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3 Material und Methoden

4.3 Rekombinantes βB1-Kristallin des Menschen

5.1.1 Neurotrophe Wirkung des Kristallins

Kapitel 5 Diskussion

5 Diskussion

5.1 βH-Kristallin in der Gewebekultur

Die neurotrophe Wirkung von wasserlöslichen Linsenbestandteilen auf axotomierte retinale Ganglienzellen bei der adulten Ratte wurde bereits durch verschiedene Arbeitsgruppen bestätigt (Leon et al., 2000; Lorber et al., 2002; Yin et al., 2003). Diese Ergebnisse postulieren in vivo wie in vitro eine Aktivierung von Makrophagen in der Folge einer Linsenverletzung, die schließlich eine Neuroprotektion und ein Auswachsen der Fasern nach einer Axotomie begünstigen. Nach Fischer (2000) geht zumindest ein Teil der neurotrophen Wirkung von den Augenlinsen-Kristallinen aus. Dabei entfaltet vor allem das βH-Kristallin eine potente neurotrophe Wirkung auf die RGZ. Bhat & Sharma (1999) beschreiben außerdem eine direkte Wirkung des αB-Kristallins auf die Aktivierung von Mikroglia in der Retina. Aber auch auf Zellen in anderen Organsystemen scheinen Kristalline protektive Auswirkungen zu haben. So konnte Dillmann (1999) nachweisen, dass αB-Kristallin und HSP-27 bei myokardieller Ischämie protektive Eigenschaften auf die Herzmuskelzellen zeigen.

Der erste Teil dieser Dissertation beschäftigt sich daher mit der Frage, ob die einzelnen Linsenkristalline im Allgemeinen und βH-Kristallin im Besonderen einen neurotrophen Effekt auf Neurone des Rückenmarks ausüben können.

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Bei der anschließenden Untersuchung der einzelnen HPLC–Fraktionen der wasserlöslichen Linsenproteine wurde als erstes das neurotrophe Verhalten von α-Kristallin auf die Gewebekultur getestet. (Abb.5-1).

Abb. 5-1: Chromatogramm der Größen-Ausschluss-Separation der wasserlöslichen Linsen-Kristalline eines menschlichen Fötus. Die Fraktionen trennen sich von links nach rechts entsprechend ihrer Komplexität auf.

Dabei erscheint α-Kristallin durch seinen höchsten Komplexitätsgrad von Aggregaten aus mehreren hundert Monomeren als erste und γ-Kristallin mit seinen einzelnen Monomeren als letzte Fraktion (Ma et al., 1998).

Um die Effektivität der Kristalline im Gewebekultur-Modell in einen festen Bezug setzen zu können, wurden außerdem Referenzgrößen gut bekannter neurotropher Faktoren erstellt.

Anhand der Wirkung der verschiedenen Verdünnungsreihen auf das vermehrte Ausbilden von Neuriten pro Explantat ergibt sich für das Kristallin α-Ratte ein strenges Konzentrations-Wirkungsverhältnis mit steilem Verlauf und signifikant erhöhtem Effekt gegenüber der Kontrolle, wie dies auch bei den rezeptorvermittelten Wirkungen der bekannten Neurotrophen Faktoren (z.B. NGF) zu beobachten ist (Abb. 5-2).

Auch eine Applikation von αB-bovin zeigt einen neurotrophen Effekt, wenn auch geringer als bei α-Ratte. Da Fischer (2000) in vivo bei α-Ratte und αB-bovin nur eine geringe neurotrophe Wirkung nachweisen konnte, scheinen die Ergebnisse der embryonalen Gewebekultur in dieser Beziehung von denen des Retina-Modells abzuweichen. Dies mag an der verwendeten Konzentration, Applikationsform, dem Zielgewebe oder aber am Alter des Gewebes liegen. Es liegt außerdem die Vermutung nahe, dass α-Ratte deshalb effektiver als reines αB ist, weil es die von ihm bevorzugten heteromere Komplexe ausbilden und seiner Chaperoneigenschaften gerecht werden kann.

