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2.5 Arten digitaler Literatur

2.5.3 Mitschreibeprojekte

Mitschreibeprojekte gehören zu den Formen digitaler Literatur, für die das Internet im Fokus steht. Anders als bei Hyperfictions können die Leser tatsächlich selbst einen eigenen Teil der Geschichte schreiben. Das Internet wird hier neben seiner Funktion als Produktions- und Dis-tributionsort auch zu einem Ort der Interaktion.162 Prinzipiell zeichnen sich Mitschreibepro-jekte dadurch aus, dass jeder Leser die Möglichkeit hat an dem Projekt mitzuschreiben, und diese unterscheiden sich so von anderen Formen digitaler Literatur, was auch Boesken deut-lich formuliert:

„Während der Leser eines in sich geschlossenen Literaturprojekts […] häufig zwar re-aktiv in die Gestaltung des Textablaufs eingreifen kann, indem er über die Auswahl-möglichkeiten zwischen den verschiedenen Elementen des Textes seine persönliche Version des Textes zusammenstellt, kann er in Mitschreibprojekten einen (inter-)aktiven Beitrag zum Projekt leisten, indem er einen eigenen Text verfasst und einfügt. Er verän-dert damit auch die Grundsubstanz des für den Lesevorgang verfügbaren Materials.“163 Boesken betont damit den interaktiven Charakter von Mitschreibeprojekten und die neuen Möglichkeiten des Lesers. Anders als die eben vorgestellten Hyperfictions sind Mitschreibe-projekte als unabgeschlossene Werke zu verstehen, da sie weitergeschrieben werden sollen.164 Auch Hartling betont, dass in Mitschreibeprojekten die traditionelle Grenze zwischen Autor und Leser gelöst werden:

157 Vgl. ebd., S. 78.

158 Vgl. ebd., S. 87.

159 Vgl. Hunziker, Esther (2004): NORD. Online verfügbar unter http://www.ref17.net/nord/ [07.09.2012].

160 Vgl. Klötgen, Frank (2004): Spätwinterhitze. Ein interaktiver Krimi. Dresden/Leipzig.

161 Vgl. Klötgen, Frank (2005): Endlose Liebe - Endless Love. Online verfügbar unter http://www.hirnpoma.de/trashical/ [07.09.2012].

162 Vgl. Hartling 2009, S. 266.

163 Boesken 2010, S. 61.

164 Vgl. Simanowski 2001a, S. 5.

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„Jeder Leser ist dazu eingeladen und angehalten selbst am Schreibprozess teilzuneh-men; die Organisatoren der Schreibprojekte verstehen sich dagegen eher als Techniker und Moderatoren im Hintergrund. Das Werk selbst entsteht durch die Zusammenarbeit ganz verschiedener Schreiber […]“165

Hartling nennt dies eine kollaborative Autorschaft und unterscheidet hier vier Stufen: Als erste Stufe nennt er, dass der Leser innerhalb eines Werkes selbst Sinn stiften muss, wie das oft bei Hyperfictions und deren Erweiterung der Hypermedialen Fiktionen der Fall ist. Hier findet laut ihm aber keine echte Kollaboration statt. Die zweite Stufe nennt Hartling aneinan-der orientierte Kollaboration und bezeichnet damit die Form aneinan-der Kollaboration, dass im In-ternet eingestellte Inhalte mit anderen Inhalten verlinkt werden. Auf der dritten Stufe steht die Kollaboration mit ungleichen Kraftverhältnissen. Hier hat man es mit Mitschreibeprojekten zu tun, in denen Moderatoren oder Initiatoren ein Konzept oder gewisse Schreibrichtlinien vorgeben.166 So wie beispielsweise bei dem Projekt 23:40 von Guido Grigat. Dieses Werk stellt eine Art kollektives Gedächtnis dar und umfasst einen Tag, dessen 1440 Minuten es zu füllen gilt. Jeder ist dazu aufgerufen, eine Minute dieses fiktiven Tages mit Inhalten zu be-schreiben. Es kann sich dabei um eine Erinnerung an eine bestimmte Minute handeln oder etwas, was man zu einer bestimmten Minuten getan hat. Diesen Eintrag ordnet man dieser Uhrzeit zu und der Beitrag kann dann auch nur zu dieser gelesen werden. In Phase 1 durfte der Text zunächst nur 200 Wörter lang sein und es durfte nur ein Beitrag für eine bestimmte Uhrzeit vorliegen, während in Phase 2 des Projekts auch mehrere Beiträge einer Uhrzeit zu-geordnet werden können. Hier gibt es jedoch die Einschränkung, dass es sich um keine fikti-ven Geschichten oder Lyrik handeln soll sondern nur um reale Beschreibungen.167 Wie deut-lich zu erkennen ist, gibt es hier klare Rahmenvorgaben eines Initiators, der Regeln festlegt.

