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Die Performanz des Nationalen im imperialen Kontext

Im Dokument Identitätsbildung im östlichen Europa (Seite 100-125)

Zu August Šenoas Novelle Turci idu (Die Türken kommen)

Performativität in der Novelle Turci idu

Das Osmanenbild spielt eine wichtige Rolle in der kroatischen Literatur1 und unterliegt infolge seiner Bedeutung und langen Präsenz ständigen Wandlun-gen. Nach einer langen Phase, in der es im Mobilisierungsprogramm gegen das bedrohliche Fremde instrumentalisiert und von der Funktion geprägt gewesen war, die Osmanen dämonisierend als heidnische Gefahr für die gesamte abend-ländische Kultur darzustellen, wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem in sich gespaltenen und die eigene Lage reflektierenden Bild. Nach wie vor ist dieses Bild zwar durch einen grundlegenden Antagonismus zwischen Okzi-dent und Orient geprägt, kann jedoch inzwischen spielerisch unterlaufen und im ironischen Modus dargestellt werden. Die Reminiszenz an die Schreckens-herrschaft und an die unmittelbare Bedrohung durch die ehemals unbesiegbare osmanische Militärmacht bleibt präsent, wird jedoch im Narrativ der nationa-len Integration funktionalisiert,2 da die reale Gefahr nicht mehr vorhanden und der „kranke Mann am Bosporus“ seit dem 18. Jahrhundert zu einem Spielball der westlichen Mächte geworden ist.3 Das Osmanenbild wird als ein Inbegriff des Fremden im Akt der Grenzziehungen für die aktuellen nationalintegrativen Ziele literarisch überformt, wobei die Grenze mit Michail M. Bachtin als ein

1 Vgl. dazu: Schmidt-Haberkamp, Barbara (Hg.): Europa und die Türkei im 18. Jahrhun-dert. Europe and Turkey in the 18th Century, Bonn 2011; Dukić, Davor: Sultanova djeca.

Predodžbe Turaka u hrvatskoj književnosti ranog novovljekovlja, Zadar 2004.

2 So ist in Šenoas historischen Romanen auch „die Türkenthematik mit ihrer starken Betonung des kroatischen Heldentums und seiner nationalen Gesinnung“ ein häufiges Thema. Vgl.

z. B. Dippe, Gisa: August Šenoas historische Romane. Untersuchungen zu Geschichtsdarstel-lung und Geschichtskonzeption, in: Zlatarevo zlato, Čuvaj se senjske ruke und Seljačka buna, München 1972, S. 24.

3 Zur Geschichte des Osmanischen Reiches vgl. Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grun-dlinien seiner Geschichte, Darmstadt 1996; z. B. Çirakaman, Asli: From the „Terror of the World“ to the „Sick Man of Europe“. European Images of Ottoman Empire and Society from the Sixteenth Century to the Nineeenth, New York 2002.

grundlegend kulturelles und performatives Phänomen zu verstehen ist.4 Somit wird auch die „traditionelle Bedrohungstopik“ wesentlich re- und umformu-liert.5 Das Zeitalter der Türkenkriege liegt in der Vergangenheit, aber das Thema des bedrohlichen Fremden bietet sich für das im 19. Jahrhundert zentrale Narra-tiv der nationalen Integration als ein elastischer Stoff an.

