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Armeniens Einheit in Vielfalt

Im Dokument Identitätsbildung im östlichen Europa (Seite 125-143)

Erzählstrategien zur Konstruktion eines armenischen Heimat- und Nationsbegriffs

Armenien als historische Kulturlandschaft liegt im südlichen Kaukasus und am östlichen Ende Kleinasiens, in einer geographischen Region also, die oft als Landbrücke, als Kreuzweg, als Land in einer umkämpften Zone zwischen wechselnden Großreichen beschrieben worden ist. Armeniens Geschichte ist damit geprägt von einer großen Reihe von Eroberungen und Kriegen, die das Land verwüsteten, also einer Abfolge von Katastrophe und Überleben.1 Das ging mit vielen politischen Teilungen sowie langen Phasen ohne eigene Staatlichkeit einher. Dieser Umstand brachte die Notwendigkeit immer neuer politischer wie auch kultureller Anpassungsleistungen mit sich. Ein weiteres für Arme-nien prägendes Element schließlich ist der intensive wechselseitige Austausch in Friedenszeiten. In dieser Perspektive erscheint Armenien nicht nur als eines der Ursprungsgebiete menschlicher Zivilisation und Kultur, sondern als Kon-taktzone, in der die Bevölkerung ebenso wie ihre Eliten nicht nur durch Krieg, Eroberung und Fremdherrschaft, sondern auch durch Pilgerschaft, Handel und Migration Einflüsse aus zahlreichen Hochkulturen und Religionen Asiens, Euro-pas und Afrikas aufnahmen, verarbeiteten, fortentwickelten und ihrerseits wie-der weitergaben. Damit ist Armenien ein Teil jenes größeren geographischen Gürtels vom Kaukasus über Kleinasien bis zum Balkan, zu dessen hervorste-chendsten Charakteristika eben diese große Vielfalt von Kulturkontakten und daraus entstehenden religiösen, kulturellen und sozialen Misch- und Über-gangsformen gehörte und bis heute gehört.

Armenische Eigenstaatlichkeit war bereits im Mittelalter, mit der seldschu-kischen Eroberung der armenischen Hauptstadt Ani im Jahr 1065, zum Ende gekommen. Der Fall des letzten armenischen Königreiches des Bagratiden löste eine Massenauswanderung aus. Viele Armenier flüchteten nach Westen und gründeten im Laufe der Zeit Kolonien etwa auf der Krim, in Galizien, wo vor allem Lemberg (Lwów/L’viv) besondere Bedeutung erlangte, und in

Transsyl-1 Kompakte Gesamtdarstellungen der Geschichte Armeniens sind etwa Hovannisian, Richard G. (Hg.): The Armenian People from Ancient to Modern Times, New York/London 1997;

Bournoutian, George A.: A History of the Armenian People, Costa Mesa, CA 1993.

vanien.2 Etliche armenische Fürsten zogen mitsamt ihren Untertanen nach Süd-westen und errichteten in Kilikien noch einmal ein armenisches Fürstentum, das in der Kreuzfahrerzeit zum Königreich wurde.3 Nachdem die Mamluken 1375 Kilikien erobert hatten, dauerte es bis zum 20. Jahrhundert, ehe es wieder einen armenischen Staat gab – nach dem Ersten Weltkrieg zunächst für zwei Jahre bis zur Sowjetisierung der kleinen Republik, später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, für inzwischen bereits fast dreißig Jahre.

Für jedwede Konstruktion armenischer Identität ergab sich somit die Beson-derheit, dass sowohl die Zerstreuung als auch die Bezogenheit auf nichtarmeni-sche Umgebungen immer Teil des Eigenen waren.

