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Nationale Bewegungen PolenPolen

Eine aussergewöhnliche galizische Kleinstadt

VI.2 Nationale Bewegungen PolenPolen

Aufgrund der deutschen Orientierung der jüdischen Eliten (vgl. Kap. V.2) war bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert praktisch ausschließlich die römisch-katholische Bevölkerung Trägerin der polnischen Sprache und Kultur. Ein Schlüsselereignis für die Verbreiterung der

480 CDIAL, F. 146, op. 4, spr. 1309, Auszug aus dem (christlichen) Broder Gewerbskataster vom 15.6.1840, S. 8–15; Auszug aus dem (jüdischen) Broder Gewerbskataster vom 14.6.1840, S. 16–53.

481 Bericht Handelskammer Brody (Jg. 1852), S. 6; (Jg. 1854–1857), S. 179f.

482 Für spätere Jahrzehnte sind keine Daten verfügbar. CDIAL, F. 201, op. 4a, spr. 512–513.

483 CDIAL, F. 618, op. 2, spr. 239–247, spr. 2310.

polnischen Nationalbewegung war, wie in vielen anderen Gebieten der ehemaligen Rzecz-pospolita, der Jänneraufstand des Jahres 1863. Viele angesehene Persönlichkeiten Brodys sym-pathisierten offen mit der Erhebung im Nachbarland. Den Kämpfen direkt angeschlossen haben sich jedoch nur drei katholische Brodyer. Die Sekundärliteratur erwähnt außerdem noch zwei Juden, die dieses national-polnische Unterfangen logistisch unterstützten: einen gewissen Philipp Zucker (Sohn des Brodyer Primararztes) und einen Isidor Heilpern; letzterer nahm angeblich auch an Kampfhandlungen teil. Beide stammten aus Brody, lebten allerdings in Lemberg beziehungsweise Warschau.484

Zentrum der polnisch-patriotisch gesinnten Brodyer war das Verlagshaus Rosenheim. Jan Rosenheim (1820–1907) hatte 1848 in Sambor (ukr. Sambir) ein Buchgeschäft eröffnet und gründete 1862 in Brody eine Filiale. Prägend für das polnische Brody wurde der 1846 im oberungarischen Virava (dt. Werau, slowak. Výrava) geborene Feliks West (gest. 1946 in Neu-sandez [pol. Nowy Sącz]). Nach Praktika bei Rosenheim in Sambor und Brody sowie bei Ver-lagen in Lemberg siedelte West 1878 endgültig in die Grenzstadt um. Ein Jahr später heiratete er Rosenheims Tochter und kaufte 1882 von seinem Schwiegervater die Buchhandlung und schließlich 1888 auch die dazugehörige Druckerei. West verlegte bis zum Ersten Weltkrieg über 600, meist polnische (90 %), seltener deutsche und ab und zu lateinische Titel. Zwi-schen 1902 und 1914 gab der Verlag eine eigene Serie polnischer und ausländischer Klassiker (pol. Arcydzieła polskich i obcych pisarzy) heraus.485

Dieses Verlagshaus war auch der Initiator lokaler Zeitungsprojekte, denen allerdings wenig Erfolg beschieden war. Zwischen 1878 und 1881 erschien unter der Leitung Antoni Popiels zweimal monatlich die 10- bis 12-seitige Landwirtschaftszeitung Praktyczny Hodowca (pol.

für „Der praktische Züchter“)486 in einer Auflage von 1.500 Stück. Über zehn Jahre später versuchten Popiel und West, gemeinsam eine richtige Lokalzeitung für den Brodyer und Złoczówer Bezirk herauszugeben. Zwischen 1. April 1895 und 15. Mai 1897 erschien die Gazeta Brodzka, Dwutygodnik poświęcony sprawom społeczno-ekonomicznym i przemysłowym powiatów brodzkiego i złoczowskiego (pol. für „Brodyer Zeitung, zwei Mal monatlich den volkswirt-schaftlichen und gewerblichen Angelegenheiten des Brodyer und Złoczówer Bezirks

gewid-484 Gelber, Nathan Michael: Die Juden und der Polnische Aufstand 1863 (Wien/Leipzig 1923), S.