An das imperiale Narrativ der Militärgrenze und zugleich an das neue Narrativ der nationalen Identifikation knüpft der kroatische protorealistische Schriftsteller, Dramaturg und Kulturvermittler August Šenoa in seiner Novelle Turci idu6 (Die Türken kommen) direkt an. Dies erfolgt mit dem für das 19. Jahr-hundert typischen Verfahren der „Retro-Semantisierung“,7 wie Hans Alder die

„Aufladung des Begriffs ‚Nation‘ im Nachhinein“ nennt.8 In seiner Novelle re-flektiert August Šenoa die Zeit, in der die Militärgrenze „bereits Objekt in den politischen Auseinandersetzungen zwischen Wien, Pest und Agram geworden“9 war, sodass eine spezifische imperiale Konstellation als Voraussetzung der Nar-ration mitgedacht werden muss. Die vermeintlich akute Bedrohung vor einem türkischen Angriff entpuppt sich als eine Leerstelle, um die sich der eigentli-che narrative Kern entwickelt. Dabei steht die Trennung zwiseigentli-chen Zivilkroatien (Provinzial-, Banal-) und der kroatischen Militärgrenze im Mittelpunkt. Šenoas

4 Dieser Akt ist nach M. Bachtin jeder Kultur in jedem Augenblick eigen: „Im Bereich der Kultur gibt es kein inneres Territorium: er ist vollständig an Grenzen gelegen, überall, durch jedes seiner Momente verlaufen Grenzen; die systematische Einheit der Kultur zieht sich zu-rück in die Atome des kulturellen Lebens, wie die Sonne sich in jedem Wassertropfen spie-gelt. Jeder kulturelle Akt lebt wesentlich an Grenzen: Darin bestehen seine Ernsthaftigkeit und seine Bedeutsamkeit; abgelöst von den Grenzen, verliert er den Grund, wird er leer, an-maßend, er degeneriert und stirbt.“ Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M. 1979, S. 111.

5 Lemberg, Hans: Imperien und ihre Grenzregionen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts.

Einige einführende Beobachtungen, in: Maner, Hans-Christian (Hg.): Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens, Münster 2005, S. 25–36, hier S. 27.

6 Die Osmanen als „Türken“ zu bezeichnen und das Osmanische Reich als „Türkei“, ist im kroatischen Sprachraum bis heute verbreitet. Auch wird der Begriff lange Zeit als Pars pro Toto für „Muslime“ verwendet und mit negativen Konnotationen versehen. Die ähnliche Verwendung des Begriffs „Türken“ war ein gesamteuropäisches Phänomen und ist z. B.

dem Deutschen verwandt. Vgl. dazu: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wil-helm Grimm 11, Bearb. v.d. Arbeitsstelle des deutschen Wörterbuches zu Berlin, Leipzig 1952, S. 1848–1854.

7 Adler, Hans: Nation. Johann Gottfried Herders Umgang mit Konzept und Begriff, in: Gesa von Essen/Horst Turk, Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, Göttingen 2000, S. 39–55, hier S. 39.

8 Ebd.

9 Suppan, Arnold (Hg.): Zwischen Adria und Karawanken. Deutsche Geschichte im Osten Eu-ropas, Berlin 1998, S. 241.

Vergangenheitsvedutte wird zum ersten Mal in der von ihm herausgegebenen literarischen Wochenschrift Vijenac zabavi i pouci10 (Kranz zur Unterhaltung und Lehre) im Sommer 1878 in fünf Folgen veröffentlicht. Schon der Unterti-tel dieser wichtigen kulturellen Zeitschrift besagt, es solle zur Unterhaltung und Lehre des Volkes dienen, woraus ihre pragmatisch-performative Ausrichtung der Volkserziehung hervorgeht. Diese Funktionalisierung der Literatur ist auch in August Šenoas Literaturmodell zu erkennen, in welchem die politische und gesellschaftliche Realität seiner Zeit eine zentrale Rolle spielt. Den Zusammen-hang zwischen dem Erzähltext und dem politischen Imaginären kann man in dieser pragmatisch-performativen Dimension des Textes verfolgen.

Ausgehend von der festgestellten Abwesenheit der mehrmals erwähnten, aber faktisch nie auftretenden ‚Türken‘ soll hier der Frage nachgegangen werden, wie das Motiv der Türkengefahr im 19. Jahrhundert funktionierte und wie es zu rekonstruieren ist. Hier gilt die Aufmerksamkeit dem nationalen Narrativ, das durch binäre Codierungen erfolgt und einem Prozess des Othering entspricht.