Frühe Elemente der Identitätsstiftung und -bewahrung:

Die armenische Kirche

Der größte Teil des historischen Armenien war im Laufe des 15. und frühen 16. Jahrhunderts unter osmanische Herrschaft gelangt, die in ihrer kurzzeitigen östlichsten Ausdehnung 1590 und noch einmal 1635 sogar auf Revan, der heuti-gen armenischen Hauptstadt Yerevan, und Täbris (Tavriz/Tabriz) im Nordwesti-ran ausgriff. Damit waren das Armenische Hochland, Kilikien sowie Mittel- und Westanatolien, wo ebenfalls viele Armenier lebten, dauerhaft (bis zum Zerfall des Reiches nach dem Ersten Weltkrieg) osmanisch. Nicht osmanisch beherrscht blieb lediglich der kleinere Ostteil Armeniens im Transkaukasus. Dieser armeni-sche Osten war zunächst mehrere Jahrhunderte lang Teil des Persiarmeni-schen Reiches.

1828 war das expandierende Russische Reich so weit nach Süden vorgestoßen, dass es das persische Ostarmenien bis auf seinen kleinen südlichen Teil eroberte.

Damit gelangten in etwa die Regionen, die die heutige Republik Armenien aus-machen, unter russischen Einfluss.4

Armenien war also im 19. Jahrhundert auf drei Reiche aufgeteilt. Die letzte Erinnerung an einen eigenen Staat bezog sich mit Kilikien auf eine Region, die selbst eigentlich außerhalb Armeniens lag. Auch eine einheitliche Sprache oder Religion als einigendes Band konnten die politische Teilung kaum kompensie-ren.

2 Dashkevytch, Yaroslav: Armenians and Ukraine, Lviv/New York 2001; Golubock, D. Gar-rison: The Armenian Colonies in Ukraine. Conflict, Cooperation, and Assimilation, in:

Vestnik 12/2012, http://www.sras.org/the_armenian_colonies_in_ukraine, letzter Zugriff:

17.06.2016.

3 Mutafian, Claude: La Cilicie au carrefour des empires. Paris 1988.

4 Hovannissian (Hg.): The Armenian People 2, Kapitel 1, 3, 4.

Im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus hatten Religion und Sprache eben-diese Funktion der Identitätsstiftung und Identitätsbewahrung schon einmal erfüllt. Als der armenische König Drtad (Tiridates) III. im Jahr 301 das Chris-tentum als Staatsreligion annahm, setzte er sich mit diesem Schritt sowohl gegen das Römische Reich als auch gegen das persische Sasanidenreich ab. Mit der Zurückweisung der Beschlüsse des vierten ökumenischen (christlichen) Kon-zils von Chalkedon (451) distanzierte sich die armenische Kirche erneut und diesmal dauerhaft von der orthodoxen Reichskirche. Damit etablierte sie sich als autokephale Kirche, gewissermaßen als „Nationalkirche“. Zur selben Zeit erhoben sich die Armenier unter ihrem sbarabed (Oberbefehlshaber) Vartan Mamigonian gegen den persischen Versuch der Zwangskonversion zum Zoroas-trismus. Vartan fiel zwar in der berühmten Schlacht von Avarayr 451, sein Neffe Vahan führte den Kleinkrieg aber so lange fort, bis die Sasaniden den Armeni-ern schließlich 484 wieder ihre Autonomie und Religionsfreiheit zugestanden.

Vartan wurde von der armenischen Kirche heiliggesprochen.5 Das Beharrungs-vermögen und der Überlebenswille noch in der Niederlage fanden ihre schrift-liche Fixierung in der „Geschichte der Armenier“ (Badmoutiun Hayots) des Ghazar Parbetsi aus dem späten 5., frühen 6. Jahrhundert6 und gerannen zum Mythos, der im 19. und 20. Jahrhundert im Zuge armenischer Nationsbildung und Selbstbehauptung immer wieder aktualisiert wurde.

