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Integration auf Gemeindeebene – Brodys Sonderstellung

Eine aussergewöhnliche galizische Kleinstadt

V.2 Integration auf Gemeindeebene – Brodys Sonderstellung

Die politische Integration der jüdischen Bevölkerung in die allgemeine Gemeindeverwal-tung ist in vielerlei Hinsicht von außerordentlicher BedeuGemeindeverwal-tung und im Habsburgerreich ver-mutlich einzigartig. Die Quellenuntersuchung erlaubt drei wichtige Schlüsse. Erstens: Juden waren von der politischen Mitbestimmung in Brody nicht ausgeschlossen. Zweitens: Das Zusammenleben der ethno-konfessionellen Gruppen funktionierte. Und drittens: Die Skep-sis des Guberniums gegenüber den entsprechenden Regelungen in Brody dokumentiert die einzigartige Stellung, die die Stadt in Hinblick auf die politische Integration der Juden in Galizien einnahm.

Der paritätisch besetzte Stadtausschuss

Im Jahr 1826 stellte das galizische Landesgubernium fest, dass der Brodyer Stadtausschuss von Juden und Christen paritätisch besetzt war und verlangte eine Rechtfertigung für diesen

(Wien 1924), S. 105–111; Mandel/Meltzer/Parvari-Leiner/Shmuszkin-Rubinstein (Hg.): Jizkor liBrodi, S. 31; Friedmann: Juden im Kampfe, S. 17–21; ÖStA/AVA, Hofkanzlei, Protokollbuch Gali-zien 1790, Dekret ans galizische Gubernium vom 28.7.1790, 106 ex julii 1789, S. 372.

358 Charmatz, Richard: Adolf Fischhof. Das Lebensbild eines österreichischen Politikers (Stuttgart/

Berlin 1910), S. 278f.

ungewöhnlichen Zustand. Dieser Ausschuss kann als eine Art Vorläufer eines Gemeinderats verstanden werden, der der vom Bürgermeister geleiteten Stadtverwaltung (Magistrat) be-ratend und mithelfend zur Seite stand. Hintergrund und Auslöser des gesamten Aktenlaufs dürften Rechtsstreitigkeiten zwischen dem adeligen Grundherrn und der Stadtgemeinde gewesen sein. Es folgte jedenfalls eine mindestens fünf Jahre dauernde Diskussion, in der die christlichen und die jüdischen Ausschussmitglieder, der Brodyer Bürgermeister und das Złoczówer Kreisamt einträchtig versuchten, das Gubernium und den Kaiser persönlich von der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit dieses Umstands zu überzeugen. Was war geschehen und was waren ihre Argumente?

Der Streit entzündete sich um den Begriff des Stadtbürgers. Laut dem von Kaiser Franz II. erlassenen Hofdekret vom 24. September 1792 besaß „jeder ansässige Bürger ohne Unter-schied der Religion“ das aktive und passive Wahlrecht für den Stadtausschuss. Die Brodyer interpretierten das Dekret als Aufhebung jener Zusatzbestimmung zum josephinischen Ju-denpatent vom 16. Februar 1789, derzufolge Juden einstweilen kein Bürgerrecht bekommen könnten; das aktive und passive Wahlrecht war in diesem Patent im § 16 allerdings sehr wohl vorgesehen.359 In ihrem Schreiben vom 19. November 1826360 argumentierten die christlichen Ausschussmitglieder, dass die neutrale Formulierung der Wahlvoraussetzung „jeder ansässige Bürger ohne Unterschied der Religion“ ja prinzipiell auch die Juden einschließen würde.

