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Zwei modernistische Erzähler jenseits des Nationalen (Seobe, Povratak Filipa Latinovicza)

Im Dokument Identitätsbildung im östlichen Europa (Seite 161-180)

Miloš Crnjanski und Miroslav Krleža sind heute, ungeachtet ihrer ähnlichen und zugleich diametral entgegengesetzten unterschiedlichen Anfänge, je inner-halb ‚ihrer‘ nationalen Literatur als unangreifbare Klassiker verortet.1 Darin be-steht der große Unterschied zu Ivo Andrić, dessen Name und Werk sich noch immer im Zentrum reger Auseinandersetzungen über seine Zugehörigkeit zur kroatischen, serbischen oder bosnischen Literatur befinden, oder zur Literatur der serbokroatischen Sprache.2 Was Crnjanski und Krleža betrifft, so gilt zwar zu bedenken, dass der junge Crnjanski, ein zentraler Protagonist der serbischen Literaturgeschichte, seine ersten Werke in Zagreb veröffentlichte, einige sogar in

1 Vgl. dazu auch: Kovač, Zvonko: Pisci i rat – Crnjanski i Krleža kao antipodi, in: Roksandić, Drago/Cvijović Javorina, Ivana (Hg.): Intelektualci i rat, 1939–1947 godine: zbornik radova s međunarodnog skupa Desničini susreti 2012. Sv. 1. Zagreb 2013, S. 277–292.

2 Ich habe an einer anderen Stelle versucht, Andrić als interkulturellen Autor der spezifisch jugoslaw ischen interliterarischen Gemeinschaft zu bestätigen, als gemeinsames Erbe des mittel- und südslavischen Sprachraumes sowie der gesamten südslavischen interliterarischen Standardgemeinschaft. In Anlehnung an literaturhistorische Kontextualisierungsmodelle Ro-bert Hodels (vgl. Hodel, RoRo-bert: Ivo Andrić kao mesto sećanja, in: Diskurs (srpske) moderne, Beograd 2009, 125–142) habe ich Andrić als individuelle Erscheinung betrachtet, mit dem Ziel, die Konstruktion Crnjanski-Krleža als Antipoden in ein neues Licht zu setzen. Welche grundlegenden Merkmale – gerade auch aus Sicht der gegenwärtigen deutschsprachigen For-schung zu interkultureller Migrationsliteratur – kennzeichnen Ivo Andrić als interkulturel-len bosnischen und südslavischen Autor? Im Zentrum des Interesses steht hierbei das stark betonte interkulturelle Bewusstsein des Autors, sein dialogisch offenes Sprachsystem sowie das Vorhandensein des interkulturellen Lesers, Kritikers, der interkulturellen Zeitschriften usw. (vgl. Kovač, Zvonko: Ivo Andrić kao interkulturni pisac, in: Tošović, Branko (Hg.): Ivo Andrić: Graz – Österreich – Europa/Ivo Andrić – Grac – Austrija – Evropa, Graz/Beograd 2009, S. 101–116, hier: S. 104). Diese Frage lässt sich in Anlehnung an die Theorie des interli-terarischen Prozesses (vgl. Dyoniz Ďurišin) auch als eine nach der notwendigen literaturwis-senschaftlichen Freiheit betrachten, wofür ich in anderem Kontext argumentiert habe (Kovač, Zvonko: Međuknjiževne rasprave – Poredbena i/ili interkulturna povijest književnosti, Beo-grad 2011, S. 127–176). Entgegen den reflexiv gesetzten (und institutionell kaum je aufweichba-ren), strikt begrenzten nationalen Kontexten sollten konkrete interliterarische Prozesse jedes einzelnen Falls maßgeblich für die anzulegende Breite des Forschungskontexts sein.

