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Organisationsverständnis

3 Bestandsaufnahme: Erkenntnisgewinne und Grenzen von

6.1 Organisationsverständnis

In Anknüpfung an die im vorherigen Kapitel vorgestellten Überlegungen folgen wir bei der weiteren empirischen Analyse einem Organisationsver-ständnis, wie es insbesondere in aktuellen konstruktivistischen, mikropoliti-schen und strukturationstheoretisch inspirierten Ansätzen impliziert ist. Aus-gangspunkt ist daher, dass Verwaltungen nicht nur zweckrationale Organisa-tionen sind, in denen in arbeitsteiliger Form Leistungen oder Güter erstellt werden und in denen entsprechende formale „rationale“ Regeln der horizon-talen und vertikalen Arbeitsteilung, Aufgabenrealisierung, Positionszuwei-sung und Entscheidungsfindung zur Erreichung von vorgegebenen Zielen existieren, die das soziale Handeln der Akteure prägen. Vielmehr werden Organisationen, hier die Verwaltung, als soziale Kooperations- und Hand-lungssysteme gefasst, in denen zwar formale Regeln (z.B. hierarchisch ver-teilte Entscheidungsbefugnisse, vertikale Aufgabenverteilung, Verfahren der Bearbeitung von Aufgaben) existieren, zugleich aber Individuen agieren, die eigenständige Interessen verfolgen, Handlungsorientierungen ausbilden, In-teraktions- und Kooperationsmuster entwickeln und damit formale Regeln

14 Die Pilotphase der Einführung von GM in die Berliner Politik und Verwaltung ist gegenwärtig abge-schlossen, die Ergebnisse sind im „Zweiten Bericht über Gender Mainstreaming (einschließlich Gender Budgeting) in der Berliner Politik und Verwaltung" (Geschäftstelle Gender Mainstreaming) veröffent-licht worden. Aktuell wird die Hauptphase der Einführung vorbereitet, dazu werden relevante und geeig-nete Handlungsfelder für die Umsetzung von GM in den Verwaltungen identifiziert. (s. Internetseite der Geschäftsstelle: www.berlin.de/SenWiArbFrau/frauen/gender_gs/index.html)

und Normen im alltäglichen Arbeitshandeln erst zum Leben erwecken. For-male Regeln spannen also einen Handlungsrahmen und Entscheidungskorri-dor auf, erlauben und benötigen jedoch je spezifische subjektive Interpretati-onen. Die Akteure greifen dabei als Handlungsorientierung auf ihre subjekti-ven kognitisubjekti-ven Schemata zurück, die aus Skripten, Routinen und subjektisubjekti-ven Theorien (einschließlich der subjektiven Organisationstheorien) bestehen (Kieser 1998: 51). Sie beziehen sich aber zugleich auf subjektive Ressourcen wie spezifische Qualifikationen, Erfahrungen, Wissen und die ihnen struktu-rell zur Verfügung stehenden Ressourcen wie Entscheidungsbefugnisse, Aufgabenbeschreibungen, Verwaltungsverordnungen und Gesetze.

In diese subjektiven Deutungen, so ist zu erweitern, gehen zugleich zum ei-nen gesellschaftlich institutionalisierte Werte, Normen und Deutungsmuster wie auch strukturelle Verfestigungen ein. Vor dem Hintergrund von gesell-schaftlich vermittelten Interpretationsfolien (z.B. zum Verständnis von Ver-waltungen, zur geschlechtsspezifischen Rollenverteilung) aber auch struktu-reller Entwicklungen (z.B. auf dem Arbeitsmarkt, zur geschlechtsspezifi-schen Arbeitsteilung, dem wirtschaftsstrukturellen Wandel) bewerten Orga-nisationsmitglieder organisationale Prozesse und Strukturen in je spezifi-scher Weise. Diese Deutungsmuster werden in Organisationen über deren Mitglieder „hineingetragen“ und bei der Interpretation von Aufgaben und Zielen wie auch von formal geltenden Regeln angewendet.

Daraus resultiert die zentrale Annahme, dass Organisationsstrukturen (Re-geln und Normen) im alltäglichen Arbeitshandeln interpretiert, produziert, reproduziert und damit auch permanent modifiziert werden. Organisationale Strukturen sind nicht objektiv gegeben, sondern konstituieren und modifizie-ren sich permanent „durch Kommunikation und Handeln (Interaktionen). Sie werden ständig durch Kommunikation intersubjektiv interpretiert, auch neu interpretiert, und damit stabilisiert beziehungsweise verändert.“ (Kieser 1998: 53) Um überhaupt in der Lage zu sein, konkrete Handlungen auszu-führen, müssen also formale organisationale Regelungen von den Akteuren zunächst subjektiv interpretiert werden. Diese Interpretationen durch die in-dividuell verschiedenen Akteure mit ihren jeweils inin-dividuellen, auch ge-schlechtsspezifisch geprägten Werten und Normen werden aller Wahrschein-lichkeit nach nicht identisch sein. Damit sind auch vermeintlich objektive Strukturen einer Organisation wie z.B. die Hierarchieebenen interpretations-bedürftig. D.h., die formale hierarchische Struktur muss nicht mit der im or-ganisationalen Alltag gelebten übereinstimmen, sie kann in bestimmten Tei-len variabel sein, und verschiedene Akteure können ein unterschiedliches Verständnis der vorhandenen Hierarchie haben. Der Teil der Organisations-strukturen, der gemeinhin als „formal“ bezeichnet wird, also bspw. die offi-ziellen Aufgabenzuteilungen und die schriftlich fixierte Hierarchie wird als

