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L Manipulation: Ein wichtige Aufgabe wird sprachkritisch in der Kritik und Aufdeckung politischer Sprachlenkung und Normierung sowie manipulativer

j formativ logisch-

3. Der politische Diskurs 1. Politik und Alltag

3.3. L Manipulation: Ein wichtige Aufgabe wird sprachkritisch in der Kritik und Aufdeckung politischer Sprachlenkung und Normierung sowie manipulativer

sprachlicher Einflußnahme auf politisches Denken gesehen (vgl. Betz 1975: 11; vgl.

Dieckmann 1975: 38ff.; vgl. Geis 1987: 1; vgl. Heringer 1988a: 3; vgl. Kupina 1995). Politisches Sprechen ist als “Mittel gesellschaftlicher Kontrolle, das be- stimmte Wertungen übermittelt und nicht zuletzt dadurch versucht, Entscheidungen vorzubereiten oder abzubauen” (Niehr 1993: 9; vgl. auch Dieckmann 1975: 12), ein besonders ‘repräsentativesי Objekt der Manipulationskritik. ‘Manipulation’ bedeu- tet, daß Adressaten zu Meinungen gebracht werden, die nicht (oder nur teilweise) mit den Meinungen dessen, der manipuliert, übereinstimmen (vgl. Holly 1990: 55).

Das politische Ziel solcher Manipulationen sind Handlungen oder zumindest Ver- haltensdispositionen des Adressaten, die fur den Manipulierenden von Vorteil sind.

Edelmann 1990 (Orig. 1964) und im Anschluß an ihn Dieckmann 197 5 sehen in der Politik solche Manipulationen in der Inszenierung ‘symbolischer Realitäten’. Die politische Kommunikation findet nicht tatsächlich, sondern in scheinbaren Kommu- nikationssituationen statt: “Wo man vorgibt zu diskutieren (z.B. im Fernsehen), be- treibt man Werbung, ‘Information’ ist in Wirklichkeit Propaganda; ist Propaganda plump und offen (wie in totalitären Staaten), ist sie eigentlich Einschüchterung durch Machtdemonstration usw.” (Holly 1990: 39). In der politischen Inszenierung werden verschiedene Ziele verfolgt. Edelmann (1990: 98ff.) nennt, ausgehend von der amerikanischen politischen Wirklichkeit, aber in wesentlichen Teilen übertrag- bar auch auf andere Systeme: “A. Erzeugung der Vorstellung, daß das Volk die Richtlinien des politischen Handelns mitbestimmt und beeinflußt”, z.B. durch appel- lative Sprache, die suggeriert, daß die Volksentscheidung wesentlich ist, juristische Sprache, die die Eindeutigkeit der getroffenen Entscheidungen suggeriert. “B. Er- zeugung der Vorstellung, daß bestimmte Gruppen feindlich und gefährlich sind”

durch die Organisation von Abwehr- und Polizeiaktionen, sowie rituelle Gerichts- prozesse. “C. Die Erzeugung der Auffassung, daß die politische Führung im öffent- liehen Interesse handelt und mit all den Problemen fertig werden kann und auch fertig werden wird, die die Öffentlichkeit beschäftigen und beunruhigen”, etwa in der Inszenierung von Selbstbewußtsein und Zuversicht und rhetorischer Gewandt- heit (Führer-Charisma!). “D. Erzeugung von Deutungen, wonach bestimmte Grup- pen wohlmeinende Verbündete sind”, z.B. durch die publizistische Hochspielung von Bündnissen und die Einbindung der Zielgruppe in die ‘Wir’-Gruppe.