215, 223; West, Feliks: Wspomnienia z lat dawniejszych z terenu ziemi Brodzkiej, in: Oliwa, Adam (Hg.): Jednodniówka wydana z okazji XV-tej rocznicy niepodległości Ziemi Brodzkiej oraz zjazdu organizacji niepodległościowych 20–21 maja 1934 (Brody 1934), S. 6–7; Kościów, Zbigniew: Brody.

Przypomnienie kresowego miasta (Opole 1993), S. 15–22, 42.

485 Kuś, Damian Augustyn: Feliks West, ksiegarzwydawca. 1846–1946 (Warszawa 1988), S. 22–26, 34, 65f.

486 Ab 1881 erschien die Zeitschrift unter dem leicht abgeänderten Titel: Postępowy Hodowca. Pismo ilu-Pismo ilu-strowane poświęcone hodowli zwierząt domowych, sprawom gospodarczym, przemysłowym i handlowym.

met“) in einer Auflage von 1.500 Exemplaren (vgl. Abb. VI/1). Von den zumeist sechs Seiten waren die letzten beiden für Inserate lokaler Firmen reserviert. Die Werbeeinnahmen und die rund 450 Abonnenten in Brody selbst waren offensichtlich nicht ausreichend, um diese Zei-tung zu tragen, denn nach nur etwas über zwei Jahren wurde sie wieder eingestellt. Bis zum Ende der österreichischen Herrschaft wurde kein neuer Anlauf zur Herausgabe einer perio-dischen Zeitschrift unternommen. Kuś moniert das Fehlen von Artikeln für Handwerker als Ursache des Misserfolgs der Gazeta Brodzka.487 Weiters könnte man aber auch anführen, dass die übermäßige Konzentration auf die Stadt und den Bezirk Brody wohl kaum Leserschaft in Złoczów anzog. Außerdem verfolgte die Redaktion eine sehr national-polnische Linie, was 487 Kuś: Feliks West, S. 109–112.

Abb. VI/1:

Erste Ausgabe der

Gazeta Brodzka vom 1. April 1895.

in einer so überwiegend jüdischen Stadt wie Brody vielleicht ein zuwenig integrativer Ansatz war, selbst wenn sich in diesen Jahren mehr und mehr Juden als Polen zu sehen begannen.

Feliks Wests polnisch-patriotische Gesinnung äußerte sich aber nicht nur in den von ihm herausgegebenen Büchern und Zeitschriften; selbst das Wohn- und Verlagshaus der Familie war eine architektonische Manifestation der Polonität an Brodys prominentester Adresse, der Goldgasse (pol. Ulica złota, ukr. Vulycja Zolota). An der Fassade prangen bis heute vier Me-daillons mit den Konterfeis der Schriftsteller Adam Mickiewicz, Józef Korzeniowski, Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński (vgl. Kap. X, Bildteil Stadtplannr. 4).

Die Einreihung Korzeniowskis488 unter die Großmeister der polnischen Romantik ist ein Brodyer Spezifikum und entspricht nicht ganz der Bedeutung dieses 1797 in Brody bezie-hungsweise eigentlich in Folwarki Małe geborenen Schriftstellers. Er besuchte zunächst die örtliche Normalschule und wechselte danach auf das renommierte polnische Gymnasium im nur rund 30 Kilometer entfernten russländischen Kremenec. Sein weiteres Leben verbrachte er zunächst als Universitätslektor in Kiew, Gymnasialdirektor in Char’kov (ukr. Charkiv) und schließlich als Schulrat und Bildungskoordinator in Warschau. Aufgrund seines polnischen Patriotismus und seiner Unterstützung des Jänneraufstands musste er 1863 Russland verlassen und starb noch im selben Jahr in Dresden.489 In seinem literarischen Schaffen widmete er sich typisch romantischen Themen, wie etwa dem edlen Freibeutertum in den wilden Karpaten in seinem Theaterstück Karpaccy górale (pol. für „Die karpatischen Goralen“). Seine Heimat-stadt Brody spielte für ihn jedenfalls weder biografisch noch literarisch eine Rolle – abgesehen von einem Brief mit Jugenderinnerungen, den er Sadok Barącz schrieb, als dieser 1865 eine Geschichte der Freien Handelsstadt Brody verfasste.490