ijekavischer (‚kroatischer‘) Sprachvarietät, dass Krleža aber, auch wenn er nach dem Tod des in Belgrad ermordeten kroatischen Politikers Stjepan Radić weiter in der ekavischen (‚serbischen‘) Sprachvarietät geschrieben hätte, mit Sicherheit nie ein jugoslawischer Staatsschriftsteller, d. h. ein (auch) in Serbien akzeptierter Schriftsteller hätte werden können. Schuld daran mögen sein ungezügeltes Tem-perament und sein zur Subversion neigendes Naturell gewesen sein. Ein Vorbild war er lediglich für den Belgrader Kreis linksorientierter Literaturkritiker und Surrealisten sowie vielleicht für eine Gruppe von (heute: serbischen) Roman-schriftstellern an der Wende von der Moderne zur Postmoderne, etwa für Danilo Kiš, Mirko Kovač und Borislav Pekić, die neben Andrić und Crnjanski regelmä-ßig auch Krleža als ihr Vorbild anführten.

Würde man, ähnlich wie neulich die Zeitschrift Die Zeit, die besten euro-päischen Schriftsteller kritisch jeweils einem Jahrzehnt im 20. Jahrhundert zu-ordnen, könnte man behaupten, ohne viele Beweise erbringen zu müssen, dass die 1920er Jahre die Jahre von Crnjanski waren, einige würden eventuell sagen von Crnjanski und Krleža zugleich, die 1930er das Jahrzehnt von Krleža und die 1940er das Jahrzehnt von Andrić. Jenseits der zeitlichen Fächerung lässt sich wiederum festhalten, dass sich die literarischen Energien dieser drei fast gleichaltrigen Autoren dank einer nicht zufälligen Ordnung alle in der zentra-len südslavischen interliterarischen Gemeinschaft (heute bekannt unter der Be-zeichnung bosnisch-kroatisch-serbisches Gebiet) trafen.

Gemeinsamkeiten, Parallelen, Antinomien und Unterschiede – all dies hängt jeweils von der gewählten Distanz der Betrachtung sowie vom Gegenstand des Interesses ab. Manchmal können Phänomene gleichzeitig einend und trennend wirken. So experimentierten etwa beide Autoren, Crnjanski und Krleža, mit avantgardistischen Genretransgressionen, jedoch in unterschiedliche Richtun-gen: Crnjanski ging den Weg von der Lyrik zur lyrischen Prosa, Krleža denjeni-gen vom Drama zum expressionistisch-dramatischen und essayistischen Prosa-stil. Auf ideologischer Ebene entfernten sich die beiden Autoren als Exponenten

‚ihrer‘ jeweiligen literarisch-nationalen Ideologie voneinander, insbesondere während den intensiven Zeiten der kriegerischen Konflikte. Krležas ursprüng-lich linke Position wurde während der Auseinandersetzungen am linken literari-schen Flügel kompromittiert und in eine sozialdemokratische Richtung gerückt, während Crnjanskis Liberalismus einen jugoslawisch-nationalistischen Zug an-nahm (was ich persönlich allerdings nie für glaubhaft hielt). Auf jeden Fall stam-men daher vermutlich ihre unterschiedlichen Akzente in Bezug auf den Krieg und dessen Darstellung,3 obwohl das ganze Werk von Crnjanski wie auch das von Krleža Pazifismus als gemeinsame Weltanschauung ausstrahlen.

3 Obwohl sich beide Autoren des Wertes ihrer frühen Kriegsliteratur (der eigenen wie derje-nigen des anderen) bewusst waren und es nicht unterließen, wenn auch zurückhaltend, sich

Trotz potenzieller ideologischer Unterschiede können die Kriegslyrik und die Kriegsprosa von Miloš Crnjanski und Miroslav Krleža als Ausdruck zweier Literaturen und Poetiken der gleichen Epoche gelesen werden. So können Crnjanskis Seobe (Wanderungen, 1929) und Krležas Povratak Filipa Latinovicza (Die Rückkehr des Filip Latinovicz, 1932) zu Recht als klassische Exemplare des (serbischen bzw. kroatischen) Prosamodernismus rezipiert werden. Auch die späteren Werke der beiden heute in nationalen Kreisen literarisch und ideolo-gisch in Frage gestellten Antipoden, etwa die Romane Zastave (Fahnen, 1969) von Krleža und Druga knjiga Seoba (Zweites Buch der Wanderungen, 1962) von Crnjanski, oder dessen autobiographische Prosa Embahade (Botschaft,4 1983) sowie nicht zuletzt Krležas Tagebücher und enzyklopädische Werke, können gemeinsamen Epochen zugeordnet werden. Abgesehen von poetisch-epochen-bezogenen Parallelen hat vieles andere aber wiederum eine ihre literarischen Welten – genauso wie die realen Räume ihrer Literaturen – trennende Wirkung.