Im 19. Jahrhundert hatte die Armenisch-Apostolische Kirche zwar immer noch große Bedeutung als identitätsstiftende Institution der Armenier. In den langen Jahrhunderten ohne eigenen Staat kam den Geistlichen und der Kirchen-hierarchie häufig auch politische Führung zu. Die politische Vertretung gegen-über dem – nichtarmenischen – Staat wurde im Osmanischen Reich mit dem sogenannten millet-System sogar institutionalisiert.7 Gleichzeitig hatten sich die Armenier jedoch in verschiedene Glaubensgemeinschaften aufgesplittert.

Reformwillen, der aus der armenischen Kirche selbst entsprang, der Einfluss von katholischen und protestantischen Missionaren sowie Assimilation in den ostmitteleuropäischen Armenierkolonien führten zu Entstehung einer mit Rom unierten armenisch-katholischen und einer armenisch-evangelischen (1846) Gemeinschaft, die sich 1742 bzw. 1846 als eigene Kirchen konstituierten,8 sowie

5 Garsoian, Nina G.: Church and Culture in Early Medieval Armenia, Farnham 1999.

6 Vgl. Andrews, Tara L.: Łazar P’arpec’i, in: Graeme Dunphy (Hg.): Encyclopedia of the Medi-eval Chronicle, Brill, Leiden 2010.

7 Braude, Benjamin: The Strange History of the Millet System, in: Kemal Çiçek (Hg.): The Great Ottoman-Turkish Civilisation 2, Ankara 2000, S. 409–418.

8 Kemal Beydilli, II. Mahmud devri’nde Katolik Ermeni cemaati ve kilisesi’nin tanınması (1830), Cambridge 1995; Vartan Artinian, The Formation of Catholic and Protestant Millets in the Ottoman Empire, in: The Armenian Review 28/1975, S. 3–15.

zur Gründung des Mekhitaristenordens, der sich an der Benediktinerregel orien tierte (1701).9

Neben diesen auch institutionell verfassten armenischen Glaubensgemein-schaften gab es andere Gruppen, die in lokal je unterschiedlicher Weise reli-giös-kulturelle Mischformen pflegten, wie etwa die muslimischen, aber arme-nischsprachigen Hamshentsi (Hemşinli) in der östlichen Schwarzmeerregion10, islamisierte und kurdischsprachige Armenier in der Region um den Van-See im Südosten Anatoliens11 oder die sog. Shemsiyye, unter denen sich zoroastrische religiöse Elemente bewahrt haben, in der Gegend um Urfa.12 Trotz dieser Viel-falt an religiösen Praktiken unter den Armeniern und Glaubensgemeinschaften, die in ihrer Zahl und Bedeutung keineswegs unerheblich waren,13 gehörte die überwiegende Mehrheit der Armenier der Armenisch-Apostolischen Kirche an, die wie in den Jahrhunderten zuvor auch im 19. und 20. Jahrhundert eine starke integrative Wirkung entfaltete. Gerade unter muslimischer Herrschaft, unter der der größte Teil der Armenier ja standen, wurde armenische Identität ganz we-sentlich durch die Zugehörigkeit zur armenischen Kirche definiert.14

Sprachliche Vielfalt und kulturelle Deterritorialität

Noch viel zerklüfteter als die Konfessionalität der Armenier war ihre Sprache.15 Die klassische armenische Hochsprache, das krapar („Schriftsprache“, was sich jedoch nicht primär auf Schriftlichkeit allgemein bezieht, sondern zunächst die

„Sprache der Heiligen Schrift“ meint) hatte sich im 5. Jahrhundert ausgebildet.

Für das Armenische dieser Zeit hatte der gelehrte Mönch Mesrob Mashdots im

9 Arat, Mari Kristin: Die Wiener Mechitharisten. Armenische Mönche in der Diaspora, Wien/

Köln 1990; Yardemian, Dadjad: The Contribution of the Mekhitarians to the Armenian Cul-ture and Armenology, Los Angeles 1987.