Für die polnischen Brodyer hingegen war Korzeniowski eine zugleich lokalpatriotische als auch nationale Integrationsfigur. Auf Initiative Wests wurde 1895 ein Spendenaufruf in der Gazeta Brodzka zur Errichtung eines Denkmals gestartet, das der aus Brody gebürtige, sich offensichtlich auch künstlerisch betätigende Schulinspektor und Mitherausgeber Antoni Popiel kostenlos herstellen wollte, solange ihm die Materialkosten ersetzt würden. Allerdings flossen die Spenden nur sehr spärlich und in jeder Ausgabe der Zeitung mussten Unterstüt-zungsaufrufe geschalten werden; später wurden seitens des Denkmalkomitees auch Konzerte, Bälle und Soireen veranstaltet, um Geldspenden zu akquirieren.491 Schließlich gelang die Fer-488 Korzeniowski war nicht, wie häufig behauptet, der Vater des englischsprachigen Autors Joseph Conrad.

489 Chmielowski, Piotr: Józef Korzeniowski. Zarys biograficzny (St. Petersburg 1898), v. a. S. 3f, 9–14;

Kościów, Zbigniew: Motywy Brodzkie: Wspomnienia, przyczynki historyczne, szkice biograficzne (Opole 1995), S. 64.

490 Barącz: Wolne miasto, S. 130–139.

491 Kronika. Pamiętamy o pomniku Korzeniowskiego!, Gazeta Brodzka, Nr. 11, 1.9.1895, S. 3; Pomnik Korzeniowskiego, Gazeta Brodzka, Nr. 14, 15.10.1895, S. 2.

tigstellung des Denkmals doch pünktlich zum hundertsten Geburtstag Korzeniowskis am 19.

März 1897 und die Statue wurde in einem Festakt an einem der prominentesten Plätze Bro-dys, am Neustädter Markt, eröffnet (vgl. Kap. X, Bildteil Stadtplannr. 9). Neben der lokalen Prominenz war auch der langjährige Abgeordnete des Bezirks Brody (3. Kurie), Oktaw Sala, zugegen, der die Rolle des patriotischen Festredners übernahm.492

Die Namenslisten der Geldgeber zeigen, dass die ganze Sache tatsächlich ein polnisches Projekt war und von den griechisch-katholischen und jüdischen Einwohnern der Stadt nicht als lokalpatriotische Angelegenheit wahrgenommen wurde. Person und Denkmal Korze-niowskis waren in den 1890er-Jahren zu Identifikationsobjekten der polnischen Elite in Brody geworden und blieben das bis zum Zweiten Weltkrieg, was auch die nach 1918 erfolgte Umbe-nennung des örtlichen Gymnasiums zu Ehren dieses polnischen Schriftstellers unterstreicht.

Das letzte Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende markiert generell den Beginn der Poloni-sierung des öffentlichen Raums. Neben der Denkmalserrichtung, der Herausgabe einer pol-nischsprachigen Zeitung und dem Verlagsgebäude Feliks West wurden in jener Zeit auch eine ganze Reihe von polnischen Vereinen geschaffen, wie Sokół (pol. für „Falke”, 1891), Gwiazda (pol. für „Stern”, 1892), Szkoła Ludowa (pol. für „Volksschule“, 1902), Młodzież Polska (pol.

