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Die Orientierung der Pra- Pra-xis an der Forschung ist

Im Dokument Liebe Kolleginnen und Kollegen, (Seite 37-40)

„ Interesse am Menschen, mit einer nicht nachlassenden Neugierde zu verste-hen, wie Menschen „funktionieren“.

„

„ Reflektion des therapeutischen Han-delns vor einem theoretischen Hinter-grund, verbunden mit der Fähigkeit, theoretische Modelle zu verstehen und in therapeutisches Handeln umzuset-zen und Modelle zu Veränderungspro-zessen auf das eigene Handeln und die therapeutische Beziehungsgestaltung zu übertragen.

„

„ Fähigkeit zu zielgerichtetem Vorgehen im therapeutischen Prozess, Ziele nicht aus den Augen zu verlieren und die Einordnung therapeutischen Handelns in ein Prozessmodell.

Die Orientierung der Pra-xis an der Forschung ist unerlässlich: Das Beispiel Autismus

Die Durchführung von Psychotherapie ist nicht gleichzusetzen mit der Anwendung von „Therapierezepten“, sie setzt eine ste-tige Informationssuche und eigenständige Beurteilung neuer Ergebnisse zur Psycho-pathologie verschiedener Störungen, von Fortschritten in der Differenzialdiagnostik und von therapeutischen Methoden und deren Indikation voraus. Damit dies kein Lippenbekenntnis bleibt, dem man leicht zustimmt, soll im Folgenden an einem Bei-spiel exemplarisch aufgezeigt werden, was das bedeutet.

Noch bis Ende der 70er-Jahre ging man davon aus, dass die Interaktion zwischen Eltern und autistischen Kindern anders

abläuft als zwischen Eltern und gesunden Kindern. Dies wurde oft genug beobachtet.

Der Fehlschluss dabei war: Diese Andersar-tigkeit der Interaktion wurde als eine Ursa-che der Erkrankung angesehen und nicht als Folge und hat vielen Eltern Schuldge-fühle vermittelt und erhebliches Leid über die Familien gebracht. Forschung und The-oriebildung haben sich seitdem verändert;

es wird eine Vielzahl von Befunden und neuen theoretischen Modellen diskutiert, die hier nur ausschnittweise aufgeführt werden können (ausführliche Übersichten bei Klicpera & Innerhofer, 2002; Freitag, 2008). Wir beschränken uns auf die Be-reiche der Verhaltensgenetik, auf Auffäl-ligkeiten in der Reizverarbeitung und der

„theory of mind“. Anhand beispielhafter Befunde aus diesen Bereichen wird aber bereits deutlich, welches Wissen benötigt wird, um neue Theorien und Befunde rezi-pieren und beurteilen zu können.

Verhaltensgenetik

Vieles spricht für die Bedeutung einer bio-logischen Pathogenese des frühkindlichen Autismus: Das Erkrankungsrisiko von Ge-schwistern ist 50-fach erhöht, es wurde eine hohe Verhaltenskonkordanz bei einei-igen im Vergleich zu zweieieinei-igen Zwillingen festgestellt (Bailey et al., 1995), es besteht eine hohe Komorbidität mit geistiger Be-hinderung (Chakrabarti & Frombonne, 2001) und auch mit neurologischen Auf-fälligkeiten, wie z. B. Epilepsie (Fombonne, 1999) – um nur einige Befunde zu nen-nen, die dafür sprechen.

Zwar haben wir hier nur wenige Befunde aufgeführt, aber bereits zu deren Verständ-nis sind umfangreiche Grundlagenkennt-nisse nötig, z. B:

Wie wird ein Erkrankungsrisiko berechnet und interpretiert?

Was bedeutet es, wenn das Risiko eines Geschwisterkindes, ebenfalls an Autismus zu erkranken, z. B. bei 5% liegt?

Wie können Umwelteinflüsse von geneti-schen unterschieden werden? Wie müs-sen Untersuchungen angelegt sein, um diese Differenzierung zu ermöglichen?

4 Die Einschätzung persönlicher Voraussetzun-gen ist daher den Ausbildungsinstituten vor-behalten.

Wie werden Zwillingsstudien durchgeführt und deren Ergebnisse interpretiert?

Was bedeutet es, wenn z. B. in einer be-stimmten Studie die Konkordanz bei Mo-nozygoten bei 90% liegt und bei Dizygo-ten bei 0%? Wie ist bei den DizygoDizygo-ten die Abweichung zu anderen Studien zu erklä-ren?

Welche Gene sind beteiligt? Wie können genetische Veränderungen zu dem spe-zifischen Bild einer Autismusspektrums-Störung führen?