In Šenoas Skizze aus der Endphase des Lebens der Grenzer am Slunjaer Ab-schnitt der österreichisch-ungarischen Militärgrenze wird eine performative Funktionalisierung der transnationalen und transregionalen Elemente erkenn-bar, die als Bestandteile einer transponierten Nationalpädagogik zu analysieren sind. Aus wirkungsästhetischer Perspektive wird in dem vorliegenden Beitrag die Repräsentation der Vergangenheit als performativ im kulturwissenschaft-lichen Sinne11 aufgefasst, denn die Handlung will sich aktiv an der Herstellung nationaler Kohärenz beteiligen. Die performative Dimension im Text kann mit Erika Fischer-Lichte als eine kulturelle Macht in einer bestimmten sozialen Kon-stellation verstanden werden: „Die performative Äußerung richtet sich immer an eine Gemeinschaft, die durch die jeweils Anwesenden vertreten wird.“12 Dieser kommunikationstheoretische Ansatz ist mit der situativen Bestimmung der Novelle als Wiedergabe eines neuen Zusammenhangs in Nachahmung einer Gesprächs situation zu verstehen. Dieses ‚Gesprächsorigo‘ ist auch in der volkstümlichen Ansprache der Leserinnen und Leser am Anfang des Textes zu erkennen. Die Leser werden direkt als Zielgruppe angesprochen. Die perfor-mative Aktualisierung impliziert ein konstruktives Verständnis von Kultur, im Sinne einer Ästhetik der Performanz, in welcher die „soziale Wirklichkeit“ „stets

10 Šenoa, August: Vienac zabavi i pouci 30–33/27.07.–17.08.1878.

11 „Wo performativ als anthropologischer bzw. kulturwissenschaftlicher Begriff verwendet wird, betont er den konstitutiven Charakter sozialer Handlungen.“ Wulf, Christoph/Göhlich, Michael/Zirfas, Jörg: Sprache, Macht und Handeln – Aspekte des Performativen, in: Wulf, Christoph/Göhlich, Michael/Zirfas, Jörg (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einfüh-rung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim/München 2001, S. 9–25, hier S. 12.

12 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 32.

durch performative Akte konstituiert“13 wird. Diesen Aspekt der Performativität formuliert Erika Fischer-Lichte folgendermaßen: „Literarische Texte unter der Perspektive des Performativen zu betrachten, heißt also, ihre Verfahren offenzu-legen, mit denen sie eine neue, ihre eigene, Wirklichkeit konstituieren, um den Möglichkeiten nachzuspüren wie sie durch diese Wirklichkeit auf ihre Leser ein-zuwirken vermögen, und vermittelt über die Leser ein kulturelles Wirkpotenzial zu entfalten.“14 Im Anschluss daran werden die Inszenierungen der Grenze mit ihren imperialen und nationalen Implikationen analysiert. Um den literarischen Text in seiner Teilnahme an Herstellungsprozessen kollektiver Identität zu un-tersuchen, wird die Gattung der Novelle nicht als eine konventionelle literarische Form gelesen, sondern als eine performative Festlegung nationaler Integrität.