10 Simonian, Hovann H. (Hg.): The Hemshin. History, Society and Identity in the Highlands of Northeast Turkey, London/New York 2007.

11 Tachjian, Vahé: La France en Cilicie et en Haute-Mésopotamie. Aux confins de la Turquie, de la Syrie et de l’Irak (1919–1933), Paris 2004, S. 274–288.

12 Für den Hinweis auf diese Gruppe danke ich Raoul Motika (Istanbul) und Stefan Reichmuth (Bochum).

13 Für einen Gesamtüberblick über die große Zahl der ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen in Anatolien insgesamt noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. Andrews, Peter Alford (Hg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey, Wiesbaden 1989.

14 Vgl. z. B. Bournoutian, The History, Costa Mesa 1997, S. 89, passim.

15 Yuzbashyan, Karen: L’invention de l’alphabet arménien: de la langue parlée à la langue écrite, in: Revue des Etudes Arméniennes 22/2011, S. 67–129. Zur armenischen Sprachgeschichte siehe auch Nichanian, Marc: Ages et usages de la langue arménienne. Paris 1989, hier be-sonders Kapitel 2.

Jahr 405 im Auftrag des damaligen Katholikos (also des armenischen Kirchen-oberhaupts) Sahag Bartev ein eigenes Alphabet geschaffen. In der unmittelba-ren Folge übersetzten die gelehrten Geistlichen um Mesrob und Sahag nicht nur die Bibel, sondern auch eine Reihe von Schriften der Kirchenväter sowie antiker Philosophen. Daneben entstand eine frühe armenische Literatur und Chronistik, die sich im Laufe des 5. Jahrhundert zur Blüte entwickelte und das Jahrhundert als „Goldenes Zeitalter“ (vosgetar) in die armenische Geschichte eingehen ließ.

Die Schriftsprache, auf diese Weise im 5. Jahrhundert fixiert, wurde gemeinsam mit der armenisch-apostolischen Konfession zum zentralen Element eines Nar-rativs der Einheit und Distinktion, die zu jener Zeit im religiös und kulturell wie sprachlich so zerklüfteten Armenischen Königreich das wohl größte Deside-rat dargestellt hatte. Schriftsprache und Religion blieben auch in den folgenden langen Jahrhunderten die Garanten für die Bewahrung einer eigenständigen ar-menischen Identität, die alle Kriege, Vertreibungen und Assimilationsprozesse überdauerte. Entsprechend wurde das die Mönche der Übersetzerschule um Sahag und Mesrob ehrende „Fest der Heiligen Übersetzer“ (tarkmantchats) zu einem hohen kirchlichen Feiertag.16

Wurde auch das krapar über Jahrhunderte hinweg als Literatur-, Liturgie- und Gelehrtensprache erhalten und gepflegt, so veränderte sich die armenische Sprache im Laufe der Zeit. Im Mittelalter gab es eine Literaturproduktion in einem modifizierten krapar, dem Mittelarmenischen (im Gegensatz zu dem als

„Altarmenisch“ bezeichneten krapar). Im 19. Jahrhundert hatte sich die gespro-chene Sprache so weit von der Schriftsprache entfernt, dass Letztere jenseits der Geistlichkeit und relativ kleiner gelehrter Zirkel nicht mehr verstanden wurde.

Wie vielerorts in der gesamten Großregion und auch in Europa kam auch unter den Armeniern im 19. Jahrhundert eine Bewegung der kulturellen Erneuerung auf, die zuallererst eine Sprachreformbewegung war. Eine neue Schriftsprache, das ashkharhapar (wörtlich „Weltsprache“ also „weltliche Sprache“, was im Ge-gensatz zum krapar als „geistlicher Sprache“ gemeint war), sollte also entwickelt werden, die sich an der lebendigen Sprache der Zeit orientierte. Diese aber war alles andere als einheitlich. Sie teilte sich in über sechzig verschiedene Dialekte, die sich grob zwei Gruppen – einer ostarmenischen und einer westarmeni-schen – zuordnen lassen.17 So entstanden schließlich auch zwei Zweige der mo-dernen Hochsprache: Das Ostarmenische basiert auf dem Yerevaner Dialekt, das Westarmenische hat den Dialekt von Konstantinopel zur Grundlage.