für „Polnische Jugend“, 1907) und Drużyna Bartoszowa (pol. für „Bartoszów-Trupp“, 1908).493 Die Umstellung des Brodyer Gymnasiums von deutscher auf polnische Unterrichtssprache fällt ebenfalls in diesen Zeitraum (vgl. Kap. VII.2). Nicht immer dürfte dieser Übergang von einem deutsch-jüdischen zu einem polnisch-galizischen Erscheinungsbild reibungslos verlau-fen sein. So beschwerte sich beispielsweise 1897 unter dem Titel „Deutschland, Deutschland über alles“ ein Leser der Gazeta Brodzka, dass einige jüdische Handwerker, Unternehmer und Ärzte immer noch ihre Firmenschilder nur auf Deutsch anfertigen ließen.494 Diese recht pole-misch gehaltene Notiz lässt darauf schließen, dass um die Jahrhundertwende ein rein deutsch-sprachiges öffentliches Auftreten bereits eher die Ausnahme denn die Regel war. Brody ging also eindeutig den Weg in Richtung einer „gewöhnlichen“ galizischen Kleinstadt – freilich fand diese Polonisierung des öffentlichen Raums gut ein Vierteljahrhundert später als im restlichen Kronland statt.495

492 Pomnik Józefa Korzeniowskiego, Gazeta Brodzka, Nr. 7, 1.4.1897, S. 1f.

493 Kościów: Brody, S. 44.

494 Kronika. ‚Deutschland, Deutschland über alles.’, Gazeta Brodzka, Nr. 7, 1.4.1897, S. 3.

495 Herzberg-Fränkl: Juden, S. 478f.

Ukrainer

In Brody selbst machte die ruthenische Bevölkerung nur fünf bis zwölf Prozent aller Einwohner aus – ein für ostgalizische Städte besonders niedriger Anteil. Eine scharfe Trennung zwischen Stadt und Umland wäre hinsichtlich der Geschichte der ukrainischsprachigen Bevölkerung al-lerdings nicht sinnvoll. Die griechisch-katholischen Kirchen, der Marktplatz und die Bildungs-angebote in Brody führten dazu, dass auch Ruthenen aus der näheren Umgebung regelmäßig in die Stadt kamen und somit eine relevante und sichtbare Gruppe im Stadtleben waren.

Der Mitbegründer der Ruthenischen Triade (ukr. Rus’ka Trijcja) Jakiv Holovac’kyj (1814–

1888) wurde zwar im 20 Kilometer südlich von Brody gelegenen Czepiele (ukr. Čepeli) ge-boren, hatte zur Stadt Brody jedoch keine persönlichen Verbindungen. Seine Tätigkeit als Wegbereiter einer modernen ukrainischen Literatursprache hatte kaum direkten Einfluss auf seinen Heimatbezirk, genauso wenig wie seine politische Rolle im Jahr 1848 als Aktivist in-nerhalb der Holovna Rada Rus’ka (ukr. für „Ruthenischer Hauptrat“).496 Unabhängig von Holovac’kyj bildete sich im Juni 1848 in Brody ein Subkomitee dieser ersten politischen Ver-tretungsinstitution der galizischen Ruthenen, das mit 105 Mitgliedern sogar eines der größ-ten unter den insgesamt 50 Filialkomitees war. Es beteiligte sich mit Unterschrifgröß-tenaktionen an den Anliegen der Rada Rus’ka wie der Teilung des Kronlands oder dem Protest gegen die Einführung der polnischen Unterrichtssprache in den ostgalizischen Schulen. Es gelang dem Kreiskomitee allerdings nicht, die Erlaubnis zur Formierung einer Lokaleinheit einer zu schaffenden Ruthenischen Nationalgarde zu bekommen. Die Brodyer Filiale bestand mindes-tens bis Anfang 1850, eventuell sogar bis zur allgemeinen Auflösung der Holovna Rada Rus’ka 1851.497

Die intellektuelle Landschaft der galizischen Ruthenen war bis zu den Russophilenprozes-sen von 1882 im kulturellen Bereich von russophilen Tendenzen bei gleichzeitiger politischer Habsburgtreue geprägt.498 In den Bezirken Brody und Złoczów dominierte diese, auch altru-thenisch genannte Ausrichtung bis zum Ende der Habsburgermonarchie.499 In den 1870er- und 1880er-Jahren beauftragte die Statthalterei mehrmals die Brodyer

Bezirkshauptmann-496 Steblij, Feodosij: Jakiv Holovac’kyj – dijač ukrajins’koho nacional’noho vidrodžennja, in: Zrobok, Bohdan (Hg.): Brody i Bridščyna. Istoryčno-memuarnyj zbirnyk. Kniha II (Brody 1998), S. 478–491.