Tatsächlich gab es natürlich keine jüdischen Bürger in Brody oder in anderen Städten. Man argumentierte, dass allerdings in Brody auch kaum ein Christ juristisch gesehen das Bürger-recht besaß, da dieses in grundherrlichen Adelsstädten wie Brody, anders als bei Munizipal-städten, praktisch nie vergeben wurde. Daher begnügte man sich bei der 1798 erstmals erfolg-ten Wahl, lediglich die seit 1792 gelerfolg-tenden prinzipiellen Voraussetzungen zur Erlangung des Bürgerrechts, nämlich das Vorhandensein von Hauseigentum im Stadtgebiet oder den Status eines Meisters eines Gewerbes, als Wahlfähigkeitskriterium anzusehen. Dasselbe galt im Jahr 1816, als sich aufgrund von Todesfällen das einst 40-köpfige Gremium (also 20 Christen und 20 Juden) schon zu sehr gelichtet hatte und eine Nachwahl notwendig geworden war.

Der zweite Grund, weshalb die christlichen Ausschussmänner in ihrem Schreiben den Ver-bleib ihrer jüdischen Kollegen vertraten, war die Einsicht, dass es nur gerecht sei, in einer Stadt, in der 80 % der Einwohner Israeliten seien, diese politisch mitbestimmen zu lassen.

Immerhin habe der Ausschuss ja die Aufgabe, für das Wohl der Stadt zu sorgen und da könne man die Mehrheit nicht einfach ignorieren, zumal die beiden Religionsgruppen in brüderli-cher Eintracht lebten.

359 Friedmann: Juden im Kampfe, S. 121f

360 APKW, Teki Schneidera, 199, Schreiben der christlichen Ausschussmänner, 19.11.1826, S. 67–71. Für den Gesamttext siehe Anhang.

Als letztes Argument wird der Umstand zur Sprache gebracht, dass einige der allgemeinen städtischen Privilegien an alte, nur die jüdischen Einwohner betreffende Rechte gebunden seien. Dadurch hätten die jüdischen Vertreter durch ihre jahrzehntelange Erfahrung in der Verteidigung ihrer Rechte gegenüber dem Grundherrn eine für das Gesamtwohl der Stadt unerlässliche Expertise, die sie im Klima der guten innerstädtischen Zusammenarbeit auch stets zur Verfügung stellten.

Das Kreisamt hatte das Wahlergebnis von 1798 am 7. Jänner 1799 genehmigt; anschließend hatte das Gubernium die Wahl ebenfalls bestätigt. Letzteres hatte auch den Wahlmodus, nach welchem diese jüdischen Ausschussmänner von der gesamten jüdischen Gemeinde zu wählen seien, gut geheißen. Umso erstaunlicher war es, dass die oberste Landesbehörde 1826 nicht nur Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Angelegenheit hegte, sondern auch so tat, als wüsste sie von der ganzen Sache nichts. Daraufhin legten der Brodyer Bürgermeister und das Złoczówer Kreisamt eine Reihe von Dokumenten vor, die die einstige Zustimmung belegten.

Weiters erinnerte das Kreisamt daran, dass das Gubernium bereits anlässlich der Nachwahl von 1816 eine Erklärung hinsichtlich der Gründe für die paritätische Besetzung des Stadtaus-schusses eingefordert hatte. Damals seien dieselben rechtlichen und moralischen Argumente wie 1826 vorgebracht worden, woraufhin das Landesgubernium die Sache mit dieser Klar-stellung auf sich beruhen hatte lassen.361 Die Landesverwaltung sah also bereits 1816, dass die Stadtausschusswahlordnung in Brody eine nicht dem galizischen Usus entsprechende Rege-lung war. Da aber alle Seiten damit einverstanden waren, dürfte das Gubernium aus pragma-tischen Gründen keine weiteren Bedenken gehabt haben.

