• Keine Ergebnisse gefunden

Wie einleitend angeführt, handelt es sich bei unserem Untersuchungsgegenstand um ein neu-es, noch weitestgehend unerforschtes Phänomen. Da es uns zu Beginn des Projektes noch nicht möglich war, eine konkrete Forschungsfrage zu formulieren und wir noch nicht absehen konnten, auf welche Weise wir relevante Daten gewinnen würden, bedurfte es eines Analyse-verfahrens, das offen ist gegenüber einer sich erst im Forschungsprozess entwickelnden Fra-gestellung und verschiedenen Arten der Datengewinnung. Der Forschungsstil der Grounded Theory stellt für eine solche Ausgangssituation sowohl konzeptuell als auch instrumentell

Teil I Methodisches Vorgehen

22

adäquate Mittel bereit, da hier „keine Vorentscheidung über für die Analyseaufgaben geeigne-te oder nicht geeignegeeigne-te Argeeigne-ten von Mageeigne-terial getroffen [werden]“ (Strübing 2013: 126). Mit dieser prozessualen Perspektive, deren Wurzeln in der pragmatistischen Theorietradition lie-gen (vgl. Kapitel I.3), geht auch die Parallelität der einzelnen Arbeitsphasen im Verfahren der Grounded Theory einher: Datengewinnung, -analyse und Theoriebildung werden als ein

„iterativ-zyklische[r] Prozess[]“ (Strübing 2014: 82) konzeptualisiert. Auch in unserem Pro-jekt fanden diese drei Phasen parallel statt: In unsere fortlaufend betriebene Analyse nahmen wir die unterschiedlichen Materialsorten auf, die sich aus den jeweiligen Zugängen ergaben und verknüpften unsere Erkenntnisse daraus miteinander. Dabei zogen wir im Stil der Groun-ded Theory zunächst einen ersten Fall heran, der uns besonders ergiebig erschien (Strübing 2013: 113). Jeder weitere Fall, den wir im Rahmen des theoretischen Samplings3 gewannen, trug im Folgenden zur Spezifizierung der Fragestellung und der Entwicklung erster theoreti-scher Konzepte bei. Sukzessiv zogen wir – gemäß der „Methode des ständigen Vergleichens“

(Strübing 2014: 14ff.) – weitere Arten von Material heran, um Unterschiede und Gemeinsam-keiten herauszuarbeiten. Dabei betrachteten wir im Rahmen der minimalen Kontrastierung homogene Fälle wie bspw. Läufer, die dieselbe App benutzen und zogen zur maximalen Kon-trastierung heterogene Fälle heran, so z.B. das Messen der Körpertemperatur zu Verhütungs-zwecken.

Die Methode des ständigen Vergleichens spielte auch im Kodierprozess eine zentrale Rolle.

Beim offenen Kodieren bedienten wir uns vor allem der Line-by-Line Analyse, da unser Da-tenmaterial zu großen Teilen aus Interviewtranskripten bestand.4 Während des axialen Kodie-rens setzten wir die bereits entstandenen Konzepte zueinander in Beziehung, wodurch sich uns neue Perspektiven eröffneten, mit denen wir uns erneut ins Material begaben. Das Auf-spüren einer Kernkategorie (selektives Kodieren) gestaltete sich schwierig, da wir die For-schungsfrage im Verlauf unseres Projektes zwar ständig konkretisierten, am Ende jedoch noch immer mehrere zentrale Fragestellungen im Raum standen. Neben der Frage nach der

3 Aus zeitlichen bzw. forschungspraktischen Gründen konnten wir dem Anspruch eines umfassenden „theoreti-schen Samplings“ (Glaser/Strauss 1998: 53) nur bedingt gerecht werden. Zwar erfolgte die Auswahl der ersten Gruppe an InterviewpartnerInnen recht unsystematisch; später jedoch orientierten wir uns sowohl bei der Ana-lyse als auch beim Hinzuziehen weiterer Fälle am Konzept des theoretischen Samplings (Strübing 2014: 29ff.).