Nicht zuletzt gilt dies für ihre heutige, wenig ergiebige wissenschaftliche Rezep-tion, welche die beiden Autoren in erster Linie als Repräsentanten ihrer jeweili-gen nationalen Kultur wahrnimmt.

Um die komplexe kontrastive Konstellation von Crnjanski und Krleža noch einmal anders zu veranschaulichen und als Teil einer zusammenhängenden Dy-namik zu betrachten, lässt sich vergleichend die in der germanistischen Litera-turwissenschaft neuerdings umgedeutete Parallele zwischen Gottfried Benn und Bertolt Brecht heranziehen – zwei Autoren, die üblicherweise nicht nur als Ver-körperung zweier unterschiedlicher Poetiken gelten, sondern auch zweier Ideo-logien, von denen sie ‚gebraucht‘ wurden. Werner Frick begründet seine ver-gleichende Analyse, die von der impliziten Absicht der Neutralisierung zweier großer symbolischer Antipoden im deutschen bzw. europäischen Kulturraum getragen scheint, mit soziobiographischen Aspekten ihrer Poesie, insbesondere mit den lyrischen Selbstportraits des jungen Benn und des noch jüngeren Brecht (der Altersunterschied zwischen ihnen betrug zwölf Jahre, sie starben im glei-chen Jahr, 1956), sowie mit einer vergleiglei-chenden Deutung ihrer ideologisglei-chen Ansätze in den 1930er und ihrer Erinnerungen an die Kindheit in den späten 1950er Jahren.5 Etwas direkter fragt Günter Sasse in seiner kontrastiven Analyse dieser beiden ihre Zeit repräsentierenden Intellektuellen nach dem Grund dafür,

dies gegenseitig zu betonen, führten sie die Polemik zu Crnjanskis Oklevetani rat (Verfluchter Krieg) nicht weiter: Es war klar geworden, dass sie ideologisch völlig unterschiedliche Posi-tionen vertraten (vgl. hierzu: Kovač 2013: 281–282).

4 Der Titel „Embahade“ verwendet das spanische Wort für Botschaft. Auf Deutsch ist dieser Text noch nicht erschienen. Er behandelt die Zeit zwischen den Weltkriegen, als Crnjanski Botschafter in Berlin, Rom und London war.

5 Aurnhammer, Achim/Frick, Werner/Sasse, Günter (Hg.): Gottfried Benn – Bertolt Brecht.

Das Janusgesicht der Moderne, Klassische Moderne, Band 11, Würzburg 2009, S. 11–48.

