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3.3 Neuer Autor und neuer Leser

3.3.2 Der Leser in Hypermedialen Fiktionen

Wenn sich die Rolle des Autors und damit seine Aufgaben verändert haben, wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, stellt sich damit auch die Frage, wie sich diese Veränderung auf den Leser und dessen Funktion auswirkt. In Hypermedialen Fiktionen hat man es tatsächlich mit einem neuen Lesevorgang zu tun, der sich von alten und vertrauten Lesemustern

296 Vgl. ebd., S. 69-77.

297 Vgl. Hartling, 2009, S. 232-247.

298 Vgl. Eastgate Verlag (2011): Hypertext Fiction. Online verfügbar unter http://www.eastgate.com/catalog/Fiction.html [07.09.2012].

299 Suter/Böhler 1999a, S. 19.

300 Vgl. ebd., S.19f.

62 det.301 Solche Veränderungen macht Wingert in seinem Aufsatz Kann man Hypertexte lesen?

deutlich. So bekommt der Leser von Hypertexten zunächst nur kleine Textteile zu Gesicht, wodurch er kein Gefühl für die Gesamtmenge des Werkes entwickeln kann. Das Werk verliert seine Räumlichkeit, welche hier in eine zeitliche Struktur umgewandelt wurde. Zweitens wer-den durch Links immer neue Lexien miteinander verbunwer-den und das Lesen wird dadurch sprunghaft. Wie Wingert formuliert, verändert dies auch die Aufmerksamkeitsstruktur des Lesers. Drittens muss sich der Leser in Hypertexten den Inhalt zusammensuchen und kann dabei mögliche Inhalte verpassen, was bei einem Buch nicht der Fall ist. So führt Wingert auch an, dass man Bücher im Gegensatz zu Hypertexten besser überfliegen oder querlesen kann. Als vierte Veränderung nennt er, dass im Hypertext ein Metalesen notwendig ist. Der Leser muss überlegen, wohin ein Link führen kann, und die Hinweise darauf deuten. Eine weitere neue Erfahrung bietet die Intermedialität von Hypertexten. Im Gegensatz zum Buch gibt es hier auch Ton und bewegtes Bildmaterial. Diese Gesamtkomposition muss vom Leser verarbeitet werden. Sechstens wird das Lesen mit motorischen Bewegungen des Lesers ver-knüpft, er muss beispielsweise Links aktivieren und erhält so spielerisches Potenzial. Als letz-tes nennt Wingert, dass der Text einen Ereignischarakter erhält.302

Man kann also deutlich eine Veränderung vom digitalen zum klassischen Lesen ausmachen, welches nun in viel höherem Maße eine Mitarbeit des Lesers fordert.303 Diese kann in unter-schiedlicher Art und Größe gefordert werden. Für diese Beschränkungen oder Freiheiten ist jedoch wieder der Autor zuständig. Vor allem die Multilinearität oder Nicht-Linearität der hypertextbasierten Literatur, wobei hier anzumerken ist, dass der Lektürevorgang selbst linear verläuft, da der Leser immer nur den einen, von ihm selbst gewählten Weg durch die Ge-schichte präsentiert bekommt, fordert vom Leser aktives Mitwirken.304

Der Leser von Hypermedialen Fiktionen wird daher häufig als Steuermann oder Navigator bezeichnet, da er sich seine Route selbst aussucht. Die einzelnen Leser werden hier unter-schiedliche Wege einschlagen und so entstehen ebenfalls unterunter-schiedliche Geschichten.305 Wingert hingegen vergleicht das Lesen im Hypertext mit dem Spurenlesen eines Jägers im Wald,306 woran Wirth Kritik übt. Er erklärt:

301 Vgl. ebd., S. 16.

302 Wingert 1996, S. 201ff.

303 Suter/Böhler 1999a, S. 18.

304 Vgl. Bachleitner 2002, S. 247.

305 Vgl. ebd., S 248f. sowie Suter/Böhler 1999a, S. 19.

306 Vgl. Wingert 1996, S. 187-190.

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„Links sind keine Abdrücke unschuldiger Tiere (wie Wingert in seinem Aufsatz be-hauptet), sondern absichtsvoll von einem Autor oder Herausgeber »vorgeschriebene Verweise«.“307

Wirth selbst bezeichnet den Leser dagegen als Detektiv, der nach dem Modell des abduktiven Lesens verfährt. Das bedeutet, dass der Leser zwischen den einzelnen Textteilen einen logi-schen Zusammenhang herstellen muss. Er kombiniert diese miteinander und erzeugt Sinn, indem er schlüssige Verbindungen zwischen den einzelnen Segmenten herstellt.308 Die Links sind in diesem Zusammenhang, wie Karin Wenz anführt, zunächst als und-Verknüpfung zu verstehen, die verschiedene Lexien miteinander verbinden. Die eigentliche Interpretation des Zusammenhangs wird an den Leser übergeben.309 Wie leicht oder schwer es dem Leser fällt einen Sinnzusammenhang herzustellen, hängt dabei von der Gestaltung des jeweiligen Hyper-texts ab.