Ähnlich verhält es sich mit der „theoretischen Sättigung“ (Glaser/Strauss 1998: 68): Während wir aus einigen Ideen dichte Konzepte entwickeln konnten, bei denen der Einbezug weiteren Materials keine neuen Erkennt-nisse erwarten ließ (vgl. Kapitel II.2), könnte im Falle anderer Konzepte neues Datenmaterial möglicherweise noch weitere Erkenntnisse bringen (vgl. Kapitel II.7). Dies muss aus forschungspraktischen Gründen jedoch auf ein zukünftiges Projekt verschoben werden.

4 Für die Grounded Theory ist es nicht von Belang, welche Art von Daten der Analyse zugrunde gelegt wird,

„[a]llerdings sollte der unterschiedliche Status des Materials bei der Auswahl der analytischen Mittel beachtet werden (...), [da] [u]nterschiedliche Materialsorten (…) spezifischer, ihre konkrete Beschaffenheit berücksich-tigender analytischer Zugänge [bedürfen]“ (Strübing 2013: 127).

Teil I Methodisches Vorgehen

23

Motivation, sich selbst zu vermessen (‚Warum?‘), stand ganz im Sinne praxistheoretischer Grundannahmen vor allem auch die konkrete Ausgestaltung von Selbstvermessungspraktiken (‚Wie?‘) im Fokus unseres Interesses. Nach Strübing (2013) „kann es durchaus angemessen sein, mehrere Schlüsselkategorien auszuarbeiten – diese sollten dann aber jeweils einen klaren Bezug auf eine Teilfrage aufweisen“ (ebd.: 123).

Der Modus des Kodierens variierte je nach analytischen Erfordernissen der Konzeptentwick-lung. Besonders die Vielzahl divergenter analytischer Beiträge der Teammitglieder war dabei hilfreich: Indem sich die Forschenden sowohl bei der analytischen als auch bei der theoreti-schen Arbeit gegenseitig ergänzten, konnten die Gefahren, die die Offenheit und Kreativität des von uns gewählten Forschungsstils mit sich bringen, minimiert werden (Strübing 2013: 114). Während des gesamten Kodier- bzw. Forschungsprozesses hielten wir theoreti-sche Ideen, analytitheoreti-sche Ergebnisse und Absprachen bezüglich des weiteren Verlaufs in Me-mos fest, denn

„[a]uch wenn ein Forscher allein an einem Projekt arbeitet, befindet er sich in einem kontinuierli-chen inneren Dialog – (…) darin besteht schließlich das Denken. Wenn zwei oder mehrere For-scher zusammenarbeiten, läuft der Dialog jedoch offen. In jedem Fall bilden die Memos einen konstitutiven Teil dieser Dialoge“ (Strauss 1994: 152).

Neben dem Schreiben von Memos half uns auch das Computerprogramm ATLAS.ti, das zur Unterstützung komplexer qualitativ-interpretativer Forschungsprozesse entwickelt wurde und sich am Forschungsparadigma der Grounded Theory orientiert (Mey/Mruck 2011: 33), bei der Koordination der analytischen Arbeit und der gemeinsamen Bearbeitung des Materials. Es erlaubte uns, die Zwischenergebnisse der Kleingruppen zu sichern und sie dem gesamten For-schungsteam zugänglich zu machen.

Obwohl die klassische Grounded Theory ein breites Instrumentarium für Datenanalyse und Theoriegenese anbietet, mit dem es uns möglich war, die Praktiken der Selbstvermessung umfassend zu untersuchen, fehlte uns hier der explizite Rekurs auf Diskurse. Zur Erforschung dieser eignet sich Adele Clarkes Situationsanalyse, bei der – auf der Basis eines erweiterten Situationsbegriffs (vgl. Kapitel I.3) – die gesamte Handlungssituation in den Blick genommen wird. So können umfassende Analysen „von unterschiedlichen Perspektiven und hoch kom-plexen Situationen (…), von heterogenen Diskursen, die uns alle ständig überfluten, und von den situierten Wissensbeständen des Lebens selbst, die dadurch entstehen [durchgeführt wer-den]“ (Clarke 2012: 25). Diskurse sind in diesem Ansatz also konstitutive Bestandteile der Untersuchungs- bzw. Analysesituation.

Teil I Methodisches Vorgehen

24