Dass die moderne westarmenische Hochsprache aus dem Konstantinope-ler Dialekt entstand, also weit entfernt vom Armenischen Hochland, verweist

16 Ormanian, Malachia: The Church of Armenia, London 1955, S. 169.

17 Nach wie vor grundlegend ist Adjarian, Hratchia: Classification des dialectes arméniens.

Paris 1909; Nichanian, Ages et usages, Kapitel 7 und 8.

auf ein weiteres wesentliches Element der armenischen Situation im 19. Jahr-hundert: Die wichtigsten kulturellen Zentren der Armenier befanden sich nicht mehr in Armenien selbst, sondern außerhalb Armeniens. Eine armenische Presse entwickelte sich im 18. Jahrhundert zuerst in den armenischen Kolonien Indiens, die sprachliche, kulturelle und wissenschaftliche Erneuerung (zartonk, also „Erwachen“ genannt) wurde seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich von dem Orden der Mekhitaristen mitgetragen, der sich in Venedig und Triest (später Wien) niedergelassen hatte.18 Das literarische und kulturelle Leben entfaltete sich dann im Westen vor allem in der osmanischen Hauptstadt Istanbul und im Osten in Tiflis, Baku oder Moskau. Selbst das baltische Dorpat (Tartu) – so wie Tiflis und Baku Teil des Russischen Reiches – wurde zu einem Referenzpunkt der armenischen kulturellen Erneuerung, welche der Entwicklung eines politi-schen Nationalbewusstseins vorausging, weil etliche Armenier dort studierten.

Einer von ihnen, der 1809 in Kanaker bei Yerevan geborene, zunächst an den Priesterseminaren von Etchmiadzin und Tiflis und später an der Universi-tät Dorpat ausgebildete Khatchadour Apovian, wurde zum Verfasser des Grün-dungstexts der modernen ostarmenischen Literatur: Sein Roman Verk Hayastani (Die Wunden Armeniens, geschrieben 1841, posthum veröffentlicht 1858) war der erste literarische Text in modernem Ostarmenisch.

Verk Hayasdani spielt zur Zeit des Russisch-Persischen Krieges von 1826 bis 1829 und behandelt die russische Eroberung Ostarmeniens, die der Autor Apovian selbst miterlebt hatte. Auch die Umstände von Apovians Tod (1848 verschwand er spurlos, möglicherweise vom russischen Geheimdienst ermordet)19 deuten darauf hin, dass das Verhältnis zum Russischen Reich ambivalent war. Mit der russischen Eroberung wurden die christlichen Armenier zwar zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder von einem ebenfalls christlichen Herrscher regiert, der jedoch unterdrückte die Armenisch-Apostolische Kirche phasenweise stär-ker, als es unter muslimischer Herrschaft je der Fall gewesen war.20

Innerhalb des Osmanischen Reichs waren die armenischen Provinzen von der osmanischen Hauptstadt aus betrachtet lange Zeit eine vernachlässigte Peri-pherie. Die Region wurde von langen Kriegen und Unruhen heimgesucht – rund eineinhalb Jahrhunderte führte das Osmanische Reich gegen seinen Nachbarn

18 Umfassend Oshagan, Hagop: Hamabadger Arevmdahay Kraganoutian 1, Jerusalem 1945. Für einen knappen Überblick siehe Oshagan, Vahé: Modern Armenian Literature and Intellec-tual History from 1700 to 1915, in: Hovannisian (Hg.): The Armenian People 2, S. 139–174.