Wie deutlich wurde, ist das Lesen selbst sprunghaft. Der Leser hangelt sich mithilfe von Links von Lexie zu Lexie und stellt logische Verbindungen her. Die Auswahlmöglichkeiten, die dem Leser zur Verfügung stehen, sind zum einen als Freiheit des Lesers zu sehen, der selbst festlegen kann, welchem Link er folgen möchte. Andererseits kann diese Auswahl auch als eine Pflicht verstanden werden, da der Leser auswählen muss. Dies tut er aber zumeist nur in dem vom Autor vorgegebenen Rahmen. 310 Wie Wenz anführt, ist die Freiheit des Lesers in diesem Zusammenhang in Hypermedialen Fiktionen stärker eingeschränkt als in traditioneller Printliteratur:

„Es handelt sich […] um eine kontrollierte Textumgebung, die den Leser zum Teil stär-ker gängelt, als dies gedruckte Texte tun, denn in gedruckten Texten kann ich blättern und einige Seiten frei überspringen. Im Hypertext hingegen folge ich strikt der Pro-grammierung der Links. Ich habe zwar eine Auswahl, kann aber nicht ohne weiteres [sic!] frei entscheiden, wo genau ich weiterlesen möchte.“311

So wird erkennbar, dass die viel thematisierte Freiheit des Lesers im Hypertext zwei Seiten hat. Dieser kann einerseits wählen, ist aber auch an die Vorgaben des Autors gebunden. Die Aufgabe des Lesers ist das Weiterklicken und Kombinieren der Textteile, doch meist weiß er nicht, wohin ihn ein Link führen wird. Hierin steckt auch eine Gefahr von Hypermedialen Fiktionen. Die Texte sind für den Leser häufig nicht überschaubar. Sie besitzen meist kein

307 Wirth, Uwe (1997): Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert's, wer liest? In: Münker, Stefan/Roesler, Ale-xander (Hg.) (1997): Mythos Internet. Frankfurt am Main, S. 319–337. Hier: S. 327.

308 Wirth 1999 , S. 33-36.

309 Vgl. Wenz 2001, S. 47.

310 Vgl. Suter 2005a sowie Wirth, 1999, S. 32.

311 Wenz 2001, S. 44.

64 Inhaltsverzeichnis oder andere Orientierungshinweise, sodass der Leser keinen Überblick mehr über das Gesamtwerk hat.312 Das Phänomen des Lost in Hyperspace, das schon in Kapi-tel 3.1.2 Die Struktur des Hypertexts vorgestellt wurde, kann so, statt Lust am Lesen und Neugierde zu fördern, Orientierungslosigkeit und Unzufriedenheit erzeugen.313 Wie Dirk Schröder anführt, kann dies dazu führen, dass der Leser einfach nur weiterklickt, was Lange-weile zur Folge haben kann:

„Der Leser digitaler Literatur blättert keine Buchseiten um. Er klickt. Dann geht es wei-ter. Aber wohin? Folgt eine Illustration? Darf man dem Autor eine Nachricht zukom-men lassen? Wird etwas erklärt? Ist der Text gar schon zu Ende? Wie die Detailansicht einer fraktalen Grafik findet sich die vielbeschworene Orientierungslosigkeit des Inter-net (»Lost in Cyberspace«) auch in so manchem Werk digitaler Literatur wieder. Der verlorene Leser ist wirklich verloren, er gibt auf. Klick und Weg. Gegen die Langeweile der »Klickeratur« steht die Hypertextkomposition: die Strukturierung der Texteinheiten zu einem Mehrwert des Nichtlinearen.“314

Es ist demnach von zentraler Bedeutung, dem Leser eine klare Struktur zu bieten, damit die-ser die Lektüre nicht abbricht. Jedoch kann der Autor in Hypermedialen Fiktionen durchaus auch in einem gewissen Maß mit diesem Gefühl der Orientierungslosigkeit spielen.315 Bern-stein schreibt dazu:

„If hypertext is intrinsically disorienting, why have artists felt the need to develop such a diverse range of techniques to achieve it? If hypertext disorientation is undesirable, why have so many writers worked so hard to promote it? Indeed, a degree af [sic] diso-rientation, deliberately and thoughtfully controlled and guided, can be a powerful tool for writers.“316

An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass in Hypermedialen Fiktionen durchaus ein Autor von Nöten ist, der das Ganze ordnet, damit der Leser auch Sinn stiften kann. So lässt sich ab-schließend zusammenfassen, dass sich mit dem Aufkommen Hyperfiktionaler Formate die Rollen des Autors und Lesers gewandelt haben. Jedoch wurde der Autor nicht vom schrei-benden Leser abgelöst, sondern hat neue Funktionen dazugewonnen und dafür andere einge-büßt. Auch der Leser ist nicht völlig frei in seiner Auswahl, sondern ist an die Vorgaben des Werkes gebunden. Wie Simanowski schreibt, findet

312 Vgl. Suter/Böhler 1999a, S. 16.

313 Vgl. Bachleitner 2002, S. 251.

314 Schröder 1999, S. 50.

315 Vgl. Piestrak-Demirezen 2009, S. 102.

316 Bernstein, Mark (1991): The Navigation Problem Reconsidered. In: Berk, Emily/Devlin, Joseph (Hg.) (1991):

Hypertext/Hypermedia Handbook. New York, S. 285-297. Hier: S. 293 zitiert nach Wingert 1996, S. 215.

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„[d]ie wirkliche Befreiung des Lesers […] nicht im Hypertext statt, sondern in Mit-schreibeprojekten, die wirkliche Schwächung des Autors in digitalen Spielformen der kombinatorischen und aleatorischen Dichtung.“317

Nachdem im Vorangegangen nun der Hypertext, der Begriff Interaktivität und die damit ver-bundenen neuen Rollen von Autor und Leser geklärt wurden, soll im nachfolgenden Kapitel ein weiteres zentrales Merkmal Hypermedialer Fiktionen, die Intermedialität, näher erläutert werden.