• Keine Ergebnisse gefunden

Nicht-konstitutive Merkmale von Selbstvermessung

1.3 Grenzen ziehen

1.3.3 Nicht-konstitutive Merkmale von Selbstvermessung

Neben diesen grundlegenden Merkmalen gibt es weitere Kennzeichen von Selbstvermes-sungspraktiken, die wir jedoch nicht als konstitutiv betrachten. Es handelt sich dabei vielmehr um zusätzliche oder weiterführende Elemente, die nicht in allen Fällen aufzufinden sind: (1) Hier ist zunächst einmal die Analyse von Daten zu nennen. Wie im vorigen Abschnitt ange-sprochen, variiert der Beschäftigungsgrad der Selbstvermessenden mit ihren Daten sehr stark:

Während sich bei einigen der Umgang fast ausschließlich auf das reine Aufzeichnen bzw.

Dokumentieren beschränkt, ist bei anderen eine ausgeprägte zeit- und teilweise auch kostenin-tensive Datenanalyse zu konstatieren. So konnten wir wiederholt beobachten, dass Selbstver-messende ihre Daten übertragen, gründlich aufbereiten, strukturieren, statistisch auswerten, grafisch darstellen, über Jahre hinweg bearbeiten und zu Rate ziehen. (2) Ein weiterer Punkt ist der Austausch und Wettbewerb mit anderen Selbstvermessenden. Diesem Aspekt haben wir zu Beginn unseres Forschungsprojektes mehr Aufmerksamkeit gewidmet, die Analyse unseres Materials hat jedoch gezeigt, dass das digitale Vernetzen bzw. kompetitive Reden und Denken über Selbstvermessung einen geringeren Stellenwert einnimmt als zunächst angenommen (vgl. Kapitel II.6). (3) Schließlich ist bei Selbstvermessungspraktiken eine Art Projektcharak-ter – in unProjektcharak-terschiedlichen Ausprägungen – auszumachen. Gerade bei Selbstvermessenden, die ein konkretes Ziel verfolgen, erscheinen die Praktiken (zunächst) endlich (vgl. Kapitel II.3).

Wie bei allen Grenzziehungen weisen die anliegenden Bereiche Merkmale beider Seiten auf.

Auch in unserem Sample gibt es einen Fall, der sich nicht eindeutig zuordnen lässt – eben einen Grenzfall: Sofie Berger. Ihre Vermessung des weiblichen Zyklus erfüllt nicht alle von uns definierten konstitutiven Kriterien. Zwar misst sie körperliche Zustände wie Körpertem-peratur und Zervixschleim, zeichnet ihre Daten auf und nimmt dabei eine experimentelle Hal-tung zu sich selbst ein. Jedoch lässt ihre VerhüHal-tungsmethode ihr wenig Spielraum für Ent-scheidungen über Mittel und Wege ihrer Vermessung. Zudem unterscheidet sie sich von ande-ren Interviewten insbesondere dadurch, dass in ihrem Fall keine Verbesserungsbestrebungen

Teil II Selbstvermessung definieren

33

zu erkennen sind. Das Ziel ihrer Vermessung ist vielmehr die Schwangerschaftsverhütung.

Dieses Ziel bzw. der Zustand des ‚nicht-schwanger-Seins‘ wird zwar immer wieder aufs Neue erreicht, er kann jedoch nicht verbessert werden. Daher wurde ihr Fall in unserer Analyse zwar berücksichtigt, jedoch mit Vorsicht behandelt.

1.4 Resümee

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es auf die Frage, was Selbstvemessung ist, so-wohl in unserem Interviewmaterial als auch in (tele-)medialen Beiträgen vielfältige Antwor-ten gibt. In Auseinandersetzung mit diesen konnAntwor-ten wir für die von uns untersuchAntwor-ten Phäno-mene – unter Ausschluss von krankheitsbedingter Selbstvermessung und Lifelogging – konstitutive sowie einige hinreichende (aber nicht notwendige) Merkmale herausarbeiten:

Messen, Aufzeichnen, eine (selbst-)experimentelle Haltung, der Wunsch nach Verbesserung, Selbstdisziplin sowie die Notwendigkeit, sich für bestimmte Ziele, Mittel und Wege zu ent-scheiden, sind wesentliche Merkmale des Phänomens Selbstvermessung; Analyse, Austausch und Wettbewerb sowie eine Art Projektcharakter sind – wenn auch bedeutend – hingegen nicht zwingend notwendig, damit von Selbstvermessung gesprochen werden kann. Diese De-finition erlaubt uns einerseits die Untersuchung einer Vielzahl von Praktiken, ohne dabei Grenzfälle ausschließen zu müssen. Andererseits bilden die fließenden Grenzen die Unschär-feproblematik des Selbstvermessungsbegriffs mit ab.