„Ergebnisprotokoll“ verstanden. In diesem werden quasi die zuvor durch In-terpretation von Akteuren hergestellten Regeln schriftlich fixiert, um andere Organisationsmitglieder anzuhalten, ebenfalls nach diesen Regeln zu han-deln. Aber auch diese Regeln können den Organisationsmitgliedern allenfalls eine grobe Richtlinie für ihr Verhalten vorgeben, ob die Regeln befolgt wer-den und wie sie umgesetzt werwer-den, hängt in hohem Maß von der Interpreta-tion der Akteure und vom Maß der Übereinstimmung dieser InterpretaInterpreta-tionen ab. Je mehr Organisationsmitglieder eine Regel auf die gleiche Art und Wei-se interpretieren und sich danach verhalten, desto verfestigter und beständi-ger ist sie.

Organisationale Regeln sind somit grundsätzlich interpretationsbedürftig, sie entstehen aus Kommunikations- bzw. Interpretationsprozessen über die sub-jektiven Deutungen von Organisationsmitgliedern. Diese strukturellen Rah-menbedingungen kanalisieren jedoch zugleich das soziale Handeln in gewis-ser Weise. Regeln können in verschriftlichter Form oder in Form von Ver-haltenserwartungen oder Routinen existieren, sind aber immer veränderbar und wirken in Form von Interpretationsvorlagen auf die subjektiven Theo-rien der Organisationsmitglieder zurück. Dabei ist davon auszugehen, dass diese subjektiven Deutungen auch geschlechtsspezifisch geprägt sind und mit der Zuweisung von bestimmten Positionen wie auch Handlungsspiel-räumen und Entscheidungsbefugnissen an Frauen und Männer je positions- und geschlechtsspezifische Wahrnehmungen und Interpretationen von Auf-gabenstellungen und strukturellen Regelungen verbunden sind.

Ein weiterer zentraler Ausgangspunkt ist, dass Verwaltungen nicht losgelöst und unabhängig von konkret historischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungsprozessen existieren. Diese werden zum einen, wie bereist erwähnt, über subjektive Interpretationen der Verwaltungsangestellten in die Organisation hineingetragen, zum anderen aber in vielfältiger Weise durch politische Entscheidungen (z.B. zum Bürokratieabbau, zur Verwaltungsmo-dernisierung, zum Gender Mainstreaming) aber auch Ansprüche der Bürge-rinnen und Bürger sowie andere gesellschaftliche Interessengruppen konsti-tuiert. In individuellen Sozialisationsprozessen entwickelte Geschlechterbil-der und Rollenvorstellungen, individuell differente Vorstellungen und An-sprüche an Arbeit und Privatleben aber auch gesellschaftlich geprägte Nor-men zum Verhältnis von Beruf und Familie, zur Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen wirken dabei nach und wirken damit strukturgebend.

Diese werden mit den neuen Anforderungen, die sich aus Gender Mainstreaming und Verwaltungsmodernisierung ergeben, konfrontiert und geschlechtsspezifisch interpretiert, eben weil ein je historisch konkretes Ge-schlechterverhältnis auch strukturell verankert ist.

Die Konfrontation mit neuen Aufgaben, Anforderungen und institutionali-sierten Ansprüchen an die Verwaltung werden nach wie vor auch hierar-chisch vermittelt, indem (wie im Zusammenhang mit Gender Mainstreaming und Verwaltungsmodernisierung bereits dargestellt) strukturelle Vorgaben und Regeln durch politische Entscheidungsträger formuliert und in einem top-down Prozess von Führungskräften umgesetzt werden. Wie diese jedoch im alltäglichen Verwaltungshandeln gedeutet und umgesetzt werden, ist je spezifisch und obliegt der Ausgestaltung durch die Verwaltungsangestellten.

Organisationen können dabei einen „Eigensinn“ entwickeln, agieren doch in ihnen subjektive Akteure mit (auch geschlechts-) spezifischen Lebenslagen, Interessen und Deutungsmustern. Ebenso wird dabei auf gemeinsam geteilte organisationsspezifische Regeln und Routinen und kulturelle Muster der Problembewältigung zurückgegriffen. Auch die im Rahmen der funktional ausdifferenzierten Aufgabenteilung öffentlicher Verwaltungen entstandenen spezifischen Aufgaben konkreter Verwaltungseinheiten können modifizie-rend auf allgemein formulierte Ansprüche wirken. Organisationen entwi-ckeln damit eine gewisse Autonomie in der Umsetzung politisch formulierter und gesellschaftlich institutionalisierter Ansprüche. Zugleich werden in die-sen Prozesdie-sen des organisationalen Wandels in ihrer Umsetzung in die kon-krete Verwaltungspraxis auch neue gesellschaftliche Interpretationsmuster entwickelt, institutionalisiert und damit gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse produziert.