497 Kozik, Jan: The Ukrainian National Movement in Galicia: 1815–1849 (Edmonton 1986 [1973]), S.

203f, 294; Turij, Oleh (Hg.): Holovna Rus’ka Rada 1848–1851. Protokoly zasidan’ i knyha korespon-Protokoly zasidan’ i knyha korespon-denciji (L’viv 2002), S. 52, 76, 145, 207.

498 Wendland, Anna Veronika: Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Rußland, 1848–1915 (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monar-chie 21) (Wien 2001), S. 16f.

499 Kleparčuk, Stepan: Dorohamy i stežamy Bridščyny. Spomyny (Toronto 1971), S. 31f.

schaft, die russophilen Aktivitäten innerhalb des Bezirks zu beobachten und dabei vor allem auf die griechisch-katholischen Geistlichen zu achten. Allerdings waren auch in Brody, so wie bei den Lemberger Prozessen von 1882, die meisten Verdächtigungen haltlos.500

Ein besonderer Stein des Anstoßes waren die Pilgerfahrten in das nur wenige Kilometer hinter der russländischen Staatsgrenze liegende Počaev-Kloster. Dieses Kloster war in der ers-ten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegründet worden und musste unter polnischer Herrschaft 1712 von der Orthodoxen zur Unierten Kirche übertreten. Trotz der Zugehörigkeit zum Russ-ländischen Reich ab 1795 blieb es bis zum Polnischen Aufstand 1830/31 unter der Leitung des unierten Basilianerordens. Nur zwei Jahre nach der Reorthodoxierung wurde das Kloster 1833 in den Rang eines Lavra erhoben und gehörte somit zu den drei heiligsten Orten der Russisch-orthodoxen Kirche.501 Pilgerfahrten nach Počaev (pol. Poczajów, ukr. Počajiv) wur-den seit jeher von galizischen Ruthenen unternommen und waren viel eher Ausdruck der Volksfrömmigkeit als einer kulturpolitischen Ausrichtung. Dennoch sah sich der griechisch-katholische Erzbischof von Lemberg im Februar 1884 veranlasst, alle grenznahen Dekanate, darunter auch jenes in Brody, anzuweisen, dass die jeweiligen Seelsorger ihren Gemeindemit-gliedern die „Sündhaftigkeit“ solcher Pilgerfahrten erklären sollten. Als Alternative sollten die Priester den Gläubigen andere Wallfahrtsorte in Galizien schmackhaft machen, wie etwa das ebenfalls nur wenige Kilometer von Brody entfernte Kloster Podkamień.502 Das Innenminis-terium vermutete sogar, dass das russländische Konsulat in Brody direkt einige Burschen aus der Stadt und deren Umgebung in obskurer Weise anwarb, um in Počaev proorthodox indok-triniert und danach als Propagandisten in Galizien eingesetzt zu werden. Auch wenn der Be-zirkshauptmann diese Gerüchte nicht bestätigen konnte, wurde er doch zur weiteren Vorsicht gemahnt.503 Diese Warnung dürfte von der Regionalverwaltung durchaus ernst genommen

500 CDIAL, F. 146, op. 4, spr. 2617, Anordnung der Statthalterei an Złoczów vom 20.6.1874 mit Kopie an die Brodyer Bezirkshauptmannschaft, S. 67f; Bezirkshauptmannschaft Brody ans Landespräsidium, 7.11.1874, Zl. 42, ad 9142 ex 1874, bzgl. des Aufenthalts des Pfarrers Julian Podsoński in Zwyżynie, S.