Die Performativität in Šenoas Text ist „auf seine kulturelle Wirkmächtigkeit“15 angelegt. Ihr zugrunde liegt die Annahme, dass die nationalintegrativen Prozesse im 19. Jahrhundert nicht nur durch staatliche Institutionen getragen, sondern primär durch Imaginationen und ästhetische Inszenierungen hervorgebracht wurden bzw. durch diverse Modi der Repräsentation, welche „die schmale und enge Haut der Nation über den riesigen Körper eines Imperiums“16 auszuspan-nen versuchten. Gerade die Militärgrenze war ein Schnittpunkt im Spannungs-feld der nationalen und imperialen Interessen, so dass die multiplen Loyalitä-ten in den damaligen monarchischen Militär- und Kontaktzonen das national angelegte Vorhaben des Autors unbemerkt unterhöhlten. Der performative Im-petus war von der Aufgabe getragen, ein nationales, einheitsstiftendes Moment zu extrapolieren; jedoch werden im Text vielmehr die Formen des Imperialen akzentuiert, worauf ein Übergangsnarrativ entsteht. Dieses Narrativ ist auch po-litisch nicht eindeutig (wie allgemein die Situation im südslavischen und beson-ders im kroatischen Raum zu dieser Zeit), denn obwohl Šenoa ein Anhänger der südslavisch orientierten liberalen Volkspartei (Narodna stranka) war, die sich als erste moderne Partei im südslavischen Raum verstand und ein klares politisches Programm verfolgte, das sich an illyrischen Ideen orientierte und für die natio-nalen Interessen wie etwa für die Durchsetzung der Volkssprache und gegen die Magyarisierung kämpfte (diese Doppelschienigkeit zwischen allgemein südsla-vischen und engeren kroatischen politischen Zielen stellte damals kein Wider-spruch dar), stehen im Text die individuellen ideellen Freiheitsprojektionen im

13 Ebd., S. 37.

14 Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 145.

15 Häsner, Bernd/Hufnagel, Henning S./Maassen, Irmgard/Traninger, Anita: Text und Perfor-mativität, in: Hempfer, Klaus W./Volbers, Jörg (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 69–96, hier S. 78.

16 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Na-tionalism, London/New York 1983. Zit. nach dt. Ausgabe, Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 1996, S. 91.

Vordergrund. Sie wurden erst durch den Zusammenbruch des neoabsolutisti-schen Regiments und durch den konstitutionellen monarchineoabsolutisti-schen Rahmen im föderalistisch geprägten österreichischen Verfassungsgesetz mit dem Oktoberdi-plom des Jahres 1860 möglich.

Die imperialen und nationalen Kontexte der Novelle Turci idu In Šenoas Novelle aus dem Leben der Grenzer im 19. Jahrhundert berichtet der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler in der sehr kurzen Rahmengeschichte in einer lockeren Gesellschaft vom Verkauf der ehemals ruhmvollen Festung Cetin: „Das ruhmreiche Cetin, wo unsere Vorväter sich den Habsburger Fer-dinand zum König erwählten, wurde vor zwei Tagen auf einer öffentlichen Ver-steigerung verkauft.“17 Rekurriert wird damit auf die historische Machtübergabe an das Haus Habsburg und das Ende der kroatischen mittelalterlichen Eigen-staatlichkeit. Für die Novelle ist diese Einleitung entscheidend, denn nach dem

„Hilfe ruf der kroatischen Stände an Erzherzog Ferdinand I. im Jahre 1522 [be-gann] der Aufbau einer habsburgischen Militärgrenze im nordwestlichen Kroa-tien zwischen dem Quarner und dem Unterlauf der Drau“.18

Daraufhin berichtet in der Binnenerzählung der homodiegetische Erzähler, der pensionierte Grenzer Kapitän Vukić, eine Episode aus der Zeit, als er als

„schwarzer Grenzer“ im Slunjaer Regiment des Karlstädter Generalats19 tätig war. Damals war die Festung Cetin noch im Einsatz. Damit wird die Handlung der Novelle in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeschoben, wodurch die illyrische Zeit der nationalen Wiedergeburt an Bedeutung gewinnt. Zu erklä-ren ist, warum Šenoa diese Periode als eine entscheidende Phase in der neueerklä-ren Entwicklung der kroatischen Nation postuliert. Kapitän Vukić erzählt von der Zeit, als er als treuer Anhänger der illyrischen Ideen den Spitznamen „Andro der Tambour“ (Andro tamburaš), Andro der Trommler,20 verliehen bekam.