warum Benns ästhetischer Widerstand in Zustimmung umschlug, sobald die Nationalsozialisten an die Macht kamen, während Brechts revolutionäre Kritik dem Sozialismus untergeordnet wurde. Und während die Antworten in Form analytischer und komplexer Erörterungen gegeben werden, spürt man in beiden Fällen, dass ein Bedürfnis nach Benns Rehabilitierung (die er selbst durch zeit-weiligen Irrtum und spätere Entschuldigungen vorbereitete) besteht, während Brecht u. a. vorgeworfen wird, dass er den Internationalen Stalin-Friedenspreis (1955) in der Höhe von 160 konvertierbaren Rubeln bei einer Schweizer Bank deponierte.6 Auf ähnliche Weise kritisierte man seinerzeit Miroslav Krleža als einen dem Sozialismus zugetanen Schriftsteller, der trotzdem einen traditionel-len bürgerlichen Lebensstil pflegte. Vergleicht man hingegen die Kriegslitera-tur (bzw. eigentlich die engagierte AntikriegsliteraKriegslitera-tur) des jungen Crnjanski mit jener des ebenso jungen Krleža, so stellt man fest, dass sie nicht nur ähnliche poetische Merkmale aufweisen, etwa die Ablehnung einer parolenhaft und po-litisch engagierten Sprache, wie sie in der ästhetisch radikalen Avantgarde oft auftrat, sondern auch, dass die geteilte soziobiographische Situation bei beiden Autoren zu verwandten Sensibilitäten führte, insbesondere für Phänomene der Armut oder solche der historischen Determiniertheit ihrer Völker. Später entwi-ckelten sich – vielleicht erneut ähnlich wie bei Benn und Brecht – die poetischen und auch ideologischen Positionen der beiden Autoren, wie auch deren Rezep-tion, nicht zuletzt unter dem Einfluss konfliktgeprägter historischer Entwicklun-gen in unterschiedliche, ja teilweise entgeEntwicklun-gengesetzte RichtunEntwicklun-gen.7

Abschließend lässt sich zu dieser kursorischen Diskussion verschiedener Ähnlichkeiten und Differenzen festhalten, dass es jenseits von epochen- und poetikbezogenen Dimensionen sowie signifikanterweise auch jenseits von poli-tischen Ideologien und nationalen Narrativen einen wesentlichen Aspekt gibt, der beiden Autoren auf erstaunlich deutliche Art gemeinsam ist: die narra-tive Konstruktion von Pannonien oder von Teilen Pannoniens (namentlich des Banat, von Slavonien, Syrmien und der Vojvodina) als identitätsstiftende Grundlage ihrer literarischen Figuren und ihrer Literatur überhaupt. Diesem Thema sind die folgenden Erörterungen gewidmet, in deren Fluchtpunkt nicht zuletzt die (implizite) Frage steht, ob eine vergleichende Untersuchung der bei-den literarischen Werke nicht einen Beitrag leisten könnte zu einem intensiveren interkulturellen Dialog zwischen den südslavischen Literaturgemeinschaften, sowie mit der Welt und mit Europa als ihrer gemeinsamen Heimat – zumindest bezüglich der Region Mitteleuropas, „unseres“ alten Pannoniens.

6 Ebd., S. 213.–232.

7 Vgl. Kovač, Zvonko: Interkulturne studije i ogledi, Zagreb 2016, S. 139–140.

Pannonien, zum Raum einer „pannonischen Identitätssuche“

Pannonia, Pannonien, wie es das kleine Konversationslexikon der ungarischen Alltagskultur von Istvan Bart definiert, war der Name einer römischen Provinz mit der Residenzstadt Aquinium, die das heutige Transdanubien (Dunantul) umfasste.8 Als Provinz des Römischen Reiches erstreckte sich Pannonien vom Westen des heutigen Ungarn im Norden bis zum westlichen Teil des heutigen Serbien sowie zum heutigen Slovenien und Nordkroatien im Süden. In der unter Krležas Leitung erschienenen Enzyklopädie Leksikografski Zavod9 steht, dass Pannonien nach den Römern unter die Herrschaft der Ostgoten (453), der Lan-gobarden (527) und der Awaren (568) kam. Schon im 6. Jahrhundert besiedel-ten Slaven die Pannonische Tiefebene. Als Ende des 8. Jahrhunderts Karl der Große den Avarenstaat zerstört hatte, blieben die Slaven weiterhin in Pannonien.

Ende des 9. Jahrhunderts drangen die Ungarn über die Karpaten in die Panno-nische Ebene vor und vertrieben die slavische Bevölkerung. Dabei besetzten sie die Pannonia Valeria und die Pannonia Prima bis auf den nordwestlichen Teil, welcher unter germanischer Herrschaft stand. Die Pannonia Savia und die Pan-nonia Secunda blieben slavisches Herrschaftsgebiet. Seit dieser Zeit geriet der Name Pannonien indes allmählich in Vergessenheit.