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Abb. 5-2: Interpolierte Konzentrations-Wirkungskurve von α-Ratte im Vergleich zur NGF im Gewebekulturmodell des Hühnchens (E12).

Der Mechanismus der neurotrophen Wirkung des α-Kristallins in der Gewebekultur kann vielfältiger Natur sein, da dieses Kristallin offenbar in zahlreiche Mechanismen innerhalb der Zelle involviert ist, die für die Neuroprotektion und Neurotrophie von entscheidender Bedeutung sind. Zu nennen wären da zum Beispiel sein ähnliches Verhalten auf Zellstress in Bezug auf p53, einschließlich Dislokation vom Zytoplasma in den Nukleus. Auch verfügt es über eine Interaktionsbereitschaft mit Tubulin und andere Zytoskelettbestandteilen (Sionov & Haupt, 1999, Cobb & Petrash, 2000; Fitzgerald & Graham, 1991; Nicholl &

Qinlan, 1994).

Aufgrund der widersprüchlichen Resultate der embryonalen Gewebekultur im Vergleich zu den Experimenten von Fischer (2000) und weil α-Kristallin außerdem in eine Vielzahl von

50 100 150 200 250 300 350

mittlere Neuritenzahl /Explantat

α-Rat NGF

0

0 5 25 50 100 200 300

Konzentration [ng/ml]

500 1000 5000

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Stattdessen wurden die Mitglieder der βγ-Kristallin-Familie untersucht, die bisher in keinen Zusammenhang mit neurodegenerativen Erkrankungen gebracht werden konnten.

Begonnen wurde mit der Konzentrations-Wirkungsbeziehung von γ-Kristallin, dessen HPLC-Mischfraktion aus γS, γD und γC im adulten Rattenmodell in vivo und in vitro neuroprotektiv und neuritogen gewirkt hatte (Fischer, 2000) (Abb. 5-3).

Abb. 5-3: A) Chromatogramm und B) 2D-SDS-Page der Reversen Phasen - Separation der γ Fraktion (Ma et al., 1998, Lampi et al., 1998).

Die maximale „Wirkungsstärke“ entspricht der 100%-Marke in der Konzentrations-Wirkungskurve eines Pharmakons (Küttler, 2002). Diese kann in der Gewebekultur dem Emax-Wert der eingesetzten Wachstumsfaktoren gleichgesetzt werden. So ergab sich im Vergleich mit den optimierten Konzentrationen der Wachstumsfaktoren, dass γ-Kristallin und Linsenhomogenat in etwa die gleiche maximale „Wirkungsstärke“ wie CNTF in der Gewebekultur erzielen.

Wie beim α-Kristallin entspricht das Emax des γ-Kristallins jedoch nicht den Erwartungen aus den Ergebnissen von Fischer (2000). In der Gewebekultur wird der erste signifikante Effekt bei 35000 ng/ml scheinbar plötzlich erreicht und verändert sich anschließend in der Gewebekultur selbst nach Verdopplung der Konzentration nicht mehr signifikant. Dies spricht für eine unphysiologische Wirkung des Kristallins mit möglicherweise unspezifischer Bindung bzw. durch eine Endozytose in die Zielzelle.

A) B)

basisch sauer

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Möglicherweise folgt γ- Kristallin auch einem Mechanismus, der in vivo aber nicht in gleichem Maße in vitro auftritt. Zu nennen wäre in diesem Fall eine Interaktion mit Bestandteilen des Immunsystems wie etwa Mikroglia oder Makrophagen, die in der Gewebekultur in wesentlich geringerer Anzahl vorliegen als in vivo. Weitere in vitro Modelle zur Neuroprotektion und Neurodegeneration in Mikroglia-Neuronen Co-Kulturen nach γ-Kristallin-Einsatz könnten zukünftig einen Aufschluss über die Frage nach der mikroglialen bzw. makrophagialen Beteiligung am neuroprotektiven Effekt des Linsenkristallins geben.