19 Bardakjian, Kevork B.: A reference guide to modern Armenian literature, 1500–1920, Detroit 2000, S. 255–260; Nichanian, Ages et usages, S. 346–351.

20 Hagopian, B.: Khatchadour Apoviani „Verk Hayasdani“ vebi sdeghdzakordzman badmou-tiune, Yerevan 1956; Suny, Ronald G.: Looking Toward Ararat. Armenia in Modern History, Bloomington 1993, S. 58–61; Payaslian, Simon: The History of Armenia from the Origins to the Present, New York 2007, S. 103–112.

Persien Krieg, in den Friedenszeiten verbreiteten die vielen Söldner in den sog.

Celali-Revolten Gewalt. Durch die Verwüstungen und die Unsicherheit konnte sich im Armenischen Hochland kulturelles Leben immer weniger entfalten. Zu-gleich entwickelten die Armenier im Osmanischen Reich im Laufe der Zeit auch ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Osmanischen Staat, so dass ihnen die osmanische Hauptstadt, die als solche auch für die osmanischen Armenier zum Zentrum wurde, nicht als Diaspora erschien. Zwischen der Metropole Istanbul und dem östlichen Rand des Reiches bestand allerdings eine tiefe Kluft. Die Gebiete, die den Kern Armeniens ausmachten und die Schauplätze der über-lieferten armenischen Geschichte und Epen darstellten, waren den Istanbuler Armeniern eine unbekannte, befremdliche, auch barbarische Welt.21

Wie konnte diese armenische Welt mit ihrer großen – räumlichen, kulturel-len und sprachlichen – Disparatheit und vielfacher Referenzialität auf plurikul-turelle Zentren außerhalb des eigenen Territoriums in Einklang gebracht und zu identitätsstiftenden Erzählungen verarbeitet werden?

Identitätskonstruierende Erzählstrategien in einem pluralen Raum Die politische Teilung, die großen regionalen Differenzen und die weltweite Zer-streuung waren nur eine Herausforderung für die Imagination und Konzeption einer armenischen Einheit bzw. Nation. Die andere Schwierigkeit bestand darin, dass im 19. Jahrhundert im Osmanischen Reich selbst in den armenischen Pro-vinzen die Armenier zwar regional relative und teilweise auch absolute Mehrhei-ten stellMehrhei-ten, jedoch nicht großflächig in einem geschlossenen Gebiet die über-wiegende Bevölkerungsmehrheit ausmachten. Das ‚Land‘ Armenien teilten sie sich inzwischen mit vielen anderen Bevölkerungsgruppen, unter denen die Kur-den neben Kur-den Armeniern selbst die zweite dominante Gruppe ausmachten.22 Die Option, die so viele Bevölkerungsgruppen in den kontinentaleuropäischen Großreichen der Habsburger, Romanovs und Osmanen im Zuge ihrer Nati-onswerdung verfolgten, nämlich aus dem Reichsverband einen unabhängigen Nationalstaat mit homogener Bevölkerung herauszulösen, schied damit für die Armenier aus. Die politischen Akteure der Zeit waren sich ebenso wie die Lite-raten dieses Umstands wohl ausnahmslos bewusst.23 Wie die Literaten diesen

21 Zu den Armeniern im Osmanischen Reich siehe Kévorkian, Raymond H./Paboudjian, P. B.:

Les Arméniens dans l’Empire ottoman à la veille du génocide, Paris 1992; Tachjian, Vahé (Hg.): Ottoman Armenians. Life, Culture, Society. Berlin 2014.

22 Kévorkian, Raymond H.: The Armenian Genocide.A Complete History, London/New York 2011, S. 265–284.

23 Vgl. Nalbandian, Louise: The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Ar-menian Political Parties Through the Nineteenth Century, Berkeley 1963, S. 151–178;

Hart-Umstand und die Situation der Armenier allgemein in ihrer Literatur verarbeite-ten und welche Vision armenischer Identität und einer armenischen Nation sie entwickelten, mit welchen Narrativen und Erzählstrategien sie diese schließlich konstruierten, war hingegen sehr unterschiedlich.