Teil II Mit sich selbst experimentieren

34

2 Mit sich selbst experimentieren

„Also ich- dann schlaf ich mal irgendwie mal 3 Wochen Äh 6 Stunden am Stück oder mal 8 Stunden. Schaun wir ok, hat das irgendwelche Auswirkungen. (…) Also wie wirkt sich das aus? Das sind einfach so ähm Sachen wie

ich dreh an ner Schraube und schau was passiert.“

(ChristianS Z284-288)

Wissenschaft – der Name ist Programm. Wissenschaft schafft Wissen. Das tun die Selbstver-messenden auch – und sie tun es, wie sich im Folgenden zeigen wird, auf eine mitunter sehr ähnliche Art und Weise. Während der Analyse unseres Materials sind wir immer wieder auf Begriffe und Äußerungen gestoßen, die an eine wissenschaftliche Grundhaltung und Vorge-hensweise der Selbstvermessenden erinnern. Die Idee, dass das Phänomen der Selbstvermes-sung mit Prozessen des mit-sich-selbst-Experimentierens und damit der Verwissenschaftli-chung alltäglicher Wissensproduktion einhergeht, führte uns zunächst zu der Frage, was wis-senschaftliches Handeln eigentlich genau bedeutet. Die Antworten darauf variieren je nach wissenschaftlicher Disziplin, theoretischem Hintergrund und methodischem Vorgehen. So ist bspw. die prototypische Vorstellung des wissenschaftlichen Alltags eines Mikrobiologen, der einen Großteil seiner Zeit in klimatisierten Reinraumlaboren verbringt, nur schwer mit dem eines Ethnologen vergleichbar, der oft mehrere Monate in unwegsamen Gegenden verbringt, um fremde Kulturen zu erforschen. Zudem macht unsere eigene sozialtheoretische Perspekti-ve (vgl. Kapitel I.3) uns einmal mehr bewusst, dass von (empirischer) Wissenschaft nicht in einem einheitlichen Sinne gesprochen werden kann, subsumieren sich unter diesem Begriff doch eine Vielzahl unterschiedlicher epistemologischer Standpunkte und methodischer Vor-gehensweisen. Was wissenschaftliches Wissen ist und wie es zustande kommt, hängt dabei maßgeblich vom jeweiligen Realitätsverständnis ab. Diese Differenzen finden nicht zuletzt in altbekannten Streitigkeiten zwischen den Natur- und Geistes- bzw. Sozialwissenschaften so-wie innerhalb der empirischen Sozialwissenschaft zwischen VertreterInnen des deduktiv-nomologischen und des interpretativen Paradigmas ihren Ausdruck. Darüber hinaus muss die Idee von Wissenschaft bzw. der ideelle Anspruch wissenschaftlichen Arbeitens von der tat-sächlichen wissenschaftlichen Praxis unterschieden werden. Wie die ‚Laborstudien‘ von Ka-rin Knorr-Cetina (1984) sowie Bruno Latour und Steve Woolgar (1979) zeigen, werden auch die Naturwissenschaften ihrem proklamierten Objektivitätsanspruch in der Praxis nur bedingt gerecht. Auch die von Robert K. Merton aufgestellten institutionellen Imperative wissen-schaftlichen Handelns – Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierter

Teil II Mit sich selbst experimentieren

35

Skeptizismus7(vgl. Merton 1942 zit. nach Weingart 2003: 15ff.) – sind immer wieder Gegen-stand wissenschaftspraktischer Kritik.

Worauf beziehen wir uns nun, wenn wir im Folgenden von einer Verwissenschaftlichung des Alltags sprechen? Die Analyse des Interviewmaterials hat gezeigt, dass die interviewten Per-sonen mit ihren Aussagen auf den ideellen Anspruch quantitativer, hypothesen-testender For-schung verweisen. (Wissenschaftliches) Wissen wird in diesem Paradigma als universell gül-tig, wahr und gesichert betrachtet (ebd.: 15). Experimente, die sich durch festgelegte Rah-menbedingungen, genau bestimmte Parameter und eine kontrollierte Versuchsdurchführung kennzeichnen, bilden dabei den gängigen Handlungsmodus. Inwieweit und in welcher Form nun die Prinzipien dieses Paradigmas Einzug in die Praktiken und Diskurse der Selbstvermes-sung halten, legen folgende Konzepte nahe.

2.1 Wissenschaftliche Grundhaltung