martin Riesenburgers Tapferkeit Eigenständiges für die eigene Position. Mit Gewinn wird mancher in der DDR die immer wieder neue Befragung der Geschichte durch den Antifaschisten Willy Brandt verfolgen.

All dies und noch weit mehr gilt es aus der deutschen und allgemeinen Geschichte wie aus der Weltliteratur für das Volk der DDR zu erschließen! Ohne jedwede Enge, gute Ansätze weiter verfolgend, Berührungsängste und Provinzialismus überwindend, ist das nationale und internationale antifaschistische Erbe aus Wis-senschaft, Kultur und Kunst, Publizistik, aus elektronischen Medien selbstver-ständlich kritisch-produktiv und freimütig zu befragen. Gewiss brauchen wir ge-diegene regional- und ortsgeschichtliche Arbeiten etwa zum Widerstandskampf der KPD. Als kleines Land ist jedoch unsere Verantwortung umso größer, die Lei-stungen der Weltkultur, der Geschichtswissenschaft auch ferner Länder, Zeug-nisse von Menschlichkeit unter faschistischen Bedingungen aus möglichst vielen Staaten, Auseinandersetzung mit dem Faschismus von vielen weltanschaulichen, politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Standorten kennenzulernen und für die geistige und moralische Entwicklung in der DDR zu nutzen.

Die Ausstellung »Und lehrt sie: G E D Ä C H T N I S !«, die im Herbst 1988 von mehr als 60 000 Menschen in Berlin besucht wurde, verdeutlichte auf wohl bislang einzigartige Weise, was es allein in der deutschen Geschichte für die DDR noch zu erschließen gilt. Sie zeigte auch beispielhaft, welche moralische und erkenntnismäßige Kraft etwa im historischen Detail liegt. Für die Neugestal-tung von Schulbüchern wären diese Erfahrungen sehr gut zu nutzen.

In diesem skizzierten Sinne sei für Pluralität plädiert. Vonnöten ist ein Ge-schichtsverständnis, das von einem antifaschistischen Grundkonsens getragen wird, das jedoch vielgestaltigen Ausformungen und Interpretationen Raum bietet, bedingt z. B. durch die weltanschauliche und politische Position des einzelnen Geschichtswissenschaftlers. Für das geistige Leben, für die Ausprägung von Indi-vidualität, für einen toleranten und verständnisvollen Umgang miteinander kön-nen so möglicherweise neue Potenzen erschlossen werden.

Antifaschismus ist mehr als Traditionspflege. In vielen Bekundungen, die in der Krise und in dem großen und oft zornigen Aufbruch sichtbar und hörbar sind, wird sowohl von Vertretern der SED, aller anderen Parteien, des FDGB, der FDJ als auch aus den jüdischen Gemeinden, aus evangelischen und katholischen Krei-sen, aus dem Neuen Forum und anderen Interessengruppen, von Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst immer wieder auf den Antifaschismus als Erbe und Aufgabe verwiesen. Hier tritt eine höchst gewichtige Tatsache dieses Aufbruchs

zutage, mit der sorgsam umgegangen werden sollte. In diesem – im einzelnen recht differenzierten – Verweis auf die antifaschistische Botschaft liegen Chancen und Hoffnungen. Antifaschismus als Aufgabe – das heißt stets auch Toleranz üben, sich Lernprozessen zu unterziehen, mit dem anderen zu sprechen, ihn von seiner Position aus zu begreifen und ständig aufeinander zuzugehen.

Viele Mitglieder und Funktionäre der SED werden lernen müssen, sich für die antifaschistischen Wertvorstellungen anderer Kreise zu interessieren, ihnen zu-zuhören und mit ihnen angenäherte Meinungen, parallele Standpunkte und ge-meinsame Positionen zu formulieren. Viele Vorschläge, die die SED unterbreitet oder akzeptiert, berühren das antifaschistische Verständnis unmittelbar und heben historische Erfahrungen auf. Hier sei nur verwiesen auf die Erneuerung der sozia-listischen Demokratie, auf die Weiterentwicklung der volkseigenen Betriebe, die bekanntlich aus dem antifaschistischen Volksentscheid zur Enteignung der Nazi-und Kriegsverbrecher 1946 hervorgegangen sind, auf das zu erneuernde Selbst-verständnis der SED, das ohne Antifaschismus undenkbar ist, auf die Gewähr-leistung der Sicherheit unseres Staates, wobei dem Kampf gegen Rechtsextre-mismus, Neofaschismus, Antisemitismus zentrale Bedeutung zukommt, auf das zwingend notwendige Verhalten der Sicherheitskräfte strikt und unbedingt im antifaschistischen Sinne, auf die Auseinandersetzung mit nationalistischen Auf-fassungen.

Den ganzen moralischen Reichtum des Antifaschismus gilt es zu erschließen und vital zu halten. Zu prüfen wäre, ob die Gründung eines Bundes der Antifa-schisten in der DDR nicht die Erneuerung unserer Gesellschaft fördern könnte.

Antifaschismus bleibt natürlich ein gewichtiges Arbeitsfeld für Historiker.