Im Jahr 1826 schien die galizische Landesbehörde der schlüssigen Argumentation der Bro-dyer zunächst ebenfalls durchaus wohlwollend gegenüber zu stehen. Der für Rechtsfragen zuständige Brodyer Stadtsyndikus Hipparsthal bestätigte Anfang 1829 nochmals ausdrück-lich, dass Christen in Brody tatsächlich nur in Ausnahmefällen das Bürgerrecht besäßen und auch die anderen schon so oft wiederholten Punkte korrekt seien.362 Im Laufe des Jahres 1829 erfolgte innerhalb der Landesbehörde aber offensichtlich ein Meinungsumschwung. Per Erlass vom 13. Oktober 1829 ordnete das Gubernium die Entlassung der jüdischen Ausschuss-männer an. Es stützte sich dabei auf das Dekret von 1789, das Juden die Erlangung des Bür-gerrechts einstweilen untersagte. Daraufhin entschlossen sich sowohl die christlichen als auch 361 APKW, Teki Schneidera, 199, Schreiben des Brodyer Bürgermeisters Gruber vom 23.11.1826, Zl. 3076, S. 80f; Gubernio an das Zloczower Kreisamt vom 29.10.1802, Zl. 31220/3727, S. 64; Anfrage des Gu-bernio ans Kreisamt vom 29.8.1816, S. 84; Beilage: Bürgermeister Gruber ans Kreisamt vom 17.11.1816, Zl. 2081, S. 82; Schreiben des Zloczower Kreisamts ans Gubernium vom 8.2.1827, Zl. 18883, S. 78f;

Schreiben des Zloczower Kreisamts ans Gubernio vom 5.9.1827, Zl. 13752, S. 76f.

362 APKW, Teki Schneidera, 199, Schreiben von Hipparsthal ans Brodyer Kreisamt vom 31.3.1829, Zl.

1737/1829, S. 74.

die jüdischen Vertreter zu einem Hofrekurs. Die Christen vermuteten in ihrem Schreiben, dass dieser Stimmungsumschwung auf Druck des Brodyer Grundherrn passiert sei, denn das Gubernium wusste ja schließlich seit 30 Jahren Bescheid:

„Erwägt man, daß diese Anfrage in einen Zeitpunkt fiel, wo die Stadt mit der ihre Gerechtsame und Privilegien zu beeinträchtigen strebenden Grundherrschaft sich in Streit befand, und wobey die alten und erfahrenen mit den Verhältnissen der Stadt, und dem Zweck der Intrigen Seitens der Widersa-cherin vertrauten Israelitischen Ausschußmänner in Beziehung auf die Integrität der Stadtgerechtsa-me die kräftigste Gegenwehr leisteten, so ist nicht schwer zu errathen, woher dieser Schlag kam. […]

So ist das tiefere Sinken der ohnehin schon gesunkenen Stadt unausbleiblich: denn, wenn die Gerechtsamen und Privilegien einer verarmenden Gemeinde noch mehr verkürzt werden, was gewiß geschen würde, wenn der Ausschuß aus den Russniakischen und pohlnischen Einwohnern der niedern Klasse, welche der deutschen Sprache nicht einmahl kundig sind, die Gerechtsamen der Stadt nicht kennen, und denen ihr Verlust keinen Schaden bringt, bestehen sollte, und aus derselben wird er wohl zum größten Theile bestehen müssen, wenn die Israelitischen Einwohner davon entfernt bleiben sollten.“363

Diese Vermutung ist nicht ganz unplausibel, zumal Franciszek Potocki (1788–1853) das Domi-nium Brody nach dem Tod seines Vaters Wincenty 1825 übernommen hatte. Damit könnten die schon seit Jahrzehnten bestehenden Rechtstreitigkeiten zwischen Grundherr und Stadt-gemeinde einen neuen Impuls bekommen haben. Interessant ist hier auch der Verweis auf die ruthenischen und polnischen Einwohner der Stadt, die hier quasi sprachlich-national identifiziert werden. Das auch davor schon öfters vorgebrachte Argument, es ließen sich unter den christlichen Bewohnern gar nicht genügend geeignete Männer finden, wird hier ebenfalls wiederholt. Allerdings bestünde nicht nur das Problem, dass Vertreter aus den niedereren Schichten des Deutschen nicht ausreichend mächtig wären, sondern auch, dass sie unter an-derem gegenüber dem adeligen Eigentümer andere politische Interessen hätten.