Die Auseinandersetzung mit dem, was armenische Identität sein und in welcher Form sie sich manifestieren sollte, hatte ihren bevorzugten Ort in den Gattungen der armenischen Literatur, die im 19. Jahrhundert zeitgleich mit der Entwicklung der modernen armenischen Literatursprache (in ihrer ost- und westarmenischen Ausprägung) neu aufkamen. Dies waren in erster Linie Drama, Roman und Autobiographik. Sprachreform und politisch-gesellschaft-liche Reform waren eng verknüpft. In vielen Fällen waren die Protagonisten des einen Feldes auch im anderen Feld aktiv, und so hatte die Literatur gerade in ihren neuen Genres auch eine politische Agenda. Dies galt umso mehr, als in Abwesenheit etablierter armenischer wissenschaftlicher Strukturen die Literatur (und Presse, in der aber wiederum dieselben Literaten publizierten, aus deren Feder auch die neuen Romane, Erzählungen und Dramen stammten) zum fast exklusiven Ort des (sozialen) Denkens wurde.24

Auffällig ist in dieser neuen Literatur des 19. Jahrhunderts die Häufung his-torischer Stoffe. Zum einen wurden Schlüsselfiguren und -episoden der über-lieferten Geschichte und vor allem der ersten Formationsphase armenischer Identität und Literarizität im 4. und 5. Jahrhundert aktualisiert.25 Zum anderen wurden Ereignisse der jüngeren Vergangenheit herangezogen; insbesondere die jüngsten Kriege, die zwischen den regionalen Hegemonialmächten auf armeni-schem Boden ausgetragen wurden, waren Gegenstand der in ihrer Zeit und bis heute meistgelesenen Prosatexte des 19. Jahrhunderts. Khatchadour Apovians bereits erwähnter Roman „Verk Hayasdani“ spielt zur Zeit des Russisch-Per-sischen Krieges. Hovhannes Toumanian (1869–1923), ebenfalls ein ostarme-nischer Autor, kleidete seine Reflexionen über die Situation der Armenier, die in der Grenzregion verfeindeter Reiche fortwährend von Kriegen heimgesucht wurden und der Verwüstung ihres Landes ohnmächtig zusehen mussten, in die Form von Märchen. Zu seinen bekanntesten Märchen gehört „Ein Tropfen

mann, Elke: The „Loyal Nation“ and Its Deputies. The Armenians in the First Ottoman Parliament, in: Herzog, Christoph/Sharif, Malek (Hg.): The First Ottoman Experiment in Democracy, Würzburg 2010, S. 187–222, hier besonders S. 216.

24 Zur Entwicklung der armenischen Presse und Sprachreformbewegung siehe Mkhitarian, Margo: Arevelahay mamouli sgzpnavoroume yev lousavoragan sharjoume tari aratchin gesin, Yerevan 1994; Keghamian, Viktoria: Bolsahay mamouli yev hrabaragakhosoutian sgzpnavoroume, Yerevan 1975.

25 Für Beispiele aus dem Theater siehe Hovhannisian, Henrig: Hay tadroni badmoutioun XIX tar. Yerevan 2010; Haroutiounian, Papgen: XIX–XX tareri hay tadroni darekroutiun (1801–

1922), Yerevan 1981.

Honig“ („Gatil me meghr“), eine in Anspielung auf den Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/1878 geschriebene Parabel auf die Eskalation von Nichtigkeiten zum alles zerstörenden Krieg.26

Honig“ („Gatil me meghr“), eine in Anspielung auf den Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/1878 geschriebene Parabel auf die Eskalation von Nichtigkeiten zum alles zerstörenden Krieg.26

Im Dokument Identitätsbildung im östlichen Europa (Seite 125-143)