17 „Slavni Cetin, gdje su naši pradjedovi izabrali Ferdinanda Habzburgovca za kralja, prodan je prije dva dana na javnoj dražbi.“ Šenoa, August: Turci idu, in: August Šenoa, Kanarinčeva ljubovca. Druga knjiga pripovijedaka, Zagreb 1978, S. 191–247, hier S. 193f. Im weiteren Text mit Sigle TI und Seitenzahl zitiert. Alle deutschen Zitate aus diesem Roman hier und überall in diesem Beitrag stammen aus einer nichtpublizierten Übersetzung von Klaus Detlef Olof.

18 Suppan, Zwischen Adria und Karawanken, S. 13.

19 Über die damaligen Umstellungen in der Verwaltungspolitik: Kaser, Karl: Freier Bauer und Soldat: die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Mili-tärgrenze (1535–1881), Wien 1997, S. 30 (Kroatische Ausgabe Kaser, Karl: Slobodan seljak i voj-nik. Povojačenje agrarnog društva u Hrvatsko-slavonskoj Vojnoj krajini (1535–1881), Zagreb 1997).

20 „Andro tamburaš“ TI, S. 194.

Šenoa knüpft fast unverändert an das illyrische Programm an mit dem Hauptziel der „Schaffung einer Sprach- und Kulturnation im von der kroatischen stän-dischen Tradition vorgegebenen politischen Rahmen“.21 In der Binnenerzäh-lung will der Erzähler Andro der Tambour mit seiner Rede das Volk aufrütteln.

Er übernimmt dadurch die Rolle eines Volkstribuns, womit der volkstümlich einfache Ton zu erklären ist, der die Novelle im Ganzen prägt. Am Anfang be-schwört er die illyrische Zeit der nationalen Einheit und setzt damit den Akzent der Novelle auf die Erwähnung des aktuell entbrannten „verdammten Haders zwischen Schokatzen und Walachen“,22 also zwischen ethnisch- und religiös un-terschiedlichen Volksgruppen in Slunjaer Grenzgebiet. Die illyrische Integra-tionsbewegung schöpfte hingegen ihre emanzipatorische Kraft aus der Idee einer panslavischen Vereinigung,23 bei der von der Notwendigkeit der Integration un-terschiedlicher regionaler, konfessioneller und gesellschaftlicher südslavischer Völker ausgegangen wurde. Die Figurenrede von Andro enthält auch Anspielun-gen auf die ungerechte Haltung des Zentrums, vor allem auf Germanisierungs-tendenzen im militärischen Bereich, wenn er etwa von der streng angeordneten

„Regimentssprache“24 erzählt. Den Druck des Zentrums beschreibend erzählt der patriotisch gesinnte Kapitän Vukić, dass nach dem Verbot des illyrischen Namens im Jahre 1843 die illyrische Bewegung von seinem Oberst (obrstar) als „Schwindelei“25 bezeichnet wurde. Er erinnert sich an die damalige Verhär-tung der imperialen Herrschaftsstrukturen, denn jegliche nationalen Bezeich-nungen werden als unerwünscht wahrgenommen: „In seinen Augen waren wir keine Kroaten oder Illyrer oder Slawen, sondern einfach ‚kaiserlich-königliche Grenzer‘.“26 Damit wird das Depravationsnarrativ am Anfang der Novelle plat-ziert und übernimmt eine klar appellative Funktion in Bezug auf die Gegenwart der Erzählzeit, die fortgeschrittenen 1870er Jahre.

Die Leserin/der Leser der Novelle erfährt bald, dass es zum Zeitpunkt der Handlung zu keinem ernstzunehmenden osmanischen Angriff kommen kann, denn das habsburgische imperiale Projekt der „Militärgrenze“, „Konfin“ oder

„Vojna krajina“, seit dem 18. Jahrhundert „ein ständiges Reservoir verläßlicher

21 Kessler, Wolfgang: Politik, Kultur und Gesellschaft in Kroatien und Slawonien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Historiographie und Grundlagen, München 1981, S. 91.