Krležas Marginalien während der Arbeit an der Enzyklopädie würden für das vorliegende Thema das eine oder andere interessante Detail enthalten, wich-tiger ist aber, dass sowohl Crnjanski als auch Krleža ungarische Schulen besuch-ten und dass sie höchstwahrscheinlich sehr früh dem Begriff Pannonien begeg-neten, zumal Crnjanski ja auch Geschichte studierte und unterrichtete.

Trotzdem tritt Pannonien als Bezeichnung in Crnjanskis Werk nach mei-nen bisherigen Erkenntnissen weder in historischer und allgemein geographi-scher noch in symboligeographi-scher Bedeutung in Erscheinung. Umso häufiger tau-chen bei ihm neuere geographische Namen für die Region auf, meistens Banat

8 „Die Gemeinsprache verwendet diesen Namen im übertragenen Sinne als das Gegenteil zu Hunnia, als Symbol für das europäisch zivilisierte Ungarn. Im engeren Sinne ist es einfach das (als Gemeinplatz verwendete) poetische Synonym für Transdanubien, Dunantul, ,jen-seits der Donau‘, den reich mit Gewässern versehenen, dicht mit freundlichen Kleinstädten besiedelten Landesteil auf der rechten Seite der Donau. Im Allgemeinen gilt diese Region als die entwickeltere Hälfte des Landes, deren Dasein schon immer mit mehr Fäden an die angrenzenden westlichen Landstriche geknüpft war als an die östlich der Donau gelegene ärmere und ausgeliefertere Ebene, die dünner besiedelt ist und auch über andere Traditionen verfügt.“ Bart, Istvan: Ungarn – Land und Leute, ein kleines Konversationslexikon der unga-rischen Alltagskultur, Budapest 2008, S. 155, 47.

9 Vgl. http://www.enciklopedija.hr/Natuknica.aspx?ID=46449, letzter Zugriff: 19.05.2020.

und Syrmien, Vojvodina, Slavonien und das Adjektiv „podunavski“.10 In diese Namen, die immer Heimat bedeuten, schreibt er viele für Pannonien typische Bedeu tungen ein: Gewässer, Trauer, Sumpfland, Schlamm.

Noch stärker aber werden diese Namen – etwa in der lyrischen Novelle Sveta Vojvodina (Heiliges Vojvodina), dem Poem Stražilovo, Dnevik o Čarnojeviću (Stražilovo, Tagebuch über Čarnojević) oder in Seobe (Wanderungen) – mit den Motiven der Lebensfreude, der unbekümmerten Kindheit und glücklichen Heimat sowie der melancholischen Jugend in Verbindung gebracht.11 In die-sen Werken, die das Aufwachdie-sen Crnjanskis unmittelbar hinter der östlichen Grenze im multiethnischen Temeswar bezeugen, wird der Geist Pannoniens als ein idealisierter Raum der flachen Landschaften mit Flüssen, sanften Hügeln und beinahe irrealen, unglücklichen Gestalten dargestellt. In all diesen Werken erscheinen der pannonische Raum und seine Bewohner*innen als Quelle der Sehnsucht und der Selbstidentifikation für den Autor. Egal, ob er über einfache Menschen aus der Vojvodina oder aus dem Banat, über Branko Radičević12 oder über die Hauptpersonen seiner Romane – den Doppelgänger Čarnojević, über Frau Dafina, Aranđel oder Vuk Isakovič – schreibt: Crnjanski erweckt als Poet oder als lyrischer Erzähler diese Welt für die aus dem Alten Serbien an den Rand Pannoniens in Südungarn vertriebenen Serben als eine neue Heimat zum Leben.

Betrachtet man seine Beschreibungen dieser Region diesseits des Nationalen, drücken sich vielleicht gerade in der Vermeidung des Namens Pannonien die Unsicherheit seiner Selbstidentifikation oder die Zweifel, die er ihr entgegen-bringt, aus.

