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D. Stand der Pflegeversicherung

XIII. Pflegeversicherung im Ausland

1. Bezug von Pflegegeld im Ausland

Mit der solidarisch finanzierten sozialen Pflegeversicherung wird vorrangig das Ziel verfolgt, alle in Deutschland lebenden und dort krankenversicherten Personen (Deutsche und Ausländer)

ent-sprechend gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit abzusichern. Bei längerem Aufenthalt des Pflegebedürftigen im Ausland kann die Leistung der Pflegeversicherung nicht ins Ausland expor-tiert werden (Territorialitätsprinzip). Dies gilt unabhängig davon, ob die Mitgliedschaft in der Pfle-geversicherung bei Verzug ins Ausland endet oder fortgesetzt wird. In der sozialen Pflegeversi-cherung ruhen die Leistungen nach § 34 Absatz 1 Nummer 1 SGB XI, solange sich Leistungs-empfänger im Ausland aufhalten.

Um pflegebedürftigen Menschen einen Auslandsurlaub zu ermöglichen, ohne gleichzeitig voll auf die Leistungen der deutschen Pflegeversicherung verzichten zu müssen, sieht das SGB XI vor, dass bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr das Pflegegeld weitergezahlt werden kann. Dieser Leistungsanspruch entsteht mit jedem Kalen-derjahr neu. Daraus folgt, dass ein am 31. Dezember eines Jahres bestehender oder an diesem Tag endender oder ein vor dem 31. Dezember abgelaufener Leistungsanspruch bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ab dem 1. Januar des Folgejahres für sechs Wochen weiterbe-steht oder wieder auflebt.

Eine Ausnahme gilt bei Aufenthalt im Bereich der Europäischen Union (EU) und des Euro-päischen Wirtschaftsraums (EWR), da der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit dem Molenaar-Urteil vom 5. März 1998 entschieden hat, dass es sich bei dem Pflegegeld EU-rechtlich um eine

„Geldleistung bei Krankheit“ handele und es nach der Verordnung (EWG) 1408/71 oder nunmehr der Nachfolge-Verordnung (EG) 883/2004, von dem Staat, in dem man versichert ist, in andere Staaten der EU zu exportieren ist, wohingegen Sachleistungen auch nach dieser Entscheidung nicht exportiert werden. Somit ist in diesen Ländern kein Pflegesachleistungsbezug möglich.

Wie viele Versicherte der sozialen Pflegeversicherung, die in EU- und EWR-Staaten leben, ge-genwärtig Pflegegeld erhalten, wird statistisch nicht erfasst. Aufgrund der Zahlen über die durch-geführten Begutachtungen im Ausland (2010 waren es 1.875 Begutachtungen) und der Annah-me, dass eine durchschnittliche Pflegedauer von drei bis vier Jahren angenommen werden kann und nicht jede Begutachtung zur Anerkennung einer erheblichen Pflegebedürftigkeit führt, dürfte sich deren Anzahl auf schätzungsweise 5.000 Leistungsempfänger belaufen.

2. Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)

Im Berichtszeitraum sind drei Verfahren vor dem EuGH von besonderer Bedeutung für die Pfle-geversicherung:

2.1. Urteil des EuGH vom 16. Juli 2009 in der Rechtssache C-208/07 (Chamier-Glisczinski)

Die Ehefrau des Klägers des Ausgangsverfahrens, die in Deutschland in der sozialen Pflegever-sicherung versichert war, wurde in einem Pflegeheim in Österreich gepflegt. Die Pflegekasse hatte die Bewilligung von Pflegesachleistungen für die stationäre Pflege bei dauerndem Aufent-halt im Ausland abgelehnt. Der EuGH hat diese Entscheidung der Pflegekasse mit dem genann-ten Urteil vom 16. Juli 2009 bestätigt. Er hat aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des

Bayerischen Landessozialgerichts entschieden, dass sich ein Anspruch auf Pflegesachleistungs-export weder aus der Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Verordnung (EWG)) 1408/71 noch in Fällen eines dauerhaften Aufenthalts in einem anderen Mitgliedsstaat aus dem Primärrecht (Artikel 18 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft-EG-Allgemeiner Freizügigkeitsgrundsatz; Artikel 39 EG: Arbeitnehmerfreizügigkeit; Artikel 49 EG:

Dienstleistungsfreiheit) ergibt. Der EuGH hat damit den Anspruch auf Übernahme der Kosten für einen Aufenthalt in einem Pflegeheim in anderen Mitgliedsstaaten der EU verneint. Das EuGH-Urteil enthält keine Hinweise darauf, wie dies bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt bei Geltendmachung eines Anspruchs auf Erstattung von Kosten für stationäre oder ambulante Pfle-gesachleistungen zu beurteilen ist (siehe dazu auch unter Punkt D. XIII. 3.).

