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Disziplin für Selbstvermessung entwickeln

4.4 Selbstdisziplin herstellen und aufrechterhalten

4.4.2 Disziplin für Selbstvermessung entwickeln

Während es zuvor um die Herausbildung von Selbstdisziplin für bestimmte Aktivitäten (sich gesund ernähren, Sport treiben) im Rahmen von Selbstvermessungspraktiken ging, beschäfti-gen wir uns im Folbeschäfti-genden mit Selbstdisziplinierungsprozessen, die sich auf das gewissenhafte und kontinuierliche Ausführen von Selbstvermessungen richten.

Gerade bei technisch unterstützter Selbstvermessung ist (Selbst-)Disziplin notwendig, um die Funktionsfähigkeit von Geräten und Anwendungen zu gewährleisten, damit eine kontinuierli-che Messung und Aufzeichnung überhaupt erst möglich wird. So beklagt sich Benjamin, dass er regelmäßig dafür sorgen muss, dass der Akku seines Smartphone aufgeladen ist (Z249-252) (vgl. Kapitel II.7). Artefakte erfordern damit eine gewisse Selbstdisziplin; umgekehrt unter-stützen sie aber auch die Herstellung und Aufrechterhaltung dieser. Reminderfunktionen sor-gen bspw. dafür, dass Messunsor-gen durchgeführt und Werte eingegeben werden: „Deswesor-gen finde ich wirklich die App auf dem Handy den- den optimalen Weg, weil das Handy habe ich jeden Tag in der Hand, da gucke ich jeden Tag mehrfach drauf () und ähm () da wird man daran erinnert, es ist- es ist einfach es ähm es jeden Tag zu tracken“ (AmelieG Z773-775). Ein anderer Aspekt, der die Herausbildung und Aufrechterhaltung von Selbstdisziplin fördert, ist

8 Die Internetseite Fitocracy bietet ähnlich wie Facebook eine Möglichkeit, Gefallen, Wohlwollen oder Aner-kennung für Beiträge auszudrücken, indem sog. props verteilt werden.

Teil II Sich selbst disziplinieren

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die Angst vor schwerwiegenden Folgen. Die Schwangerschaft, die Sofie im Falle von Nach-lässigkeiten droht, setzt sie bspw. so sehr unter Druck, dass sie sich diszipliniert vermisst.

Abgesehen von diesen beiden Möglichkeiten wurde in unseren Interviews nicht thematisiert, wie genau eine disziplinierte Selbstvermessung ermöglicht wird. Dies mag, wie oben ange-deutet, damit zusammenhängen, dass alle von uns interviewten Personen Selbstvermessung bereits diszipliniert betreiben oder zumindest zeitweise betrieben haben. Amelie vermutet:

„Leute die keine Selbstdisziplin haben, die fangen normalerweise auch nicht an sich selbst zu vermessen“ (Z515-516). Selbstdisziplin ist demnach, so unsere Schlussfolgerung, eine we-sentliche Voraussetzung für Selbstvermessung.

4.5 Resümee

Selbstvermessung und Selbstdisziplin sind untrennbar miteinander verbunden: Selbstdisziplin ist erstens die Voraussetzung für Selbstvermessung und sie ist zweitens notwendig, um die Selbstvermessung über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Drittens ist Selbstver-messung ein Hilfsmittel, Tätigkeiten diszipliniert auszuführen bzw. zu unterlassen.

Die Herausbildung von Selbstdisziplin – sei es für die Selbstvermessung oder für die Aus-übung bestimmter Tätigkeiten – setzt konkrete Ansprüche an körperliche oder geistige Zu-stände voraus, die wiederum auf Bewusstwerdungsprozessen beruhen. Sind solche Ansprüche vorhanden (z.B. der Wunsch, sich gesünder zu ernähren oder der Anspruch, Daten lückenlos zu dokumentieren), gibt es verschiedene Aspekte, die Selbstdisziplinierungsprozesse anregen und begünstigen: Kontrolle, Routine, Ablenkungen und Erfolgserlebnisse im Fall der Selbst-disziplin für bestimmte Aktivitäten; Artefakte und die Angst vor schwerwiegenden Folgen im Fall der Selbstdisziplin für die Selbstvermessung. Dass uns bezogen auf letztere in unserem Datenmaterial bedeutend weniger Ausprägungen begegnet sind, spricht für die These, dass Selbstdisziplin bereits vor dem Eintritt in Selbstvermessungspraktiken vorhanden sein muss, eine Vermessung ohne Disziplin also gar nicht möglich bzw. sinnvoll ist.