Welche Erklärungen gibt es für den Präva-lenzanstieg der Störung in den letzten 10 Jahren? Spricht dieser nicht doch für er-hebliche Umwelteinflüsse?

Welche neurologischen Erkrankungen können als Komorbidität auftreten, welche sind erworben, welche genetisch bedingt?

Wie verläuft eine ungestörte Intelligenzent-wicklung? Wie wird diese Entwicklung bei einer geistigen Behinderung verändert?

Welche Modelle der Intelligenzmessung und der Intelligenzentwicklung stehen zur Verfügung?

Kann die Intelligenz von autistischen Kin-dern überhaupt valide und reliabel gemes-sen werden? Wie müsgemes-sen Instrumente konstruiert sein, um diesen Anspruch zu erfüllen?

Theory of Mind

Autistischen Menschen fällt es schwer, an-dere Menschen als solche mit einem inne-ren Empfinden, das sich von ihrem eigenen unterscheidet, wahrzunehmen. Dies wird häufig mit einer mangelhaft ausgebildeten

„theory of mind“ (Premack & Woodruff, 1978) bezeichnet. Theory of Mind ist ein Konstrukt für ein Spektrum von Fähigkei-ten, die für eine soziale Kommunikation notwendig sind: Es erfasst alle kognitiven Fähigkeiten, fremdes und eigenes Verhal-ten und Erleben zu erkennen, zu verstehen, vorherzusagen und zu kommunizieren. Der Mangel an Theory of Mind wird mit unter-schiedlichen sog. False-Belief-Aufgaben (z.

B. „Sally and Anne“) erfasst, mit denen au-tistische Personen besondere Probleme ha-ben, sie zu lösen. Bedeutsam ist, dass diese Ergebnisse unabhängig sind von der Intel-ligenzentwicklung, wie vergleichende Un-tersuchungen mit Personen mit

Down-Syn-drom zeigten (Baron-Cohen, Leslie & Frith, 1985). Ein Mangel an Theory of Mind ist oft damit verbunden, dass nonverbale soziale Hinweisreize wie Prosodie und Mimik nicht verwendet werden, um Rückschlüsse auf die innere Befindlichkeit eines Menschen zu ziehen. Baron-Cohen (1992) zeigte auf, dass jedoch andere Aspekte der sozialen Wahrnehmung (z. B. die eigene Person von anderen Menschen oder unbelebte Objek-te von belebObjek-ten zu unObjek-terscheiden) oder die Personenpermanenz nicht gestört sind. In neuerer Zeit wird diskutiert, ob die Entwick-lung von Theory of Mind und der kogniti-ven Empathie in Zusammenhang steht mit einem unzureichenden Funktionieren des Spiegelneuronensystems.

Die Grundlagen zum Verständnis der Theory of Mind-Befunde werden in der Entwicklungspsychologie gelegt, hinzuge-zogen werden Experimente aus der allge-meinen Psychologie. Zum Verständnis ist weiter nötig: Wissen darüber, aus welchen Aspekten sich die soziale Wahrnehmung zusammensetzt und wie diese messbar ist, ebenso medizinische Kenntnisse zum Down-Syndrom, und neurowissenschaftli-che Kenntnisse, um die Funktion von Spie-gelneuronen zu verstehen.

Auffälligkeiten in der Reizverar-beitung – Mangel an zentraler Kohärenz

Zahlreiche Experimente beschäftigen sich mit den Auffälligkeiten bei der Reizverar-beitung von autistischen Kindern, die be-sonders durch den Vergleich mit gesunden und mit geistig behinderten Kindern inter-essante Ergebnisse brachten.

Autistische Personen scheinen Informatio-nen aus den proximalen Rezeptoren mit taktilen und kinästhetischen Informationen gegenüber jenen aus den distalen Rezep-toren mit visuellen und akustischen Infor-mationen vorzuziehen. Andere experimen-telle Befunde legen nahe, dass Autisten eher Einzelmerkmale wahrnehmen, bei geringer Tendenz, diese zu einem Gesamt-bild zusammenzufügen (Frith & Happé, 1994). Beim Erkennen eingebetteter Figu-ren gelingt es autistischen Kindern jedoch in einigen Experimenten sogar schneller, diese zu erkennen. Auch unterliegen sie weniger visuellen Illusionen.

Die Informationen aus verschiedenen Sin-nesgebieten können von Autisten nur schwer miteinander in Beziehung gebracht werden – dies bezeichnet man als einen Mangel an zentraler Kohärenz (Frith, 1989). Das Zu-sammenfügen von verschiedenen Reizen in einer Beziehung zueinander ist aber wahr-scheinlich von zentraler Bedeutung für das Verstehen einer komplexen Handlung oder eines komplexen Sachverhaltes.