Rückschlüsse auf das Zusammenleben der ethno-konfessionellen Gruppen

Ob es innerhalb der christlichen Ausschussmänner unterschiedliche Meinungen bezüglich des Verbleibs ihrer jüdischen Kollegen und den sprachlichen Fähigkeiten der eigenen Gruppe gab, ist nicht bekannt, wäre aber durchaus denkbar, vor allem wenn man die Liste der 1816 gewählten Ausschussleute betrachtet (vgl. Tab. V/1).364 Die Schreiben ans Landesgubernium 363 APKW, Teki Schneidera, 189, Bitte der christl. Ausschussmänner an den Kaiser vom 22.4.1830, o.S.

364 APKW, Teki Schneidera, 199, Schreiben des Bürgermeister Grubers vom 29.7.1816 mit Liste der in Brody gewählten Ausschussmänner.

von 1826 und nach Wien von 1830 haben jeweils nur zehn der 20 gewählten Christen unter-schrieben. (Diese sind kursiv markiert.) Es könnten natürlich durch Todesfälle einige ausge-fallen sein, oder die zehn Unterfertigten stellvertretend für alle christlichen Ausschussmänner unterschrieben haben. Dennoch fällt auf, dass jene Ausschussmänner mit eindeutig polni-schen Namen (Witkowski, Jezierski, Lachowiecki) beide Male nicht unterschrieben haben.

Tab. V/1: Liste der seit der Wahl von 1816 in Brody bestehenden Ausschussmänner Christliche Ausschussmänner Jüdische Ausschussmänner

Carl Hausner Wolf Goldenberg

Joseph Müller Hersch Rechels

Vinzenz Edler v. Violland Joseph Wittels Gregor Gretschinsky Jacob Mayer Harfeld

Anton Luzzano Mayer Beer

Ludwig Witkowski Löbel Bernstein

Gottlob Voigt Chaim Kahane

Daniel Stark Anschel Marc Götzel

Johann Martin Stein David Polak

Joseph Jezierski Naphtali Hersch Halberstam

Carl Krause Fischel Innlaender

Johann Lachowiecki Hersch Ostrosetzer

Spiridon Docko Abraham Hilferding

Andreas Jahn Jacob Schorr

Hersch Sellitzer

Abraham Willenz

Israel Bernstein

Moses Lichtenstadt

Moses Toporower

Mendel Schapire

Chr. Ausschussmänner aus früheren Wahlen Franz Dinzl

Joseph Lacheta Johann Pach Johann Koch Michael Thüringer Paul Platzer

Quelle: APKW, Teki Schneidera, 199, Schreiben des Bürgermeister Grubers vom 29.7.1816.

Auch wenn der Verbleib ihrer jüdischen Kollegen in erster Linie den deutschen christlichen Ausschussmännern ein Anliegen gewesen sein sollte, spricht der intensive Einsatz der christ-lichen Seite für ein funktionierendes multikulturelles Zusammenleben in Brody. Dieses gute Miteinander beruhte auf Respekt gegenüber den unterschiedlichen Fähigkeiten, der seine Anerkennung in der paritätischen Besetzung des Stadtausschusses fand. Dass diese Wertschät-zung nicht zwangsläufig aus Gründen der Sympathie entstand, sondern aus pragmatischen Überlegungen hinsichtlich einer erfolgreicheren Bekämpfung des Grundherren als gemeinsa-mem Feind, tut dieser Behauptung keinerlei Abbruch.

Auch im Stadtmagistrat hatten Juden gewisse Funktionen, so waren beispielsweise zwei der vier Stadtpolizeirevisoren (später einer von dreien) ebenfalls jüdisch und bezogen das gleiche Gehalt wie die christlichen Polizisten.365 Im bereits erwähnten, dem Magistrat zugeordneten Wechselgericht waren ebenfalls zwei der vier Beisitzerstellen dem israelitischen Handelsstand zugeordnet. In ihrem Rekursschreiben an den Kaiser vom 29. April 1830 äußerten die jü-dischen Ausschussmänner daher auch ihre Sorge, dass der interkonfessionelle Friede durch einen erzwungenen Ausschluss bedroht wäre:

„Das gute Einvernehmen […] würde bei dem eintretenden Unterschiede zwischen Einwohner und Einwohner, aus dem Kreise derselben weichen; der Christliche Einwohner, besonders aus dem niedrigen Haufen, würde sich bei dem Bemerken der öffentlichen Zurücksetzung des Is-raelitischen Miteinwohners berechtiget glauben, sich ebenfalls gegen den letzteren mit weniger Achtung und Scheuung benehmen zu dürfen, welches eine wechselseitige Reibung, einen Unwil-len in der Mitte der Gemeinde erzeugen, und das bisherige gegenseitige Zutrauen verschwinden lassen [würde].“366

Es ist nicht bekannt, welche Entscheidung die Hofkanzlei schließlich traf. Einige andere Quellen geben jedoch Hinweise, dass das System beibehalten wurde. Mandel schreibt, dass Mayer Kallir 1834 in den Stadtrat gewählt wurde.367 Andererseits schreibt Chonigsmann, dass bei den im Oktober 1848 stattgefunden habenden Stadtmagistratswahlen erstmals zwölf jüdi-sche Abgeordnete (von insgesamt 65) in den Gemeinderat gewählt werden konnten.368 Es ist aber in jedem Fall bemerkenswert, dass in Brody mitten im Vormärz mindestens 30 Jahre lang Juden nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich als gleichwertige Partner akzeptiert und im Gemeindeausschuss paritätisch vertreten waren.

365 ÖStA/AVA, Hofkanzlei, Ktnr. 947, IV J, Gal. Brody, 30 ex dec. 1826.

366 APKW, Teki Schneidera, 189, Bitte der jüd. Ausschussmänner an den Kaiser vom 29.4.1830.

367 Mandel/Meltzer/Parvari-Leiner/Shmuszkin-Rubinstein (Hg.): Jizkor liBrodi, S. 30.

368 Chonigsman: Evrei, S. 42f. [Chonigsmann beruft sich auf Friedmann: Juden im Kampfe, S. 242.]

Gemeindeorganisation nach 1848

Auch für die Zeit nach 1848 ist es unklar, wie die Gemeinde verwaltet wurde, da das Ge-meindewahlgesetz vom 17. März 1849 in Galizien nie in Kraft getreten ist und somit die bisherigen Gepflogenheiten der einzelnen Kommunen weiter in Kraft blieben.369 In der Zeit des Neoabsolutismus besaßen laut Friedmann Juden in Brody, wie auch in Lemberg und an-deren größeren galizischen Städten, de facto das aktive und passive Wahlrecht, obwohl dieses Recht weiterhin offiziell nur echten Stadtbürgern zustand.370 Einzig in Brody jedoch konnte ein Jude, nämlich Mayer Kallir, spätestens seit 1855 das Amt eines der beiden Assessoren ein-nehmen, was der Position eines Vizebürgermeisters gleichkam. Demnach wurde Brody auch aus der von der Statthalterei 1856 erlassenen provisorischen Wahlordnung für die galizischen Landstädte, die eine Wahl von Juden ins Bürger- oder Vizebürgermeisteramt verbot, ausge-nommen und Brodys Sonderstellung somit bestätigt.

Das galizische Gemeindegesetz vom 5. März 1862, das allerdings erst 1866 umgesetzt wurde, sah erstmals klare Richtlinien hinsichtlich des aktiven wie auch passiven Wahlrechts für alle städtischen Einwohner vor.371 Das von der Stadtgemeinde Brody am 26. Jänner 1866 beschlossene und dem galizischen Landtag zur Genehmigung vorgelegte Statut sah ein Wahlrecht nach drei Kurien vor und war in konfessioneller Hinsicht völlig neutral for-muliert. Von den 27 Unterschriften unter dem Gesetzesantrag der Gemeinde an den Sejm deuten neben dem Bürgermeister Jan Pogłodowski nur elf weitere Namen auf Christen hin, während die anderen 15 auf jüdische Abgeordnete schließen lassen. Eventuell haben nicht alle Gemeinderäte für den Statutenantrag gestimmt, oder einige Stellen waren gerade vakant, jedenfalls lässt sich daraus auch für die Zeit vor 1866 auf eine paritätische Besetzung des Brodyer Gemeinderats schließen.372 Als der galizische Landtag im Gemeindewahlgesetz von 1866 (§ 15) beschloss, die Zahl der öffentlichen Positionen, die innerhalb einer Ge-meinde mit Juden besetzt werden durften, auf ein Drittel zu beschränken, erreichte Brody am 21. Februar 1867 eine gesetzliche Ausnahme, die Juden gestattete, bis zur Hälfte aller

