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Kreiszylinderschalen unter konstantem Axialdruck

2.2 Nachweiskonzept von DIN EN 1993-1-6:2007

2.2.11 Nachweis mittels GMNIA-Berechnung

Zur Ableitung von Parametern für die Erstellung von Beulkurven und für die Berechnung noch nie dagewesener Einwirkungszustände oder Geometriezusammensetzungen muss zwangsweise das theoretisch anspruchsvollste Verfahren GMNIA angewandt werden.

Die Vorteile liegen in der Flexibilität und dem tiefen Einblick in das Tragverhalten der untersuchten Struktur. Nachteilig ist dagegen der hohe Berechnungsaufwand sowie die eingeschränkte Kontrollmöglichkeit bei Beulfällen, die vom Standard abweichen.

Da die GMNIA ein tiefes Verständnis des Anwenders für das mechanische Problem, die Aufbereitung des Systems in einer geeigneten Software und das Wissen über die Algorithmen und Berechnungsmethodik des verwendeten Programmes voraussetzt, die bei praktizierenden Ingenieuren nicht a priori in vollem Maße vorausgesetzt werden kann, fordert [DIN EN 1993-1-6, 2007] neben der GMNIA selbst, eine Reihe begleitender Berechnungen durchzuführen.

Nach Norm geht beginnt die Ermittlung der Traglast mittels GMNIA mit einer LBA.

Dieser Aufwand ist vertretbar, da z.B. die Beulfiguren als Imperfektionen vorteilhaft aus der Verzweigungslastberechnung abgeleitet werden können. Zwar nicht explizit von [DIN EN 1993-1-6, 2007] gefordert, aber empfehlenswert, ist die Ermittlung des plastischen Re-ferenzwiderstands mittels einer MNA und die Anwendung des MNA+LBA-Verfahrens (vgl.

Abschnitt 2.2.10) als Vergleichswert für den numerisch ermittelten WiderstandrR,GMNIA. Der Referenzwert für die Beurteilung der Imperfektionssensitivität wird mit einer GMNA bestimmt. Das untersuchte System ist umso imperfektionsempfindlicher, je kleiner das Verhältnis aus den Widerständen der GMNIA und der GMNA wird. Für unversteifte, axialdruckbelastete Kreiszylinderschalen liegt das Minimum beiαx≈0,12[Jäger-Cañás und Pasternak, 2017b]. Dagegen kann eine Berechnung mit Schachbrettbeulen als Vor-verformung sogar einen höheren Widerstand, als den der perfekten Schale ergeben. Eine ungünstig gewählte Imperfektion kann somit auch einen versteifenden Effekt erzielen – typisch z.B. auch bei sehr schlanken, windbelasteten Tanks [Jäger-Cañás et al., 2017].

Es ist keine triviale Aufgabe, bei der Vielzahl an möglichen mechanischen Verhalten der Strukturen unter verschiedenen Einwirkungssituationen, ein Grenzkriterium anzugeben, anhand dessen jederzeit der „korrekte“ Widerstand des untersuchten Systems eindeutig definierbar ist. Die Norm gibt eine Hilfestellung durch das Festlegen von Versagenskriterien C1 bis C4 (siehe Tab. 2.11 bzw. Bild 2.31). Das Kriterium C4 spielt dabei ausschließlich für GN(I)A eine Rolle. Für eine GMN(I)A würde die Anwendung von C4 zu äußerst konservativen Ergebnissen führen.

Tabelle 2.11: Grenzzustände bei einer GMN(I)A

Krit. Beschreibung typische System/Lastituation C1 Maximalwert der

Last-Verformungskurve

Axialbeulen der dickwandigen KZS C2 Gleichgewichtsverzweigung Axialbeulen der dünnwandigen KZS C3 Größte tolerierbare Verformung

β≤0,1 rad

Windbeanspruchter Flachbodentank C4 Erreichen der Vergleichsspannung

an der Manteloberfläche

2.2 Nachweiskonzept von DIN EN 1993-1-6:2007 55 Der Anwender der „vollständigen Analyse“, wie die GMNIA auch hin und wieder genannt wird, muss sich des Weiteren im Klaren sein, ob das vorliegende Problem ein Verzweigungs- oder Durchschlagsproblem ist. Wirth [Wirth, 2008] klassifizierte beide Versagensmöglichkeiten und stellte anschaulich deren Grundzüge heraus Bild 2.32.