Um die Befunde zur zentralen Kohä-renz zu verstehen, sind zunächst einmal Kenntnisse aus der Entwicklungspsycho-logie über die „normale“ Entwicklung eines Kindes und spezielle aus der kog-nitiven Neuropsychologie über die Reiz-verarbeitung notwendig. In den Studien wurden verschiedene Experimente und Paradigmen, wie z. B. der Mosaik-Test, Experimente mit „embedded figures“, zur Müller-Lyer-Täuschung oder zur Feldab-hängigkeit, eingesetzt. Studierende der Psychologie lernen diese in den Fächern Allgemeine Psychologie/Wahrnehmungs-psychologie kennen. Die Beurteilung aller Studien setzt, wie oben ausgeführt, diffe-renzierte Kenntnisse aus der Methoden-ausbildung voraus.

Was hat das alles mit der Behandlung autistischer Kinder zu tun?

Die Erkennung von Frühsymptomen ist au-ßerordentlich wichtig für die weitere Betreu-ung eines autistischen Kindes. Kenntnisse z.

B. zu gestörten Wahrnehmungsfunktionen, zur Entwicklung der Theory of Mind-Fähigkei-ten und zur Komorbidität mit neurologischen Erkrankungen erleichtern die Früherkennung und die Anwendung von Instrumenten zur Frühdiagnose. Hypothesen über gestörte Spiegelneuronen lassen erwarten, dass zu-nächst Modelllernen als Basis weiteren Ler-nens intensiv gefördert werden muss, wie es in einigen Trainingsprogrammen z. B. von Lo-vaas (1987) oder dem Bremer Elterntraining (Cordes & Cordes, 2009) geschieht.

Fazit

Die Weichenstellungen, die in einem Psy-chologiestudium vorgenommen werden, stellen eine unverzichtbare Voraussetzung

für eine Ausbildung zum Psychotherapeu-ten und seine spätere Tätigkeit dar. Dies gilt gleichermaßen für die Behandlung von Kindern wie von Erwachsenen. Das akade-mische Qualitätsniveau hat seit Einführung des Psychotherapeutengesetzes die Positi-on des Psychologischen Psychotherapeu-ten im Gesundheitssystem gefestigt.

Nutzen wir also die Chance des Bologna-Prozesses, um die ungleichen akademi-schen Voraussetzungen für Psychologische Psychotherapeuten oder Kinder- und Ju-gendlichenpsychotherapeuten auf ein ein-heitliches akademisches Qualitätsniveau zu bringen und damit die Voraussetzungen für einen Beruf zu schaffen! Widerstehen wir der Versuchung, die Anforderungen für alle herabzusetzen, weil dies der ganzen Pro-fession und ihrem Status im Gesundheits-wesen schaden würde. Diese Einschätzung resultiert nicht aus akademischer Arroganz universitärer Psychologen, sondern aus Sor-ge um unseren Berufsstand.

Diese Forderung soll nicht praktizierende Kinder- und Jugendlichenpsychothera-peuten mit pädagogischem Hintergrund abwerten und auch nicht die pädagogi-schen Studiengänge und deren Inhalte.

Sie heißt nur dies: Schaffen wir in Zukunft einen einheitlichen Grundstock für alle, die den gleichen Beruf ausüben wollen. Wer Psychotherapeut werden will, sollte von Anfang an durch ein Studium gehen, das diesen Grundstock vermittelt und gleiche und optimale Chancen eröffnet. Dies sind wir zukünftigen Psychotherapeuten und ihren Patienten schuldig.

Literatur

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Dr. Gisela Bartling

Westfälische Wilhelms-Universität Münster Fachrichtung Psychologie

Fliednerstr. 21 48149 Münster

bartling@psy.uni-muenster.de

Prof. Dr. Fred Rist

Westfälische Wilhelms-Universität Münster Fachrichtung Psychologie

Fliednerstr. 21 48149 Münster

rist@psy.uni-muenster.de

Dr. Walter Ströhm

APV-Gesellschaft für Angewandte Psycho-logie und Verhaltensmedizin mbH Georgskommende 7

48143 Münster walter@stroehm.de

Zusammenfassung: Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bei der Be-urteilung des Nutzens der Gesprächpsychotherapie angewandten Methoden werden kritisch untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass der G-BA seine Beurteilung nicht auf der Grundlage des aktuellen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgenom-men hat und so zu einem Ergebnis kommt, das weder von der Wissenschaft noch vom Berufsstand geteilt wird. Es erhebt sich der Verdacht, dass ein Interessenkonflikt vorliegt.

Psychotherapie?

Methodenkritische Anmerkungen zur Stellungnahme des Gemeinsamen

Im Dokument Liebe Kolleginnen und Kollegen, (Seite 37-40)