369 Pilat: Wiadomości statystyczne, S. 19.

370 Friedmann: Juden im Kampfe, S. 123.

371 Friedmann: Juden im Kampfe, S. 124f.

372 Die Unterschriften im Statutenantrag können nach meiner Einschätzung konfessionell wie folgt zuge-Die Unterschriften im Statutenantrag können nach meiner Einschätzung konfessionell wie folgt zuge-teilt werden: Juden: Majer Kallir, Lazarus Landau, Mendel Nirenstein, Dr. Leo Zuker, Moses Franzos, Munes Margulies, S.H. Czaczkes, Emanuel Halpern, Salomon Kapelusz, Leo Kornfeld, Leo Oster-setzer, Henoch Braun, Simon Loewin, L. Fraenkel, Moses Dawidsohn. Christen: Jan Pogłodowski, Wojciech de Kosicze Kosiński, Stanisław Mataczyński, Vincenz Dekert, Tadeusz Zagajewski, Alexan-der Humnicki, Dr. L. Lochringer, Nicolaus Ochrymowicz, Anton Heinrich, Franz Zassmann, Josef Schmudelmajer, Franz Kinn; in: CDIAL, F. 146, op. 4, spr. 7210, S. 19.

öffentlichen Ämter zu bekleiden.373 Damit wurde Brodys einmalige Stellung erstmals auch kodifiziert.

Aus der zu diesem Anlass im Sejm vorgebrachten Begründung „aus Gepflogenheit und auf Grund des a.h. Dekrets vom 7.9.1792“374 sei in Brody schon bisher die Vertretung paritä-tisch zwischen den Konfessionen aufgeteilt gewesen, kann man also schließen, dass in dieser Stadt tatsächlich seit 1798 Juden und Christen ebenbürtig im Gemeinderat vertreten waren.

Nach der endgültigen bürgerlichen Gleichstellung der jüdischen Bürger durch die Verfassung von 1867, konnte es weder in Brody noch in anderen galizischen Städten irgendwelche Be-schränkungen infolge der Konfessionszugehörigkeit mehr geben. Entsprechend seines hohen jüdischen Bevölkerungsanteils dominierten in Brody Gemeinderäte jüdischer Konfession.

Eine amtliche Statistik weist 1874 in dieser Stadt 22 jüdische, elf römisch-katholische, zwei griechisch-katholische und einen evangelischen Gemeinderat aus. Außerdem war Brody eine von zehn Städten in Galizien, die einen jüdischen Bürgermeister hatte.375

Jüdische Abgeordnete aus Brody im galizischen Landtag und im Reichsrat

Hinsichtlich der überlokalen Repräsentation bildet das Jahr 1848 den Anfangspunkt. Für Brody spielte der bereits mehrfach erwähnte Mayer Kallir eine Schlüsselrolle, der sich neben seinen zahlreichen Ämtern innerhalb der Kultusgemeinde auch sehr für die allgemeine Stadtentwick-lung einsetzte. Er gehörte zu jenen in Brody besonders zahlreichen Personen, die die Verände-rungen freudig begrüßten, die sich durch die revolutionären Ereignisse im März 1848 ankündig-ten. Die Brodyer bildeten sogar eine eigene jüdische Bürgergarde.376 Im für den 20. April 1848 einberufenen galizischen Landtag war Kallir einer von insgesamt nur vier jüdischen Abgeordne-ten aus dem gesamAbgeordne-ten Kronland. Der Landtag trat allerdings nie zusammen, da die polnischen Mehrheitsparteien an seiner Stelle einen Nationalrat (pol. Rada Narodowa) gebildet hatten, an dem sich Kallir im Gegensatz zu seinen drei anderen jüdischen Kollegen nicht beteiligte.377

Diese Position Kallirs ist bezeichnend für Brodys zentralistische und damit einhergehen-de einhergehen-deutschfreundliche Ausrichtung. Das zeigte sich auch bei einhergehen-der Wahl zum österreichischen 373 Mandel/Meltzer/Parvari-Leiner/Shmuszkin-Rubinstein (Hg.): Jizkor liBrodi, S. 31;

Fried-mann: Juden im Kampfe, S. 174, 178.