154; CDIAL, F. 146, op. 4, spr. 2618, Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Złoczów ans Landesprä-sidium vom 7.6.1875, S. 17.

501 Bulyha, Oleskandr: Do pytannja pro datu zminy jurysdykciji Počajivs’koho Monastyrja u peršij tretyni XVIII stolittja, in: Istorija relihiji v Ukrajini. Praci XI-ji mižnarodnoji naukovoji konferenciji (L’viv, 16–19 travnja 2001r.) Knyha 1 (L’viv 2001), S. 106–110; Chojnackij, A. O.: Počaevskaja Uspens-kaja Lavra. Istoričeskoe opisanie (Počaev 1897), S. 125–131.

502 CDIAL, F. 146, op. 7, spr. 4341, Schreiben des Bischofs Sembratowicz an die Statthalterei vom 3.2.1884, Zl. 35., S. 22–25.

503 CDIAL, F. 146, op. 7, spr. 4301, Innenminister an Statthalter Philipp Ritter von Zaleski am 29.12.1884, Zl. 6227, Notitz bzgl. der russisch-orthodoxen Umtriebe in Galizien, S. 53–57; Schreiben der Bezirk-shauptmannschaft ans Landespräsidium vom 30.12.1884, Zl. 167, S. 58; Schreiben des Landespräsidi-ums an die grenznahen Bezirkshauptmannschaften vom 4.1.1885, S. 60f.

worden sein, denn in einem Brief des Archimandrits (Abt) Sofronij des Počaev-Klosters an den Metropoliten von Žitomir aus dem Jahr 1901 schrieb ersterer, dass die Zahl der Pilger aus Galizien in den letzten 20 Jahren abgenommen habe, insbesondere im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende. Sofronij beklagte, dass vor allem seit der Ernennung des Grafen Władysław Russocki zum Brodyer Bezirkshauptmann die Schikanen gegenüber Pilgern mas-siv zugenommen hätten. Allerdings bedauerte er auch, dass die russischen [sic, russkie] Grenz-behörden passlosen Pilgern zunehmend Schwierigkeiten beim Grenzübertritt bereiteten.504

Eine der zentralen Einrichtungen der Russophilen in Galizien war die 1874 von Ivan Naumovyč initiierte Mychajlo-Kačkovs’kyj-Gesellschaft (russ. Obščestvo im. Michaila Kačkovs kogo). Die bereits 1876 in Brody gegründete Vereinsfiliale gehörte zu den allerersten Zweigstellen außerhalb Lembergs und bemühte sich intensiv um die Verbreitung eines kon-servativen, russophilen, aber dennoch österreichisch-patriotischen Gedankenguts auf Bezirk-sebene. Die Brodyer Dependance gehörte mit ihren zahlreichen Bezirkslesestuben, der Unter-haltung eines Schülerheims und über 220 Mitgliedern um die Jahrhundertwende gemeinsam mit jenen in Drohobycz, Kolomea, Przemyśl und Sokal (ukr. Sokal’) zu den aktivsten und größten Filialen.505 Die konservative Ausrichtung der Kačkovs’kyj-Gesellschaft zeigte sich bei-spielsweise in ihrem Kampf gegen die Einführung der phonetischen Schreibung des Ukraini-schen, die ab 1893/94 die traditionelle Orthografie in den ruthenischen Schulen Ostgaliziens ablösen sollte. Auch die Brodyer Zweigstelle nahm an diesen Protesten teil und sammelte 1892 Unterstützungserklärungen für eine diesbezügliche Petition ans Bildungsministerium;

allerdings war die Ausbeute mit etwas über 150 Unterschriften aus der Stadt und dem Bezirk Brody nicht sonderlich groß.506