Die nächste untersuchte HPLC-Fraktion war das Kristallin βL-Ratte. Es besteht aus einer Mischung verschiedener Monomere, von denen βB2-Kristallin den größten Anteil ausmacht (Abb. 5-4).

Abb. 5-4: A) Chromatogramm und B) 2D-SDS-Page der Reversen Phasen - Separation der humanen βL-Kristallin-Fraktion. βB2-Kristallin stellt das hauptsächlich vertretene Monomer dar, während die anderen Monomere nur in vergleichsweise geringer Konzentration vorliegen (Ma et al., 1998, Lampi et al., 1998).

Im Gegensatz zum γ-Kristallin verfügt βB2-Kristallin über einen verlängerten N- und C-Terminus und ist dadurch in der Lage sowohl Homo- als auch Hetero-Di- und Tetramere auszubilden. Allerdings liegt βB2-Kristallin in der eingesetzten Konzentration von 50 ng/ml als Mono- bzw. Dimer vor (Ma et al., 1998; Lampi et al., 1998, Bateman et. al., 2001;

Lampi et al., 2001). Der Emax von βL-Kristallin liegt signifikant höher als bei γ-Kristallin („two sided student’s t-test“, P<=0,001, n = 20). Gleichzeitig ist βL-Kristallin aber weniger

A) B) basisch sauer

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Abb. 5-5: Interpolierte Konzentrations-Wirkungskurve von βL-Kristallin der Ratte im Vergleich zur Konzentrationswirkungskurve von NGF in der Gewebekultur.

Es könnte daher ein stabiler Gleichgewichtszustand zwischen Kristallin und einem möglichen Transporter bzw. Rezeptor eingetreten sein. Erst bei sehr hohen Konzentrationen geht der Effekt langsam wieder zurück. Dies spricht für eine spezifische, physiologische Wirkung. Verantwortlich für die unterschiedliche Wirkung von γ- und βL-Kristallin könnten neben den unterschiedlich langen N- und C-terminalen Regionen auch die unterschiedlichen Aminosäuren-Sequenzen (AS) der 4 Hauptmotive ihrer Monomere sein.

Das Motiv 3 der Hauptdomäne ist dabei weniger konserviert als Motiv 4 und auch Motiv 1 und 2 tragen Veränderungen, die eventuell zu einer unterschiedlichen Effektivität der Kristalline führen könnten (Abb. 5-6).

Eine Aussage hierüber lässt sich zwar mit der Gewebekultur und den verwendeten HPLC-Fraktionen nicht treffen. Proteinanalytische Untersuchungen, gezielte Protein-Degradierungsversuche der einzelnen rekombinanten Monomere und deren Einsatz in der Einzelzellkultur könnten jedoch Aufschluss bringen.

0

0 5 25 50 100 200 300

Konzentration [ng/ml]

500 1000 5000 50

100 150 200 250 300

mittlere Neuritenzahl/Explantat

βL NGF

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Abb. 5-6: Sequenzvergleich der bovinen βγ-Kristalline: γII, βB1, βB2, βB3 und βA1/3. = über der Sequenz:

drei-dimensional hoch konservierte Strukturen. _ unter der Sequenz: β-Faltblatt, ~ unter der Sequenz: α-helicale Strukturen. Rot: hoch konservierte Sequenzen, die sich β- und γ-Kristallin teilen. Blau: Sequenzen, die sich mehrere β-Kristalline teilen. Grün: spezifisch für βB1-Kristallin (modifiziert nach Slingsby et al., 1988).