Als vierte und letzte Stufe nennt Hartling die Co-Autorschaft oder echte gemeinschaftliche Autorschaft. Hier gibt es keine Regeln, die im Vorhinein festgelegt wurden, und alle Schrei-ber besitzen die gleichen Rechte.168

Auch Simanowski nimmt innerhalb von Mitschreibeprojekten eine Unterscheidung vor und differenziert zwischen drei Gruppen. Die erste Gruppe beinhaltet Projekte, bei denen die Teilnehmer nacheinander an einer linearen Geschichte schreiben. Die zweite Gruppe an Mit-schreibeprojekten ist multilinear aufgebaut, so dass die Autoren an verschiedenen Abzwei-gungen weiterschreiben können. Die dritte Gruppe umfasst Textsammlungen, bei denen die

165 Hartling 2009, S. 266.

166 Vgl. ebd., S. 267.

167 Vgl. Grigat, Guido (o.J): 23:40. Online verfügbar unter http://www.dreiundzwanzigvierzig.de/ [07.09.2012].

168 Vgl. Hartling 2009, S. 267.

34 Autoren nicht an einer Geschichte weiterschreiben, sondern voneinander unabhängige Inhalte erstellen. Ein Beispiel dafür ist das ebengenannte Projekt 23:40.169

Das Internet zeichnet sich durch seinen Vernetzungscharakter prinzipiell als geeigneter Ort für gemeinschaftliches Schreiben aus. Heibach nennt in diesem Zusammenhang vier Projekt-formen für kollektives Schreiben und unterscheidet zwischen kooperativen, partizipativen, kollaborativen und dialogischen Projekten. Dabei versteht sie unter kooperativen Projekten solche Werke, die von einer geschlossenen Gruppe in gemeinsamer Arbeit erstellt werden. Es handelt sich hier einfach um eine Form der Arbeitsteilung und ist daher nicht als typisches Netzphänomen zu verstehen, da es diese Form auch schon zuvor gegeben hatte. Doch durch die technischen Voraussetzungen des Computers und des Internets, denen der Autor gegen-über steht, können neue Formen der Kooperation entstehen, wie jene zwischen Autor und Programmierer.170 Bei partizipativen Projekten gibt es Initiatoren, die für das Projekt gewisse Richtlinien erstellen und auch für deren Einhaltung sorgen. Die Teilnehmer können dann Bei-träge hinzufügen. Dabei handelt es sich um EinzelbeiBei-träge, die zwar Teil eines gemeinsamen Projektes sind, sich aber dadurch auszeichnen, dass meist ein Autor zum jeweiligen Beitrag zugeordnet werden kann.171 Kollaborative Projekte dagegen weisen keine Vorgaben auf und es gibt kein Kontrollorgan. Sie sind prinzipiell offen gestaltet, sodass jeder Beiträge einstellen kann. Ebenso sind die einzelnen Autoren nicht erkennbar.172 Unter dialogische Projekte fasst sie solche Formen, in denen Nutzer tatsächlich miteinander in Kommunikation treten, wie dies in virtuellen Welten und Multi User Dungeons aber auch Chat-Rooms geschieht. Auch hier können künstlerische und literarische Formen entstehen.173

Im Vergleich mit Hartling erkennt man, dass Heibachs partizipative Projekte analog zu Hart-lings kollaborativer Autorschaft mit ungleichen Kraftverhältnissen zu verstehen sind, ebenso wie Heibachs kollaborative Projekte mit Hartlings echter gemeinschaftlicher Autorschaft bzw.

der Co-Autorschaft zu vergleichen sind. Beide nehmen hier also eine ähnliche Unterschei-dung vor.

Die neue Ästhetik des Mitmachens, die im Rahmen des Internets und so auch der Mitschrei-beprojekte entsteht, führt zu einer neuen Schreibkultur, bei der vor allem der Schaffenspro-zess im Vordergrund steht.

169 Vgl. Simanowski 2002a, S. 16.

170 Vgl. Heibach 2003, S. 60 sowie 161.

171 Vgl. ebd., S. 60 sowie 161 -172.

172 Vgl. ebd., S. 60 sowie 172-184.

173 Vgl. ebd., S. 60 sowie 189-197.

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„Mitschreibeprojekte im Internet erzeugen zwar einen Text als Endergebnis, doch pri-mär zählen nicht sein Inhalt, sondern die Prozesse, während derer er erstand. Diese ent-wickeln ihren Reiz wiederum aus der Gruppendynamik der miteinander kommunizie-renden Autoren und den Momentaufnahmen des Online-Lebens.“174