Bild 2.31: Versagenskriterien bei GMN(I)A nach [DIN EN 1993-1-6, 2007]

Bild 2.32: Klassifizierung des Stabilitätsversagens nach [Wirth, 2008]

2.2.11.1 Verzweigungsbeulen

Die Norm [DIN EN 1993-1-6, 2007] ordnet dem Verzweigungsbeulen das Kriterium C2 zu. Es existieren entlang des primären, stabilen Lastverformungspfades (Bild 2.33,

„stabil“) viele Sekundärpfade. Am Verzweigungspunkt „springt“ die Struktur in einen der vielen möglichen Sekundärpfade (auch Nachbeulpfad, Bild 2.33, „labil“). In der Regel geschieht dieser Sprung schlagartig ohne Vorankündigung und mit einem starken Abfall der Tragfähigkeit.

Nach Koiter muss beim Beulen von Kreiszylinderschalen das Verzweigungsverhalten differenzierter betrachtet werden (Zusammenstellung nach [Wirth, 2008]):

• Asymmetrisches Verzweigungsverhalten: Je nach Konfiguration der Struktur nach dem Verzweigen gibt es stabile und instabile Gleichgewichtszustände.

• Stabiles symmetrisches Verzweigungsverhalten: Es existieren ausschließlich stabile Gleichgewichtszustände nach der Verzweigung. Typisch: Axial gedrückte, vierseitig gelagerte Platte.

• Instabiles, symmetrisches Verzweigungsbeulen: Nach der Verzweigung sind aus-schließlich instabile Gleichgewichtszustände vorhanden. Typisch: Axial gedrückter Kreiszylinder.

Mathematisch betrachtet, erkennt man einen Verzweigungspunkt daran, dass der Anstieg der Tangente an den Lastverformungspfad nicht null wird, während das Skalarprodukt aus Eigenvektor und Lastvektor gleich null ist (Gl. 2.53) [Wirth, 2008].

du 6= 0 und ΦTP = 0 (2.53)

mit: λ Last-Verschiebungs-Vektor u Verformungsvektor

ΦT Eigenvektor P Lastvektor

2.2.11.2 Durchschlagsbeulen

Durchschlagsbeulen ist das Stabilitätsversagen beim Erreichen des Maximums der Last-Verformungskurve (Kriterium C1). Die nur gering verformte Struktur hat beim Erreichen des Limitpunktes keine Möglichkeit, in ihrer momentanen Konfiguration höhere Lasten aufzunehmen. Wenn der Belastungsvorgang stabil verläuft, stellt sich, bei weggesteuerter

stabil indifferent labil

Bild 2.33: Klassische Definition der Gleichgewichtslagen

2.2 Nachweiskonzept von DIN EN 1993-1-6:2007 57

Bild 2.34: Definition der Gleichgewichtslagen nach Koiter aus [Wirth, 2008]

Bild 2.35: Dreigelenk-Sprengwerk aus [Wirth, 2008]

Belastung, ein mit steigender Verformung stetig geringer werdendes Widerstandsinkrement ein. Schlägt die Schale durch, wechselt sie ihre Konfiguration (in der Regel mit einem starken Verformungszuwachs) und kann in dem neuen Verformungszustand höhere Lasten aufnehmen, als im gering verformten Zustand.

Ein für die Stabstatik typisches Beispiel für Durchschlagen ist das im Bild 2.35 dar-gestellte Dreigelenksprengwerk mit einer vertikalen Einzellast. Infolge der Belastung verringert sich die Neigung der Stäbe bis der Indifferenzpunkt überschritten wird. Das System schlägt durch und findet eine neue, stabile Gleichgewichtslage, bei der die Stäbe auf Zug belastet sind und damit höhere Belastungen aufnehmen können.

Die mathematische Beschreibung eines Durchlagspunktes gelingt nach [Wirth, 2008]

über Gl. 2.54. Der Anstieg der Tangente an die Last-Verformungskurve wird null, aber das Skalarprodukt aus Eigenvektor und Lastvektor bleibt ungleich null.

du = 0 und ΦTP 6= 0 (2.54)

2.2.11.3 Kalibrierung des Beulnachweises

Nachdem die Hilfswiderstände aus der LBA, MNA und GMNA bestimmt und die Trag-last mittels GMNIA ermittelt sind, muss der Anwender die letzte Hürde des GMNIA-Verfahrens, die Kalibrierung meistern, ehe er sein Ergebnis als vertrauenswürdig deklarie-ren und für eine Bemessung verwenden darf. Dies kann auf zweierlei Wegen geschehen:

1. Der FaktorrR,GMNIA,checkmuss mittels stichprobenartiger Nachrechnung von aus der Literatur bekannten Studien mit dem „eigenen“ Programm verifiziert werden.