Gerade umgekehrt, hauptsächlich jenseits des Nationalen, jenseits des ihm eigentlich unbekannten Serbien, verläuft Crnjanskis Erzählvorgang über einen bis zu einem gewissen Grad vergessenen Teil der serbischen nationalen Ge-meinschaft, der Ende des 17. Jahrhunderts die unbesiedelten Sumpfgebiete in Pannonien als Söldner der Habsburger Monarchie bevölkerte. Ein Teil der Lite-raturkritiker war enttäuscht davon, dass der Roman Seobe (1929) sich nicht zu einem großen Epos im Sinne eines nationalen historischen Romans entwickelt hatte, sondern dass der Raum und die Zeit – der südöstliche Teil Pannoniens und der Krieg zwischen Österreich und Frankreich in den 1740er Jahren, d. h.

Söldnerfeldzüge in einem europäischen Krieg – nur als Rahmen für eine Liebes-geschichte und für selbsterkennendes lyrisches Erzählen benutzt wurden.

10 Das Adjektiv bedeutet „an der Donau“ und besteht in der deutschen Sprache nicht in selb-ständiger Form, s. aber etwa bei Crnjanski „slavonsko-podunavski polk“.

11 Vgl. hierzu auch: Kovač, Zvonko: Poetika Miloša Crnjanskog, Rijeka 1988. Beide Romane Seobe und Druga knjiga seoba sind auf Deutsch unter dem Titel Bora erschienen: München 1988, aus dem Serbokroatischen von Dr. Reinhold Fischer und Barbara Antkowiak.

12 Branko Radičević (1824–1853) war ein bedeutender serbischer Romantiker, der aus dem pan-nonischen Teil des heutigen Kroatiens stammte (er wurde in Slavonski Brod geboren).

Man kann dem slovenischen Slavisten Janez Rotar nur zustimmen in der Be-hauptung, dass der Roman Seobe eigentlich keinen Lobgesang auf die Serben als kriegerisches Volk darstelle, sondern dass in diesem Roman die „Psycholo-gie einer spezifischen Art von Lohnarbeit“ analysiert und untersucht werde; der Roman ist das Bekenntnis zum Schicksal der serbischen Lohnarbeiter/Söldner in Österreich. Crnjanski interessiert sich vor allem für den inneren Reflex des Europäischen im Individuum,13 und so reflektieren sich die Bilder Pannoniens und die jeder einzelnen literarischen Figur, aber auch diejenigen des Kollektivs, in Europa als einem realen und gleichzeitig symbolischen Spiegel:

Neko vreme, u blesku ogledala, njima se učini kao da sede na nebesima, među zvez-dama, na sjajnim mlečnim putevima, njihajući se lako. Na tom putu ludom, posle prašine što im je punila grlo, nos i usta i ostajala u brazdama njihovih lica, posle nepre-kidnog prelaska preko brda i reka, kroz bare i plotove, zaseoke i voćnjake, dvorišta, i guvna, njima se učini sad da su u nekom drugom svetu, gde se povijen u svilu sedi, nepomičan, stolećima, pa samo gleda večeri i vrtove, divne česme i vanredne lepotice, zanosne, mirisne, među zidovima i stvarima od ružičastog drveta, tuja, svile i kamenja, tako da je za večernje nebo, za najlepše nakite, za božanski zaokrugljene grudi, za tišinu, zaborav, dovoljno samo ispružiti ruku, među tim mesečinom obasjanim ogledalima (Crnjanski 1983: 113–114).