22 „prokletu zavadu među Šokcima i Vlasima“ TI, S. 194.

23 Dazu aus historiographischer Sicht vgl. Karaman, Igor: Hrvatski nacionalni preporod (1835–

1875.) i oblikovanje građanskog društva, in: Karaman, Igor: Hrvatska na pragu moderniza-cije. 1750–1918, Zagreb 2000, S. 90–110.

24 TI, S. 195 (kursiv im Original, da in der deutschen Sprache angeführt).

25 Ebd. Im kroatischen wie im deutschen Text kursiv markiert. Desgleichen in der Fußnote 25.

26 „Po njegovu nit smo mi bili Hrvati, niti Iliri, nit Slaveni, već ,kaiserliche königliche Grenzer‘“.

Ebd. Die deutsche Nennung wird mit einfachen Anführungszeichen im Original angeführt.

Truppen für die Kriege der Habsburger“,27 diente zu dieser Zeit längst nicht mehr ihrem primären Zweck der Abwehr osmanischer Angriffe, sondern befand sich nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 in einer Phase der be-reits weit fortgeschrittenen Auflösung. Gunther E. Rothenberg schreibt in seiner historischen Monographie über die Militärgrenze: „Um 1871 war die jahrhun-dertealte Militärgesellschaft der Grenzer in der Tat nur noch ein unbequemer Anachronismus.“28 Die Militärgrenze konnte nach dem Wehrgesetz aus dem Jahr 1868 mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht auch nicht mehr in den gesamtimperialen Mythos der kaiserlichen Armee integriert werden. Die Wehrpflicht hatte ein Zusammengehörigkeitsgefühl29 in breiten Bevölkerungs-schichten zur Folge und war nicht mehr den einst exklusiven Pachtsoldaten30 an der Grenze vorbehalten. Somit hatte nicht nur die Militärgrenze ihre eigentliche Funktion verloren, sondern auch das damit verbundene Bewusstsein eines ante-murale christianitatis31 des kroatischen Kriegers auf dem ‚Bollwerk des Christen-tums‘, das wiederum sowohl im imperialen als auch im nationalen Rahmen eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis spielt. In Eric J. Hobsbawms Analyse des imperialen Zeitalters wird Österreich-Ungarn als „Fenster Mitteleuropas zum Orient“ bezeichnet.32

In der Binnenerzählung wird die Türkengefahr ausschließlich als eine Remi-niszenz an einen einhundert Jahre zurückliegenden Angriff auf die kroatische Festung Cetin erwähnt, in der ein k.u.k.-Offizier von ‚Türken‘ getötet worden sei, was der homodiegetische Erzähler seinem ironisch geschilderten Kapitän Müller in den Mund legt. Er wiederholt jeden Tag: „Achten Sie besonders auf die Stelle, wo die Türken vor hundert Jahren unseren Offizier aus dem Hinterhalt ermordet haben.“33 Diesen Satz bekommt Andro 45-mal zu hören. Dabei ist Kapitän Mül-ler kein „Švaba“, also kein Deutscher, sondern „er war der Sohn eines Offiziers der Grenzer“,34 der noch immer inbrünstig an seine historische

Verteidigungs-27 Rothenberg, Gunther E.: Die österreichische Militärgrenze in Kroatien 1522 bis 1881, Wien/

München 1970, S. 7f. (Original: The Austrian Military Border in Croatia 1522–1881, Urbana 1960).

28 Ebd., S. 211.

29 Brückenmüller, Ernst: Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, Wien/Köln/Graz 1984, S. 370ff.

30 Zu fundierten historiographischen Einsichten über die Militärgrenze vgl.: Kaser: Freier Bauer und Soldat, 1997.

31 Kessler, Politik, Kultur und Gesellschaft, S. 95.

32 Hobsbawm, Eric J.: Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt/New York 1989 (englisch:

The Age of Empire, London 1987), S. 10.