Disziplin begegnet uns im Rahmen von Selbstvermessungspraktiken nicht als eine Macht, die von außen auf Individuen einwirkt (Foucault 1977: 220); vielmehr streben diese selbst nach der Erfüllung ihrer (physischen und psychischen) Ansprüche, die sie durch (selbst-)diszipliniertes Vermessen und Verhalten zu erreichen versuchen. Selbstdisziplin ist damit auch die Voraussetzung für das Erreichen von Selbstoptimierungszielen und den gesell-schaftlichen Trend, (auch) im Alltag kontinuierlich besser, schneller und stärker werden zu wollen (vgl. Kapitel II.3).

Teil II Sich an Standards und Körperidealen orientieren

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5 Sich an Standards und Körperidealen orientieren

„[W]as auf- mir aufgefallen is dass mir überhaupt erst bewusst geworden is () wie viel ich mich bewege also (1) die 10 000 Schritte die so als () Richtwert gegeben werden für n gesunden Erwachsenen () ähm sind gar nich so einfach im Alltag zu erreichen.“

(KatharinaM Z63-65)

Unser Alltag ist von Normierungen und Standardisierungen durchdrungen: von der Höhe der Türrahmen über die Breite von Krankenhausbetten bis hin zur EU-Bananenverordnung, die deren Importkriterien exakt festlegt. In der Arbeitswelt dienen diese zum einen der Rationali-sierung und zum anderen der besseren Verständigung über heterogene Bereiche in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Öffentlichkeit hinweg. Auch in Praktiken der Selbstvermes-sung müssen sich Partizipierende mit Standards auseinandersetzen. Doch wie genau gestaltet sich eine solche Auseinandersetzung im Kontext von Selbstvermessungspraktiken?

Während im englischen Sprachraum nicht zwischen den Begriffen Norm und Standard unter-schieden wird (standard), findet im Deutschen eine sprachliche Differenzierung statt. Eine jeweils analytisch-differenzierte Position ließe sich mit den beiden Begriffen z.B. in Bezug auf die Faktoren Konsensgrad und Zeit markieren (Harke et al. 2008). Normen können dabei als in Normungsverfahren durchgesetzte Richtlinien mit hohem Konsensgrad verstanden wer-den, die reibungslose Abläufe z.B. in der Warenwirtschaft (Verpackung und Transport von Bananen o.Ä.) ermöglichen. Standards ergeben sich hingegen über einen längeren Zeitraum hinweg, wenn sich die Praxis von Anwendern als adäquate Vorgehensweisen bewährt hat – man denke bspw. an Industriestandards, die Etablierung des PDF-Formats oder Trainingsplä-ne für die Vorbereitung auf eiTrainingsplä-nen Marathon (ebd.). Die Auseinandersetzung mit unserem Ma-terial hat allerdings gezeigt, dass eine solch differenzierte Perspektive auf die gewonnenen Daten nicht ertragreich und zudem analytisch problematisch wäre: Obwohl theoretisches Vorwissen nach dem Forschungsstil der Grounded Theory nicht ausgeblendet werden kann und soll, können wir uns der definitorischen Unterscheidung von Harke et. al (2008) an dieser Stelle nicht anschließen. Da sich die Art der Bezugnahme menschlicher und technischer Parti-zipierender auf Richtlinien – abhängig davon, ob es sich (per Definition) um eine Norm oder einen Standard handelt – zu entsprechen scheint, müssten wir befürchten, unseren Daten vor-gängige theoretische Konzepte überzustülpen (Strübing 2014: 58ff.).

Wir werden die Begriffe deshalb synonym verwenden: als gesellschaftlich hervorgebrachte Richtlinien, die sich in unterschiedlicher Weise auf Partizipierende auswirken. Im Folgenden wird es zunächst um Standards gehen, die die Leistung (im weitesten Sinne) betreffen.

Stan-Teil II Sich an Standards und Körperidealen orientieren

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dards, die sich auf das äußere Erscheinungsbild der Selbstvermessenden beziehen, werden dabei in diesem ersten Teil bewusst ausgespart. Stattdessen werden sie im zweiten Teil des Kapitels im Zusammenhang mit Körperidealen behandelt, die zwar wesentliche Gemeinsam-keiten zu Körperstandards aufweisen – beide können Selbstvermessenden als Orientierung dienen –, sich jedoch auch in vielerlei Hinsicht von ihnen unterscheiden.