Dabei sollte der Beulfall ähnlich hinsichtlich der Imperfektionssensitivität, der geometrischen und materiellen Nichtlinearität und der verwendeten Imperfektion sein. Der Referenzwiderstand des Beulfalles aus der Literatur geht alsrR,known,check

in Gl. 2.55 ein.

2. Der Faktor rR,GMNIA,check muss mittels eines Abgleichs anhand von Versuchen verifiziert werden. Der Beulfall der Versuche sollte ähnlich hinsichtlich der Imper-fektionssensitivität, der geometrischen und materiellen Nichtlinearität sein. Das Verhältnis der Versuchslast zur plastischen Grenzlast geht als FaktorrR,test,checkin Gl. 2.55 ein.

Ein Abgleich der mittels GMNIA bestimmten Widerstände anhand des MNA+LBA-Verfahrens oder einer Handrechnung als „[...]allgemein anerkannte Theorie [...]“ nach [DIN EN 1993-1-6, 2007], 8.7.2 (26) ist nicht empfehlenswert, da, gemäß der Anmerkung 1 zu [DIN EN 1993-1-6, 2007], 8.7.2 (23), „[...] die ‚Handberechnungen‘ nach 8.5 und Anhang D aus unteren Hüllkurven von Versuchsergebnissen abgeleitet wurden und dass diese in einigen Fällen zu so niedrig angesetzten Werten für den charakteristischen Beulwiderstand führen, dass sie sich nicht mehr auf einfache Weise numerisch nachvollziehen lassen.“

Wirth zeigte anhand von zwei großmaßstäblichen Lippsilos, dass die Anwendung der Normvorgaben auf konservative Ergebnisse führt [Wirth, 2008]. Für Silo I (r/t≈1000) ermittelte er eine Traglast von 322 kN, während die Versuchslast bei 418 kN lag. Mit einem FaktorkGMNIA = 1,30liegt sein Ergebnis außerhalb der normativen Grenzwerte und wäre daher als ungültig zu betrachten. Für Silo II (r/t≈ 612) berechnete er einen FaktorkGMNIA = 1,04und erhielt damit ein gültiges Ergebnis.

Tendenziell steigen also die Korrekturfaktoren für dünnwandige Kreiszylinderschalen unter Axialdruck mit demr/t-Verhältnis und führen schon bei geringer Dünnwandigkeit zu, normgemäß, nicht vertrauenswürdigen Ergebnissen.

Eine mögliche Erklärung der Unterschätzung des Beulwiderstands liegt in der Inter-pretation der Imperfektionstiefe abhängig von der gewählten Vorverformung. [DIN EN 1993-1-6, 2007], 8.7.2 (19) erlaubt die Beurteilung der Vorbeule anhand der gewählten Messlänge. Für eine eigenformaffine Ringbeule wäre es, aufgrund des alternierenden, sinus-förmigen Musters, daher möglich, nur die Hälfte der normativen Ersatzimperfekti-onsamplitude in der Berechnung zu verwenden [Chen, 2011] und es würde sich numerisch eine höhere Tragfähigkeit ermitteln lassen. Bei sehr dünnwandigen Kreiszylindern un-ter Axialdruck ist es dennoch möglich, dass kGMNIA außerhalb des Vertrauensraumes liegt [Jäger-Cañás und Pasternak, 2017b].

0,8≤kGMNIA = rRk,known,check

rR,GMNIA,check

bzw. rRk,test,known,check

rR,GMNIA,check

≤1,2 (2.55)

2.2 Nachweiskonzept von DIN EN 1993-1-6:2007 59 mit: rRk,known,check bekannter charakteristischer Wert des Vergleichsbeulfalles

rtest,known,check bekanntes Versuchsergebnis

rGMNIA,check Ergebnis der numerischen Berechnung für den

Vergleichsbeulfall bzw. den Versuchsbeulfall.

Ist die Bedingung aus Gl. 2.55 erfüllt, so kann der Bauteilwiderstand nach Gl. 2.56 festgelegt werden, wobei bei Verwendung vonrRk,test,check der FaktorkGMNIA maximal 1,0 sein darf.

rRd = kGMNIArRGMNIA

γM1 (2.56)