Dazu ist in den siebziger und achtziger Jahren viel geleistet worden, z. B. zur Ge-schichte der KPD, das es zu vertreten und auszubauen gilt. Davon ausgehend, dass die marxistische Geschichtswissenschaft in der DDR eine neue historische Sicht vor allem auf das 20. Jahrhundert, auf die deutsche und internationale Ar-beiterbewegung in ihrer ganzen Breite sowie auf die DDR-Geschichte benötigt, stellen sich jedoch einige Fragen neu.

Konzeptionell nicht richtig ist eine lineare, von falschem Kontinuitätsdenken geprägte, die historisch-materialistische Widerspruchsdialektik vernachlässigende Darstellung der Geschichte der KPD. Sie verstellte u. a. die Sicht darauf, dass diese Partei, die hervorragende Leistungen im Kampf gegen Faschismus und Krieg erbracht hat, in einem ihrer reifsten Dokumente, dem Aufruf vom 11. Juni 1945, die Schuldfrage sehr differenziert aufwarf, sich selbst schuldig gefühlt und Verantwortung mit übernommen hat für das geschichtliche Versagen des deut-schen Volkes. Aus der Schulddiskussion, die nach 1945 auf deutschem Boden ge-führt wurde und die es wissenschaftlich aufzuarbeiten gilt, kann ein geschärfter Blick auf das moralische Selbstverständnis einer kommunistischen Partei und an-derer Kräfte gewonnen werden. Dazu ist heute zu wenig bekannt und oft mit der Formel »von den Siegern der Geschichte« zugedeckt worden.

Die Vereinigung von KPD und SPD und die Gründung der SED war eine her-ausragende antifaschistische Tat. Es sei dafür eingestanden, im Traditionsver-ständnis der SED wieder beide Hauptströme der deutschen Arbeiterbewegung in aller Deutlichkeit und mit aller Entschiedenheit zum Ausdruck zu bringen. In der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sollten alle wertvollen Leistungen, Erfahrungen und Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung in all ihren Strö-men aufgehoben seig. Mit dieser Blickrichtung in die Geschichte wäre auch die Erneuerung der Partei und ihres theoretischen wie historischen Selbstverständnis-ses anzugehen. So wäre auch die Geschichte unserer Partei ab 1918 neu zu erfor-schen und darzustellen.

Jüngste Entwicklungen hoben schmerzhaft ins Bewusstsein, was jahrelang in der Geschichtsschreibung der DDR verdrängt, verschwiegen oder nur codiert an-gedeutet worden ist: dass über Antifaschismus und über deutsche Arbeiterbewe-gung nicht ausreichend und nicht redlich geforscht und gesprochen werden kann, ohne die Stalinismus-Problematik in der deutschen Geschichte schonungslos zu klären. Das hat viele Seiten. Hier sei nur auf folgende Punkte verwiesen: Ge-nauere und auch ausführlichere Aussagen sind über Lebensschicksale der deut-schen Antifaschisten, die Opfer der Verbrechen Stalins wurden, in den Geschichts-darstellungen zu verankern. Es muss auch wissenschaftlich eine Aufgabe wie eine Frage des elementaren menschlichen wie des Parteianstandes werden, die Lei-stungen und Erfahrungen auch jener darzustellen, die überlebten, die in den fünf-ziger Jahren aus den Lagern in der UdSSR in die DDR kamen und hier mit großem Einsatz am Aufbau einer neuen Gesellschaft gearbeitet haben.

Weit schwieriger zu lösen sind jene wissenschaftlichen Aufgaben, die die lang-fristigen Auswirkungen des Stalinismus auf die Entwicklung des Sozialismus und des Antifaschismus in der DDR, deren Deformierungen und die mehrfachen An-läufe, diese zu beseitigen, betreffen. Zur Klärung des Stalinismus-Problems wird weit in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückzugehen sein. Dabei sind auch die Alternativproblematik in der Geschichte wie die Frage nach der Ausgrenzung kritischer Potentiale aus der revolutionären Partei und aus der sozia-listischen Gesellschaft von den zwanziger Jahren bis zur jüngsten Gegenwart auf völlig neue Weise zu stellen. Eine neue Sicht auf alte Quellen sowie die Er-schließung bislang unbekannter Quellen werden dafür unabdingbar sein.

In den in Bälde zu erwartenden Jahrhundert- und Jahrtausendbilanzen wird der Antifaschismus als ein kostbares Menschheitsgut seinen Platz finden. Als Deut-sche in der DDR, die wir in einer schicksalsschweren Zeit stehen, bleiben wir im Umgang mit dem Antifaschismus in einer besonderen Pflicht. Sie keine Sekunde zu vergessen, aus der Verbindung von Antifaschismus und demokratischem Sozialismus in der DDR neue Kraft zu erschließen, erweist sich als eine Aufgabe und eine Möglichkeit, die weit über die Schwere des Tages hinauszuweisen ver-mag.

Im Dokument Deutschland im 20. Jahrhundert (Seite 96-100)