Es war ihnen für eine kurze Weile im Widerschein der Spiegel so gewesen, als hätten sie im Himmel zwischen Sternen, leise schaukelnd auf lauschenden Milchstraßen, ge-sessen. Am Ende ihrer tollen Reise, nach all dem Staub, den sie schlucken mussten und der ihnen Kehle, Nase und Mund gefüllt hatte und in den Hautfalten ihrer Gesichter haften geblieben war, nach pausenlosen Märschen über Berge und Ströme, durch Pfüt-zen und über Zäune, durch Weiler und Obstgärten, Hinterhöfe und Tennen, schienen sie jetzt in eine andere, jenseitige Welt versetzt worden zu sein, wo die Menschen, in Seidengewänder gehüllt, nichts zu tun hatten, als regungslos jahrhundertelang dazusit-zen und in den abendlichen Park zu blicken, auf köstliche Fontänen und erlesen schöne Frauen, beschwingt und duftend, umgeben von Wänden und Möbeln aus kostbaren Hölzern, aus Rosenholz und Tuja, mit Seide bespannt oder mit Marmor verkleidet, wo es genügte, zwischen diesen vom Mondschein bestrahlten Spiegeln nur die Hand auszustrecken nach allem, was das Herz begehrte: dem Abendhimmel, den schönsten Kleinodien, nach einer göttlich gerundeten Frauenbrust, nach Stille und nach Vergessen (Tsernianski 1988: 127).

Zwischen den mit Mondschein erhellten Spiegeln sieht es so aus, als ob man ein-fach die Hand ausstrecken und die reiche westliche Welt an sich reißen könnte, während man sich in Wirklichkeit von dieser Welt immer weiter entfernt. Stehen

13 Vgl. Rotar, Janez: Književnost in spoznavanje, Ljubljana 1985, S. 48–49.

wir nicht heute vor den technischen Errungenschaften unserer Zivilisation ähn-lich wie damals Crnjanskis Soldaten vor der Turmuhr, verwundert und stumm?14 In den 1920er Jahren dachte man in Osteuropa, insbesondere im südsla-vischen Europa nach der Oktoberrevolution und dem Zerfall von Österreich-Ungarn, dass es genüge, eine Revolution durchzuführen, um automatisch den Reichtum für die Völker dieser Länder greifbar machen zu können. Deshalb könnte man, im Sinne der Rhetorik der postcolonial studies, sagen, dass der ge-schichtliche Rahmen der Habsburger Monarchie und Pannoniens von Crnjan-ski nicht zufällig gewählt wurde. Außer der geerbten inneren Kluft, wobei der Süden und Osten ärmer und rückständiger sind als der Rest, bildet der ganze pannonische Raum zum permanent besser entwickelten Westen einen vielfach unzweideutigen Kontrast.

In dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob der Kulturraum Pannonien sowie der Kulturraum Südosteuropa als „dritte Welt“ Europas betrachtet werden sollten. Sind tatsächlich alle Texte, die in den Ländern mit Kolonial- und Impe-rialismuserfahrung entstanden sind, schon aus geographischen Gründen „Texte aus der dritten Welt“? Wenn wir Frederic Jameson wörtlich nehmen, wie das von Aijaz Ahmad vorgeschlagen wird, dann müssen wir die zweifache Dynamik der kolonialen und imperialistischen Konstellation erkennen: die aufgezwungene Wertetransmission aus diesen Formationen wie auch die Intensivierung der ka-pitalistischen Verhältnisse in ihrer Mitte. Außerdem sollten wir die Behauptung von Jameson akzeptieren, dass die nationale Erfahrung von zentraler Bedeutung

In dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob der Kulturraum Pannonien sowie der Kulturraum Südosteuropa als „dritte Welt“ Europas betrachtet werden sollten. Sind tatsächlich alle Texte, die in den Ländern mit Kolonial- und Impe-rialismuserfahrung entstanden sind, schon aus geographischen Gründen „Texte aus der dritten Welt“? Wenn wir Frederic Jameson wörtlich nehmen, wie das von Aijaz Ahmad vorgeschlagen wird, dann müssen wir die zweifache Dynamik der kolonialen und imperialistischen Konstellation erkennen: die aufgezwungene Wertetransmission aus diesen Formationen wie auch die Intensivierung der ka-pitalistischen Verhältnisse in ihrer Mitte. Außerdem sollten wir die Behauptung von Jameson akzeptieren, dass die nationale Erfahrung von zentraler Bedeutung

Im Dokument Identitätsbildung im östlichen Europa (Seite 161-180)