Das Urteil des EuGH ist bedeutend für Deutsche in anderen Ländern der EU (sowie des EWR), die trotz Wohnsitz in anderen Ländern der EU - z.B. auf Grund des Bezugs einer Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung - in Deutschland pflegeversichert sind. Entspre-chend der bisherigen Praxis kann in diesen Fällen nur das Pflegegeld gezahlt werden.

2.2 Urteil des EuGH vom 30. Juni 2011 in der Rechtssache C-388/09 (Da Silva Martins)

Herr Da Silva Martins war zunächst in seinem Heimatland Portugal und dann lange Jahre in Deutschland ansässig und sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seit 1974 war er bei der Bank-Betriebskrankenkasse (BKK) krankenversichert und ab Einführung der sozialen Pflegever-sicherung 1995 bei der dortigen Pflegekasse auch pflegeversichert. Seit 1996 bezieht er eine deutsche Altersrente und seit 2000 zusätzlich eine portugiesische Altersrente. Er bezog seit 2001 Pflegesachleistungen der Pflegestufe I nach § 36 SGB XI. Aufgrund eines zunächst als vorüber-gehend bezeichneten Aufenthalts in Portugal erhielt er das Pflegegeld der Pflegestufe I. Nach-dem die Pflegekasse erfahren hat, dass Herr Da Silva Martins sich dauerhaft in Portugal aufhält, hat sie die Zahlung des Pflegegeldes eingestellt und bereits gezahltes Pflegegeld zurück gefor-dert.

Diese Entscheidung wurde vom EuGH nicht bestätigt. Er hat mit dem genannten Urteil vom 30. Juni 2011 aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden, zum einen müsse die Möglichkeit des Abschlusses einer freiwilligen Weiterversi-cherung nach § 26 SGB XI eingeräumt werden. Zum anderen könne bei Abschluss einer freiwilli-gen Weiterversicherung dann auch ein Anspruch auf Export des Pflegegeldes durch die deut-sche Pflegeversicherung bestehen. Zwar sei der Kläger des Ausgangsfalls grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedsstaates zugeordnet, hier sei Herr Da Sil-va Martins als Doppelrentner dem portugiesischen System zugeordnet, dennoch fände dieser Grundsatz keine Anwendung, da es sich bei der deutschen Pflegeversicherung um eine Pflicht-versicherung handele und die Ausnahme des Artikel 15 Absatz 1 der Verordnung (EWG) 1408/71, wonach die dort aufgeführten Bestimmungen nicht für die freiwillige Versicherung und die freiwillige Weiterversicherung gelten, somit einschlägig sei. Einer freiwilligen Weiterversiche-rung - und damit einer doppelten Beitragszahlung - stehe auch nicht entgegen, dass im vorlie-genden Fall im selben Zeitraum im portugiesischen System der sozialen Sicherheit eine

Pflicht-versicherung bestehe, da die versicherten Risiken nicht identisch seien (in Portugal das Risiko der Krankheit und in Deutschland das Risiko der Pflegebedürftigkeit).

Die Exportierbarkeit der Leistungen in den Wohnsitzstaat begründet der EuGH mit einer Ausle-gung des Artikel 28 der Verordnung (EWG) 1408/71 im Lichte der mit der Verordnung verfolgten Zwecke - insbesondere Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit für Wanderarbeitnehmer - unter Berücksichtigung der Besonderheit der Leistungen, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit betref-fen, gegenüber Leistungen bei Krankheit im eigentlichen Sinne. Im vorliegenden Fall, in dem ei-ne Rente sowohl von Deutschland als auch Portugal gewährt werde und die Möglichkeit eiei-ner freiwilligen Weiterversicherung der deutschen Pflegeversicherung bestehe, sei daher von der deutschen Pflegeversicherung das Pflegegeld weiter zu zahlen, wenn das portugiesische Recht keine Leistungen vorsehe, die das spezifische Risiko der Pflegebedürftigkeit betreffen. Letzteres habe nun das BSG zu prüfen. Wenn das portugiesische Recht Geldleistungen für das Risiko der Pflegebedürftigkeit vorsehe, die geringer als die Leistungen der deutschen Pflegeversicherung seien, habe die deutsche Pflegeversicherung den Unterschiedsbetrag, also ein anteiliges Pflege-geld, zu gewähren.