Wie auch die βL-Kristallin Fraktion entspricht das Kristallin βH-Ratte in der Gewebekultur den Erwartungen aus den in vivo Experimenten von Fischer (2000). βH-Kristallin erreicht

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Abb. 5-7:A) Chromatogramm und B) 2D-SDS-Page der Reversen Phasen - Separation der βH Fraktion. βB1 und βA4 stellen die beiden häufigsten Monomere der Fraktion dar. βB2 und βA3/A1 sind jedoch ebenfalls vergleichsweise stark vertreten (Ma et al., 1998; Lampi et al., 1998).

Allerdings liegen wie bei βL-Kristallin auch die Komponenten des βH-Kristallins bei 50 ng/ml in Form von Mono- bzw. Dimeren vor (Ma et al., 1998; Lampi et al., 1998, Bateman et. al., 2001; Lampi et al., 2001). Anders als α-, γ- oder βL-Kristallin erfolgt im Kurvenverlauf direkt nach Erreichen des maximalen Effektes keine Plateauphase sondern ein steiler Abfall der Wirkung. Dieser Verlauf ist nahezu identisch mit dem des NGF.

Allerdings erreicht NGF seinen Emax erst bei 100 ng/ml (Abb. 5-8).

Abb. 5-8: Interpolierte Konzentrations-Wirkungskurve von βH-Kristallin der Ratte im Vergleich zur Konzentrationswirkungskurve von NGF im E12-Gewebekulturmodell. Deutlich zu sehen ist der nahezu gleiche Kurvenverlauf der beiden Substanzen. Allerdings erreicht NGF seinen maximalen Effekt erst bei der doppelten Konzentration als βH-Kristallin.

0 50 100 150 200 250 300

0 5 15 25 50 75 100 200 300

Konzentration [ng/m l]

mittlere Neuritenzahl/Explantat

βH NGF

A) B) basisch sauer

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Innerhalb der βγ-Familie ist βH-Ratte die Fraktion mit dem höchsten Emax. Es erreicht einen ähnlichen Emax wie αB-Kristallin, NGF und NT-4. βH-Kristallin ist in seiner maximalen „Wirkungsstärke“ durchaus mit bereits bekannten Mitgliedern der

„Neurotrophin-Familie“ vergleichbar und kann somit auch als neurotropher Faktor bezeichnet werden.

Es stellte sich die Frage, ob die neurotrophe Wirkung des βH–Kristallins einem spezifischen Mechanismus folgt und ob der hohe βB1–Kristallin Anteil dabei eine entscheidende Rolle spielt. Ein Indiz hierfür ist, dass sich das Kristallin Ratte von βH-bovin in der maximalen „Wirkungsstärke“ unterscheidet. Beide zeigen gegenüber der Kontrolle eine signifikante Erhöhung der Neuritenanzahl, aber das Rinderkristallin wirkt signifikant stärker als das Rattenkristallin.

Während das βB2- und βA4-Kristallin als zweit- und drittgrößte Komponente des βH -Kristallins kaum speziesspezifische Unterschiede aufweisen, zeigt das βB1-Monomer als Hauptkomponente in seinem N-Terminus die größten Unterschiede zwischen Rind und Ratte. So stehen sich z.B. die bovine Aminosäuren-Sequenz „AAKASAT“ (bovine AS 4-10) und die der Ratte „VAKAAAT“ (Ratten AS 3-9) als heterogene Sequenzen gegenüber.

Gleiches gilt unter anderem auch für die bovinen Sequenzen „AKAELPP“ (bovine AS 50-55) und jener der Ratte „AKVGELPP“ (Ratten AS 46-53) (SwissProt, 2002) (Abb. 5-9).

Abb. 5-9: Aminosäuren-Sequenzvergleich zwischen dem N-Terminus des βB1-Kristallins des Rindes (B) und der Ratte (R). Rot: homologe Aminosäuren-Sequenzen in beiden Spezies, grün: spezifische Sequenzen des Rindes, blau: spezifische Sequenzen der Ratte (modifiziert nach SwissProt, 2002).

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