374 Stenographische Protokolle des galizischen Landtags, Sitzung vom 21.2.1867, Antrag Russocki, zitiert in: Friedmann: Juden im Kampfe, S. 125.

375 Friedmann: Juden im Kampfe, S. 182. Allerdings wird niemals ein jüdischer Bürgermeister namentlich erwähnt.

376 Encyclopaedia Judaica, Bd. 4, S. 1096.

377 Friedmann: Juden im Kampfe, S. 55f.

Reichstag im Sommer 1848, bei dem die galizischen Juden sehr schwach repräsentiert waren.

Unter 108 Deputierten aus Galizien entsandten nur Stanislau, Tarnopol und Brody jüdische Abgeordnete. Die 77 jüdischen und sieben christlichen Brodyer Wahlmänner votierten einstim-mig für den Wiener Rabbiner Isaak Noah Mannheimer (1793–1865). Dieser war als aufgeklärter Prediger von der ersten Stunde an ein Unterstützer der Revolution und vertrat eine gesamt-österreichische Haltung. Der Auftrag, den die Brodyer Wahlkommission ihrem fernen Abge-ordneten mitgab, lautete zwar: „Wir begriffen, dass es sich jetzt darum handelt, einer verkann-ten und geknechteverkann-ten Glaubensgenossenschaft ihre heiligsverkann-ten Rechte zu vindizieren sowie der lange unterdrückten polnischen Nationalität, der unsere Sympathien gehören, ihre Geltung zu verschaffen.“378 Diese propolnische Äußerung war vielleicht ein Zugeständnis an die allgemeine Stimmung im Kronland oder die sieben christlichen Wahlmänner, denn die Wahl Mannhei-mers war ein klares Bekenntnis zum Deutschtum oder zumindest ein starkes Zeichen einer zwar jüdischen aber dennoch gesamtstaatlichen Identität, der die Solidarität mit dem römisch-katholischen Galizien nachgereiht war. Teile der Brodyer Juden teilten die Entscheidung ihrer Wahlmänner nicht, besonders verstimmt waren darüber der (polnische) Nationalrat und die jüdische Intelligenzija Lembergs. Neben dem unsolidarischen Verhalten gegenüber Galizien be-klagte man vor allem die Wahl eines Vertreters, der mit den örtlichen Verhältnissen überhaupt nicht vertraut war, und daher auch keine lokalen Interessen vertreten konnte. Eine der kurz-lebigen jiddischen Zeitungen des Revolutionsjahres schrieb bezüglich der Entscheidung der Brodyer Wahlkommission: „Wie kann man denn einen Mann wählen, der mit den Zuständen im Land nicht bekannt ist? Wir Galizianer brauchen Deputierte, die aus unserer Mitte stam-men und genau wissen, wo uns der Schuh drückt, und wie man dem Abhilfe schaffen kann.“379 In der Zeit des Neoabsolutismus waren die Handels- und Gewerbekammern die einzige nichtlokale bürgerliche Vertretungskörperschaft. Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Ein-schätzung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Förderung der Industrialisierung auch die Vertretung der Interessen des Handels, des Handwerks und der Industrie. Außerdem ent-wickelte sich aus ihnen in der Verfassungsperiode nach 1861 eine eigene Kurie im Parlament.

In Galizien wurden mit dem Gesetz vom 26. März 1850 drei Handelskammern eingerichtet: in

In Galizien wurden mit dem Gesetz vom 26. März 1850 drei Handelskammern eingerichtet: in