2.3. Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH (C-562/10)

Mit der o.g. Rechtssache Chamier-Glisczinski (siehe oben unter Punkt D. XIII. 2.1) hat der EuGH entschieden, dass die Pflegeversicherung bei dauernden Aufenthalt in anderen Mitglieds-staaten der Europäischen Union (EU) die Kosten für Inanspruchnahme von stationären Pflege-sachleistungen nicht erstatten muss.

Nun geht es bei einem - noch nicht entschiedenen von der EU-Kommission angestrengten Ver-tragsverletzungsverfahren - um die Frage, ob die Kosten für die Inanspruchnahme ambulanter Pflegesachleistungen bei einem vorübergehenden Aufenthalt in anderen Ländern der EU erstat-tet werden müssen oder ob nur ein Anspruch auf das Pflegegeld der deutschen Pflegeversiche-rung besteht, was in der Praxis nicht in Frage gestellt wird.

3. Zahlen zur Pflegebegutachtung im Ausland 3.1 Begutachtungsverfahren

Die Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI wird auch in den Ländern des EWR nach den in der Bundesrepublik Deutschland für die Gutachter der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung verbindlichen Begutachtungs-Richtlinien durchgeführt. Die Konferenz der Geschäftsführer der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung haben die Verantwortlich-keiten und ZuständigVerantwortlich-keiten für die Begutachtung in diesen europäischen Ländern innerhalb der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung aufgeteilt. In einigen EWR-Ländern, wie z.B. Polen, ist die Zuständigkeit auf mehrere Medizinische Dienste der Krankenver-sicherung verteilt.

3.2 Anzahl der Begutachtungen der Pflegekassen bei Pflegebedürftigen mit Wohnsitz in EU- und EWR-Staaten

Die Anzahl der jährlichen Begutachtungen von Pflegebedürftigkeit im gesamten Raum der EWR hat sich nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes in der Zeit zwischen 2007 und 2010 weitge-hend stabil gehalten, mit einer leicht (ca. 5%) fallenden Tendenz zu 2010 hin. Bei ca. 1,5 Mio.

Begutachtungen von Pflegebedürftigkeit pro Jahr im Inland hätten die knapp 2.000 Begutachtun-gen über alle EWR-Staaten einen Anteil von 0,1 % einBegutachtun-genommen.

Durchgeführte Begutachtungen im EWR Ausland 2007-2010

EWR-Pflegebegutachtungen 2007 bis 2010

EWR-Länder 2007 2008 2009 2010 2007 - 2010

Belgien 59 56 56 50 221

Bulgarien 0 3 2 4 9

Dänemark 1 6 2 13 22

Estland 0 0 0 0 0

Finnland 3 2 0 0 5

Frankreich 113 118 106 87 424

Griechenland 299 331 229 237 1.096

Großbritannien 15 9 8 12 44

Irland 1 3 3 4 11

Island 0 0 0 0 0

Italien 111 132 117 116 476

Lettland 1 7 1 1 10

Liechtenstein 2 0 0 0 2

Litauen 1 3 3 3 10

Luxemburg 2 1 3 5 11

Malta 1 1 0 0 2

Niederlande 22 34 31 26 113

Norwegen 0 3 2 4 9

Österreich 478 614 501 522 2.115

Polen 44 81 46 48 219

Portugal 87 84 62 51 284

Rumänien 1 6 5 6 18

Schweden 20 18 9 9 56

Schweiz 27 29 30 30 116

Slowakei 1 9 7 9 26

Slowenien 17 38 21 21 97

Spanien 620 744 505 569 2.438

Tschechien 11 30 22 12 75

Ungarn 30 50 42 36 158

Zypern 1 1 2 0 4

Gesamt 1.968 2.413 1.815 1.875 8.071

4. Private Pflegeversicherung

Im Berichtszeitraum 2010 wurden nach Angaben von MEDICPROOF 278 Auslandsgutachten erstellt. 51 % dieser Begutachtungen hätten in den direkt angrenzenden Nachbarländern Frank-reich, Luxemburg, Belgien, Tschechien, Polen, ÖsterFrank-reich, Schweiz und Dänemark stattgefun-den. Ein weiterer Schwerpunkt habe - wie in den Jahren zuvor - im Mittelmeerraum gelegen, wo-bei auf Spanien, einschließlich der Balearen und der Kanarischen Inseln, rund 17 % entfallen seien. 4 % der Begutachtungen hätten in Italien stattgefunden, die verbleibenden 28 % hätten sich auf die übrigen Länder des EWR verteilt.