Die russophile Bewegung war viele Jahrzehnte politisch kaum nach Russland orientiert, sondern richtete sich vielmehr gegen die polnische Dominanz in Galizien beziehungswei-se, wie diese Petition zeigt, gegen die moderne ukrainische Nationalbewegung.507 Letztere versuchte auch in Brody Fuß zu fassen, wie beispielsweise der 1894 gegründete Sparverein Samopomič (ukr. für „Selbsthilfe“) zeigt, der zunächst von Russophilen dominiert war, nach der Jahrhundertwende jedoch zunehmend unter ukrainophile Kontrolle geriet.508 Der wich-tigste Schritt zur Herausbildung einer modernen ukrainischen Nationalbewegung in Brody war die von den Religionslehrern Pater Mychajlo Lotoc’kyj und Pater Hryhoryj Jarema initi-ierte Errichtung einer Filiale der Prosvita-Gesellschaft (ukr. für „Aufklärung“) am 1. Novem-504 DATO, F. 258, op.1, spr. 4354, Brief des Archimandrits des Lavras Sofronij an Modest, Wolhynischer

und Žitomirer Erzbischof vom 1.6.1901.

505 Wendland: Russophile in Galizien, S. 273–276, 293.

506 CDIAL, F. 178, op. 1, spr. 1178, S. 85–86, 93–94, 95–96.

507 Vgl. Wendlands Schlussfolgerungen. Wendland: Russophile in Galizien, S. 569–574.

508 Kleparčuk: Dorohamy, S. 58.

ber 1891. Von den rund 60 Gründungsmitgliedern waren neben den beiden oben erwähnten noch weitere fünf Personen direkt aus der Stadt Brody, darunter ein gewisser Amvrozij Rybak, der Bezirksgerichtsadjunkt Volodymyr Lukavec’kyj, der Arzt Adam Struman’s’kyj sowie zwei weitere Gymnasiallehrer (Petro Skobel’s’kyj und Andrij Čyčkevyč).509 Auch nach der Jahrhun-dertwende waren Lehrer die treibende Kraft der ukrainophilen Bewegung in Brody, so der Katechet Sofron Hlibovyc’kyj, der Historiker und Verfasser einer Stadtgeschichte Brodys Ivan Sozans’kyj, der Mathematiklehrer Vasyl’ Sanat und vor allem der bedeutende akademische Aktivist der ukrainischen Nationalbewegung Vasyl’ Ščurat, der zwischen 1901 und 1907 am Brodyer Gymnasium unterrichtete. Dieser war nicht nur in der Prosvita, sondern auch im Klub Osnova (ukr. für „Basis“) aktiv.510 Allerdings gab es an dieser Schule durchaus auch rus-sophil eingestellte Lehrer wie Julian Kustynovyč oder Mikola Suščyns’kyj. Die Gespaltenheit im Schulbereich lässt sich auch daran erkennen, dass 1903 zwei ruthenische Schülerheime ge-gründet wurden: die Bursa im. M. Šaškevyča (ukrainophil) und die Bursa im. o. T. Jeffinovyča (russophil).511 Während erstere – so wie die 1905 beziehungsweise 1908 eröffnete polnische und jüdische Bursa – Unterstützung von Kronland, Bezirk und Gemeinde erhielt, konnte sich letztere nur auf finanzielle Zuwendungen seitens des Bezirks und angeblich seitens Russ-lands verlassen. Das widerspiegelt die realen politischen Machtverhältnisse zwischen diesen beiden Strömungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Russophilen, trotz ihrer Mehrheit im Brodyer Umland, zunehmend an den Rand gedrängt. Genaue Inspektionen ihrer Bursa seitens der galizischen Behörden weisen ebenfalls auf den Argwohn hin, dem diese kulturpolitische Ausrichtung in Brody mehr und mehr ausgesetzt war.512

Zwar ist das Kräfteverhältnis zwischen ukrainophilen und russophilen Ruthenen im Bro-dyer Gemeinderat unbekannt, aber selbst wenn die Konservativen die Nationalen übertra-fen, hatten erstere wohl nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten. Schließlich dominierten aufgrund der demografischen Verhältnisse Brodys jüdische Abgeordnete den Gemeinderat, und diese teilten vermutlich kaum die Interessen der seit den 1880er-Jahren zunehmend an-tisemitisch ausgerichteten russophilen Bewegung.513 Kleparčuk hingegen berichtet von einer