33 „Osobito pazite na ono mjesto gdje su Turci prije sto godina ubili našeg časnika iz zasjede.“

TI, S. 197.

34 „bijaše krajiški oficirski sin“ TI, S. 196.

mission glaubt. Das übereifrige Pflichtbewusstsein wird vom binnenfokalisierten Erzähler Andro ironisch kommentiert; man könnte denken, es stehe „ein Murad oder Soliman mit gewaltigem Heer vor Cetin“.35 So wird der Kapitän Müller als ein Relikt aus vergangener Zeit dargestellt, der sich den veränderten Umständen nicht anpassen kann. Deshalb wird Müller meist regelrecht verspottet, z. B. in seinen Drohgebärden, wenn er immer wieder betont: „Da würde sich Mujo wohl merken, wer Major Müller ist.“36 In diesem von ihm mehrmals wiederholten Satz fällt auf, dass beide Namen fremder Herkunft sind und aus der Perspektive einer homogenen nationalen Identität ausgelacht werden können.

So kann Šenoa die ehemalige „Grenzverteidigungsmission“37 nur als einen Reflex des Vergangenen in der Form des Zitats aktualisieren: Die vermeint-lich lebensgefährvermeint-liche osmanische Bedrohung wird zu einem Aufmerksamkeit heischenden Signal, das als ironische Anspielung an eine ehemalige glorreiche Zeit zu lesen ist, auf deren Hintergrund die Novelle eine einfache Liebesintrige entwickelt. Mit dieser Liebesgeschichte aus dem Mittelstand wird ebenfalls eine klare didaktische Absicht verfolgt, denn sie soll ein neues Liebeskonzept vermit-teln, in dem die Vorstellung eines mündigen Bürgers transportiert wird, der sein Schicksal selbst bestimmen kann. Der Liebe auf den ersten Blick zwischen dem katholischen Militärarzt Mladen Novak, einem Kroaten aus der Provinz Zagorje, und Manda, der Tochter des orthodoxen Popen Gligorije aus der Militärgrenze, kommt die Aufgabe zu, das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den zuneh-mend sich entfremdenden katholischen Kroaten und orthodoxen Serben an der Militärgrenze neu zu befördern. Die Liebe entbrennt beim Besuch eines Ver-wandten von Andro, dem Kapitän Jurinić in Slunj. Damit verschränkt Šenoa

So kann Šenoa die ehemalige „Grenzverteidigungsmission“37 nur als einen Reflex des Vergangenen in der Form des Zitats aktualisieren: Die vermeint-lich lebensgefährvermeint-liche osmanische Bedrohung wird zu einem Aufmerksamkeit heischenden Signal, das als ironische Anspielung an eine ehemalige glorreiche Zeit zu lesen ist, auf deren Hintergrund die Novelle eine einfache Liebesintrige entwickelt. Mit dieser Liebesgeschichte aus dem Mittelstand wird ebenfalls eine klare didaktische Absicht verfolgt, denn sie soll ein neues Liebeskonzept vermit-teln, in dem die Vorstellung eines mündigen Bürgers transportiert wird, der sein Schicksal selbst bestimmen kann. Der Liebe auf den ersten Blick zwischen dem katholischen Militärarzt Mladen Novak, einem Kroaten aus der Provinz Zagorje, und Manda, der Tochter des orthodoxen Popen Gligorije aus der Militärgrenze, kommt die Aufgabe zu, das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den zuneh-mend sich entfremdenden katholischen Kroaten und orthodoxen Serben an der Militärgrenze neu zu befördern. Die Liebe entbrennt beim Besuch eines Ver-wandten von Andro, dem Kapitän Jurinić in Slunj. Damit verschränkt Šenoa

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