Ähnlich, wenn auch etwas negativer, was die literarische Bedeutung angeht, formuliert dies Daiber:

„Mitschreibeprojekte machen sicher dem einen oder anderen Spaß – und danach ist auch nicht das Geringste zu mäkeln. Nur: Bei diesen Projekten wird alles Mögliche ent-stehen; in der Mehrzahl jedoch keine Literatur, die eine größere Anzahl von Rezipienten online hält.“175

Dass die Qualität des Inhalts nicht immer die oberste Priorität in Mitschreibeprojekten inne-hat, zeigt sich auch beim vielzitierten Klassiker-Projekt Beim Bäcker176. Das Projekt beginnt mit einem ersten Eintrag einer Ich-Erzählerin, die sich in einer Bäckerei befindet und dort drei Kinder sieht, die nicht genügend Geld haben um sich drei Lutscher zu kaufen. Sie hilft ihnen, indem sie das Geld dafür bezahlt. Im Folgenden denkt sie darüber nach, selbst Kinder zu be-kommen und entwickelt sexuelle Phantasien mit einem im Laden anwesenden Mann. Danach verlässt sie mit einem eigenen Lutscher in der Hand den Laden.

In den 37 Beiträgen, die darauf folgen, werden immer wieder neue Figuren und Erzähler ein-geführt, darunter sogar ein Hund. Während die Texte zu Beginn noch Bezug aufeinander nehmen, ist dies später nicht mehr der Fall und es entstehen vielmehr einzelne Szenen. Eben-so entwickeln sich diverse Konkurrenzkämpfe unter den Teilnehmern.177 Simanowski, der sich ausgiebig mit dem Projekt beschäftigt hat, fasst dies wie folgt zusammen:

„Das Projekt wimmelt nur so von blutigen Textstümpfen, die keiner versorgt. Alle hin-terlassen sie ihre Beiträge mit Ereignissen, die, so meint man, nach der >Werbepause<

unbedingt weiter aufgelöst werden sollten. Aber keiner kümmert sich richtig darum. Die hartnäckige Ignoranz macht das Kollektivprojekt schließlich zu einem Tummelplatz von Egoisten, und aus diesem Grund vegetiert die Geschichte bald nur noch vor sich hin, von Zeit zu Zeit jemanden noch zu einem Beitrag bewegend – […] Was sie braucht, ist ein Autor, der ihr Scheitern erzählt – anders gesagt: ihr Ende. Wenn keiner an der Zu-sammenführung und Schließung der Spannungsbögen arbeiten will, bleibt letztlich nichts als ein gekonnter Abbruch.“178

174 Piestrak-Demirezen 2009, S. 58.

175 Daiber, Jürgen (2002): Miss Latex, Harry Potter und der verrückte Affe – oder: Zum (noch) ungeordneten Verhältnis von digitaler Literatur und Literaturwissenschaft. In: Simanowski, Roberto (Hg.) (2002): Literatur.

digital. Formen und Wege einer neuen Literatur. München, S. 92-110. Hier: S. 98.

176 Klinger, Claudia (o.J.): Beim Bäcker. Online verfügbar unter http://www.claudia-klinger.de/archiv/baecker/

[07.09.2012].

177 Vgl. ebd.

178 Simanowski 2002c, S. 32.

36 Jeder versucht der Geschichte seine eigene Note zu verleihen. So entwickelt sich eine eigene Dynamik und der Inhalt selbst kann in den Hintergrund geraten. Simanowski macht im eben-genannten Zitat ebenfalls noch auf eine andere Besonderheit von Mitschreibeprojekten auf-merksam: das Ende. Wie kann solch ein Projekt beendet werden? Das Projekt gehört im Prin-zip niemanden oder besser gesagt allen. So kann jemand zwar versuchen, das Projekt mit sei-nem Beitrag zu beenden, aber sein Nachfolger muss sich nicht daran halten. Eine Möglichkeit kann hier sein, dass ein Initiator oder Moderator das Projekt beendet, wie es auch bei Beim Bäcker der Fall war. Ebenso kann es beendet werden, indem am Text einfach nicht mehr wei-tergeschrieben wird.179

Wie man erkennen kann, unterscheiden sich Hyperfictions und deren Erweiterung der Hy-permedialen Fiktionen deutlich von Mitschreibeprojekten. Während bei Hyperfictions meist ein Autor ein abgeschlossenes, narratives Werk anderen Lesern zur Verfügung stellt, liegt bei Mitschreibeprojekten eher das gemeinschaftliche Schreiben im Fokus. Die Werke sind unab-geschlossen und sollen erweitert werden. Der Prozess des gemeinschaftlichen Schreibens do-miniert den Inhalt. Auch die folgenden Gattungen zeigen die Vielseitigkeit innerhalb digitaler Literatur.