509 CDIAL, F. 348, op. 1, spr. 1303, S. 7, 10f, 50.

510 Kleparčuk: Dorohamy, S. 61f; CDIAL, F. 348, op. 1, spr. 1303, S. 52, 57, 64; LNB, VR, Šč-t 7 / p 4, S. 7–14.

511 Jahresbericht des k.k. Real und Ober-Gymnasiums in Brody (Sprawozdanie c. k. Gimnazyum im. Rudolfa w Brodach [ab 1908 auf polnisch]) (Brody 1879–1914), hier 1914, S. 40f; Kleparčuk: Dorohamy, S. 32, 58f.

512 Jahresbericht Gymnasium (1914), S. 32f; Kleparčuk: Dorohamy, S. 32; ÖStA/HHStA, MdÄ, PA, Liasse XXXXV/9 Karton 222, Z.Z. 5774 M.I., S. 124–130.

513 Bei den Reichsratswahlen 1873 war das noch nicht so; da gab es sogar noch Wahlabsprachen zwischen Russophilen und deutschliberalen Juden. Wendland: Russophile in Galizien, S, 321–337; Manekin:

Politics.

jüdisch-ukrainischen Kooperation im Stadtrat im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als auf Antrag des Gemeindedeputierten Vasyl’ Sanat eine Straße nach Markijan Šaškevyč, einem der drei Mitbegründer der ruthenischen Triade und Symbolfigur der Ukrainophilie, benannt wurde.514

Auf Bezirksebene hingegen waren die Russophilen bis zum Ausbruch des Ersten Welt-kriegs die dominante politische Strömung. Der Vertreter der vierten Wahlkurie zum galizi-schen Landtag war im Gegensatz zu jenem der dritten stets ein Ruthene, außer zwigalizi-schen 1882 und 1889, als Graf Stanisław Badeni dieses Mandat innehatte.515 Nachfolger Badenis wurde das langjährige Führungsmitglied der Brodyer Zweigstelle der Kačkovs’kyj-Gesellschaft Ivan Sirko.516 Bei der infolge von Sirkos Tod notwendigen Nachwahl kam es 1893 erstmals zur Kandidatur eines Ukrainophilen für die vierte Kurie des Bezirks Brody. Mychajlo Pavlyk be-richtete hinsichtlich dieser Wahl von groben Unregelmäßigkeiten sowie von Anfeindungen seitens der russophilen Öffentlichkeit.517 Die Wahl gewann schließlich Oleksandr Barvins’kyj (Aleksandr Barvinskij), ein konservativer Altruthene mit guten Beziehungen zu den

Auf Bezirksebene hingegen waren die Russophilen bis zum Ausbruch des Ersten Welt-kriegs die dominante politische Strömung. Der Vertreter der vierten Wahlkurie zum galizi-schen Landtag war im Gegensatz zu jenem der dritten stets ein Ruthene, außer zwigalizi-schen 1882 und 1889, als Graf Stanisław Badeni dieses Mandat innehatte.515 Nachfolger Badenis wurde das langjährige Führungsmitglied der Brodyer Zweigstelle der Kačkovs’kyj-Gesellschaft Ivan Sirko.516 Bei der infolge von Sirkos Tod notwendigen Nachwahl kam es 1893 erstmals zur Kandidatur eines Ukrainophilen für die vierte Kurie des Bezirks Brody. Mychajlo Pavlyk be-richtete hinsichtlich dieser Wahl von groben Unregelmäßigkeiten sowie von Anfeindungen seitens der russophilen Öffentlichkeit.517 Die Wahl gewann schließlich Oleksandr Barvins’kyj (Aleksandr Barvinskij), ein konservativer Altruthene mit guten Beziehungen zu den