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Teil 1: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

B. Objektive Schutzverpflichtung zugunsten einer freien

I. Objektive Dimension der Wissenschaftsfreiheit

Obgleich sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bislang nur selten mit materiellen Anforderungen an den Schutz der Wissenschaft befasst hat, lassen sich der ausdifferenzierten Verfassungsdogmatik zur Hochschulorganisation, die letztlich ein  – allgemein in der objektiven Dimension der Grundrechte verankertes253  – Schutzpflichtkonzept254 organisationsrechtlich verfeinert hat,255 Kriterien entnehmen, die auch für die Bewertung von externen Industriekooperationen geeignet sind.256 Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fordert nach ständiger Rechtsprechung, die Hoch-schulorganisation und damit auch die hochschulorganisatorische Willens-bildung so zu regeln, dass in der Hochschule freie Wissenschaft möglich ist und ungefährdet betrieben werden kann.257 Dies ist ein

Gestaltungs-258 Karpen, VerwArch 73 (1982), 405 (406).

259 Deutlich BVerfGE 111, 333 (359): Das Gericht behandelt nicht nur Fragen der wissenschaftsadäquaten Hochschulorganisation, sondern prüft unter den gleichen Stan-dards auch materielle Grenzen, Verteilungsentscheidungen das Drittmittelkriterium zugrunde zu legen.

260 Vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. (2011), § 190 Rn. 243; Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 62.

261 BVerfGE 127, 87 (115).

262 Kempen, DVBl 2005, 1082 (1090).

263 Gillich, WissR 50 (2017), 234 (253).

264 Eingehend Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche System-bildung, 2009, S. 289 f., 320 ff., 506 ff. Abweichend Fink, DÖV 1999, 980 (984 f.), der hier das Modell der dienenden Freiheit aus dem Rundfunkrecht übernehmen will; zurückge-hend auf Burmeister, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 835 (857 ff.). Hierzu wiederum kritisch Krausnick, Staat und Hochschule im Gewährleistungsstaat, 2012, S. 118 ff.

auftrag, eine „positive Ordnung der Wissenschaft“ zu schaffen, die über eine negatorische Staatsfreiheit hinaus die Bereitstellung einer freiheits-ermöglichenden Wissenschaftsinfrastruktur verlangt.258 Diese Forderung, praktische Wissenschaftsfreiheit durch Recht zu ermöglichen, bleibt dann aber nicht beschränkt auf eine wissenschaftsadäquate Hochschulorgani-sation, sondern verlangt auch materielle Vorkehrungen, dass Wissenschaft unter freien Bedingungen betrieben wird, derentwegen ihr gesellschaft-lich besonderes Vertrauen entgegengebracht wird. Davon geht auch das BVerfG aus.259

Der objektive Schutzauftrag hängt mit der – normativ nicht garantier-ten260 – Verfassungserwartung zusammen, die freie Wissenschaft in einer freien Gesellschaft erfüllen soll. Dem Freiheitsrecht liege – so das BVerfG –

„der Gedanke zugrunde, dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft im Ergebnis am besten dient“.261 Die Wissenschaftsfrei-heit liefert also einen „grundrechtsimmanenten Drittnutzen“,262 der sich dann idealerweise verwirklicht, wenn Erkenntnis und Verbreitung wis-senschaftlichen Wissens tatsächlich frei sind. Dies bedeutet gerade nicht, das liberale Freiheitsgrundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gesellschafts-funktional zu konditionieren. Das BVerfG beschreibt insoweit nur ein faktisches Dienen,263 einen Kollateralnutzen, nicht eine Bedingung freier Wissenschaft. Der zu erwartende gesellschaftliche Ertrag lässt sich mithin nicht beschränkend gegen die individual-freiheitliche Gewährleistung aus-spielen.264 Auch (vermeintlich) „nutzlose“ Forschung genießt Freiheits-schutz, zumal sich gesellschaftliche Erträge meist erst längerfristig her-auskristallisieren und im Übrigen Wissen als solches einen Eigenwert hat.

Kernanliegen des Freiheitsgrundrechts ist es gerade, Forschung und Lehre als freiheitliche Erkenntnisreserve einer staatsunmittelbaren Bewertung als

265 Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 290 f., 334, 506 ff., 623.

266 Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 304, 597; ders., DÖV 2017, 41 (43); Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 60.