Bezogen auf die Analyse vergeschlechtlichter Strukturen einer Verwaltung bedeutet das, die Analyse formaler Regeln und Strukturen, also der ge-schlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie Verteilung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen (vertikale und horizontale) und der Besetzung be-trieblicher Positionen mit Männern oder Frauen, dahingehend zu ergänzen, dass ebenso analysiert wird, wie die weiblichen und männlichen Organisati-onsmitglieder diese Strukturen deuten und interpretieren, inwiefern sie diese als geschlechtsrelevant betrachten und welche Handlungsorientierungen VerwaltungsmitarbeiterInnen unter den gegebenen strukturellen Rahmenbe-dingungen entwickeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verwaltungs-angestellten in ihren Deutungen und Orientierungen auf subjektive Theorien und Erfahrungen zurückgreifen, die sie auch außerhalb ihres Arbeitsalltags erworben haben. Ebenso wirken außerbetriebliche strukturelle Bedingungen (z.B. Familienstrukturen) ermöglichend wie auch restringierend auf die Ent-faltung von Orientierungen im Arbeitshandeln.

Die Einführung von Gender Mainstreaming also ein strategisch herbeige-führter organisationaler Wandel, intendiert die zielgerichtete Änderung orga-nisationaler Regeln und soll gemeinhin über eine Änderung formaler Rege-lungen, aber auch über die gezielte Beeinflussung von Interpretationsfolien

und Deutungsmuster (z.B. durch Gendertrainings) vollzogen werden. Die Änderung schriftlich fixierter Regeln, z.B. bezüglich der Berücksichtigung von Genderaspekten bei allen Entscheidungsprozessen und Verwaltungsak-ten wird jedoch in der Regel unterschiedliches und auch nicht inVerwaltungsak-tendiertes Verhalten zur Folge haben, so dass es ebenso möglich ist, dass die neuen Regeln kein tatsächlich verändertes Verhalten nach sich ziehen, wenn es nicht gelingt, diese so zu vermitteln, dass sie in der intendierten Form in die subjektiven Deutungen der Akteure eingehen. Um Verhaltensänderungen organisationaler Akteure zu bewirken, müssen die subjektiven Deutungen der Organisationsmitglieder verändert werden. Dies erfolgt vorrangig durch Kommunikation, in diesem Fall durch strategische Kommunikation. Mit Be-zug auf das hier Be-zugrunde gelegte Organisationsverständnis ist daher Gender Mainstreaming als ein Prozess des organisationalen Wandels zu interpretie-ren, wobei die top-down Einführung entsprechender Regeln und die Vermitt-lung adäquater Leitbilder nur dann zur alltäglichen Praxis wird, wenn diese formalen Regeln in einem Kommunikations- und Interaktionsprozess von den Verwaltungsangestellten angenommen, je spezifisch gedeutet und in das alltägliche Arbeitshandeln umgesetzt werden. Auch Gender Mainstreaming wird so als ein Prozess verstanden, in dem die Akteure über gemeinsames Kommunizieren und alltägliche Interaktion in einem allmählichen Prozess veränderte, dann aber gemeinsam geteilte Deutungs- und Handlungsmuster kreieren: „Das Entstehen neuer organisatorischer Lösungen wird in dieser Perspektive als Erwerb neuer Wahrnehmungen der organisatorischen Reali-tät, neuer Ziele, neuer Interpretationen für organisatorisches Handeln und neuer Interaktionsmuster durch die Organisationsmitglieder konzipiert“

(Kieser 1998: 46).

Als problematisch erweist sich dabei allerdings, dass Gender Mainstreaming bislang eher als politische Strategie und Leitbild zu definieren ist (s. Kapitel 5) und noch nicht von einem konkreten Konzept gesprochen werden kann, was den männlichen wie weiblichen Organisationsmitgliedern klare Orien-tierungen und Handlungsstrukturen vorgibt. Vielmehr ist der Ausgestal-tungsspielraum sehr groß. Dies bietet einerseits die Chance, in einzelnen Verwaltungseinheiten situationsabhängig je spezifische Lösungen zu entwi-ckeln und die Verwaltungsangestellten an der Interpretation und Umsetzung dieser Strategie zu beteiligen. Andererseits resultiert daraus aber auch die Gefahr der Entkopplung von Leitbild und sozialer Praxis, wenn die politisch vermittelten Anforderungen eben nicht anschlussfähig an geschlechtsspezifi-sche subjektive Interpretationen werden und den sozialen Akteuren als for-male Anforderungen erscheinen, die sie als nicht relevant für die Realisie-rung ihrer Arbeitsaufgaben oder die VerbesseRealisie-rung ihrer eigenen beruflichen und betrieblichen Position halten.