267 Vgl. Fehling, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 17 Rn. 27; Kem-pen, DVBl 2005, 1082 (1089);.

268 BVerfGE 111, 333 (354, 358); Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungs-rechtliche Systembildung, 2009, S. 290; Kirchhof, MittHV 1981, 71 (75).

richtig, falsch, wertvoll oder wertlos zu entziehen.265 Der Staat ist inso-weit nicht wahrheitskompetent.266 Und umgekehrt kann die Wissenschaft als potentielle Gegenöffentlichkeit ihre Funktion nur erfüllen, wenn ihr Freiheitsraum nicht an gesellschaftlichen – namentlich von regierenden Mehrheiten oder (vermeintlichen) ökonomischen Imperativen – formu-lierten Erwartungen gemessen wird.

Gleichwohl bleibt die gesellschaftliche Dimension der Wissen-schaftsfreiheit nicht grundrechtsdogmatisch bedeutungslos. Obgleich die Abwehrdimension von gesellschaftlichen Nutzenerwartungen nicht geschmälert wird, gebietet die objektive Schutzdimension des Grund-rechts vor allem einen positiven Schutz der Funktionsbedingungen, unter denen freie Forschung und Lehre möglich sind, sodass Wissenschaft ihren gesellschaftlichen Erkenntniserwartungen, an denen möglicherweise konkrete Nutzenerwartungen anknüpfen können (keineswegs müssen), gerecht werden kann.267 Negativ gewendet kann die Funktion des Frei-heitsgrundrechts der Wissenschaftsfreiheit inhaltlich dadurch unterlaufen werden, dass eine Hochschule, die für die Ermöglichung freier Wissen-schaft zuständig ist und für Standards der Rationalität sowie Verlässlich-keit wissenschaftlichen Wissens institutionell einzustehen hat, Praktiken zulässt, die den Erwartungen an eine neutrale, fachorientierte und distan-zierte Wissenschaft nicht gerecht werden. Freie Forschung und Lehre sind vor einer Verzweckung nach Maßgabe gesellschaftlicher Nützlichkeitser-wägungen abzuschirmen.268 Dies bedeutet nicht nur, einen Schutzschirm über die staatlich verantworteten Stätten der Wissenschaft zu legen, um diese von der Verwertungsrationalität einer umgebenden Gesellschaft zu entkoppeln, sondern eben auch, gegen eine Selbstaufgabe innerhalb der institutionalisierten Wissenschaft vorzugehen, wenn sich diese freiwillig gesellschaftlichem Utilitarismus in einer Weise öffnet, die die besonde-ren Fähigkeiten und Funktionsbedingungen einer auf Wahrheitsfindung ausgerichteten Wissenschaft substanziell sowie konkret gefährdet oder beeinträchtigt. Der Wissenschaftsprozess als solcher ist daher gegenüber wissenschaftsinadäquater Kontamination zu schützen, mit dem BVerfG:

„Die Freiheit der Wissenschaft ist in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als objektiver

269 BVerfG-K, Beschl. v. 3.9.2014 – 1 BvR 3353/13, NVwZ 2014, 1571 (1572).

270 Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1974, S. 10. Zum dahinter ste-henden (egalitären) Freiheitsverständnis Kahl, Die Schutzergänzungsfunktion von Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, 2000, S. 34 ff.

271 BVerfG-K, Beschl. v. 3.9.2014 – 1 BvR 3353/13, NVwZ 2014, 1571 (1572).

272 BVerfGE 96, 56 (64); 115, 320 (346 f.); 117, 202 (227); 133, 59 (75 f.).

273 BVerfGE 96, 56 (64).

274 BVerfGE 46, 160 (164).

275 BVerfGE 96, 56 (64 f.).

Grundsatznorm garantiert, was auch der Sicherung der Funktionsfähig-keit des Wissenschaftsprozesses dient“.269 Dies ist – notabene – kein ins Verfassungsrecht umgegossener moralischer Imperativ an eine freie Wis-senschaft. Grundrechte sind Rechte zur individuellen Beliebigkeit;270 sie sind gerade auch insoweit gegen eine externe Determination zu schützen und nicht auf eine bestimmte Moralität oder Ethik verpflichtet. Verfas-sungsrechtlich geht es vielmehr um Funktionsschutz,271 also um diejenigen Mindestbedingungen, die eine freie Wissenschaft erfüllen muss, um nicht die Funktion ihres Freiheitsschutzes selbst zu unterlaufen.