Ein typisches Beispiel des ersten Inszenierungszieles ist die appellative Lo- sung aus der Oktoberrevolution “ Vsja vlast' sovetamV' “Sie war von Anfang an

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reine Beschwörung”, kommentiert Sinjawskij (1989: 275), da die Räte tatsächlich nie Funktionen höherer Staatsorgane innehatten. Extreme Fälle politischer Inszenie- rungen im Sinne des zweiten und dritten Zieles waren die stalinistischen Schaupro- zesse und der Personenkult um den ‘Vater der Völker’. Ein prägnantes Beispiel des vierten Inszenierungszieles schließlich bot die propagandistische Gleichschaltung der Bauern mit dem Industrieproletariat in der Frühzeit der Sowjetunion; vgl. (4).

(4) Srednij krest’j anin ne vrag, a drug rabočego, drug Sovetskoj vlasti.

(Lenin 1969e: 235)

Zum Paradigma totalitärer politischer Sprachlenkung und Manipulation wird immer wieder Orwells 1984 erhoben (vgl. Geis 1987: 2ff.; Straßner 1987: 48; Young 1991: 36ff.; Zybatow 1995: 193ff.; Kupina 1995: 6; in Bergsdorf 1979: 128ff. ist sogar der grammatische Anhang des Romans abgedruckt). Allerdings konnte bisher die tatsächliche Wirkung von Manipulationsversuchen nicht zuverlässig erwiesen werden. Betz 1977 warnt vor einer Überschätzung und spricht vom Mythos der Sprachmanipulation. Dieckmann (1975: 135) stellte bereits Ende der sechziger Jahre fest, “daß der Erklärungswert der Manipulationsthese generell und speziell der Anteil der Sprache heute sehr viel vorsichtiger eingeschätzt wird...” Young (1991: 216) zufolge läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Sprachlenkung des Dritten Reiches und anderer totalitärer Staaten Erfolg hatte (“Did the design succeed?”), und selbst Klemperer (1985: 77) bezieht die “Position Montaignes: Que sais-je, was weiß ich?” Sprachlenkung kann nur Erfolg haben, wenn die verordnete Norm auch zum tatsächlichen und v.a. nicht mehr markierten Sprachgebrauch wird, wenn jazyk und reč' in Überstimmung gebracht werden. Gerade auf der Ebene des

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Sprechens kann jedoch durch Ironisierung und bewußte stilistische Uberstrapazie- rung bestimmter ‘Vorschriften’ des Sprechens deren ideologische Intention unter- laufen werden. Es handelt sich hierbei um eine Funktion, die in herausragender Weise dem politischen Witz zukommt (vgl. Oschlies 1995), aber nicht nur auf die explizite Komik beschränkt ist (vgl. Kupina 1995: 77ff.).

Und schließlich: Nicht zuletzt aufgrund der erwähnten Inszenierung schein- barer Kommunikationssituationen in der Politik muß es wohl auch eine offene Frage bleiben, ob “es gelingt, von dem Stil der Rede auf die Herrschaftsstruktur des Staa- tes zu schließen, statt umgekehrt eine Rede totalitär zu nennen, weil sie in einem to- talitären System gehalten wurde” (Dieckmann 1975: 110).

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3.3.2. Sprache und Wirklichkeit: Die Manipulationsthese setzt zum einen die ‘Tei- lung der Gesellschaft’ in ‘(wenige) Manipulierer und (viele) Manipulierte’ voraus und zum anderen ein rein instrumentelles Sprachverständnis (vgl. Holly 1990: 19), demzufolge Sprache ihren Benutzern zur Verfügung steht, ohne in ihnen und auf sie selbst zu wirken - ein Sprachverständnis also, in dem ‘Sprache’ nach der bekannten Unterscheidung Humboldts (1988: 418) nur als ergon, nicht als energeia in Blick kommt. Ein extremes Beispiel dieser Position ist die Formulierung von Mey (1979:

423): “Wer die Sprache setzt, setzt die Welt. Das heisst, dass diejenige Kontroll- instanz, die bestimmt, was für ein Ausdruck für eine gegebene Situation der ‘richti- ge’ ist, letzten Endes auch die Situation selber steuert.”

Zweifellos gibt es bewußt gesteuerte Sprachlenkungsversuche, in denen die

‘Manipulierer’ wie Drogenverkäufer erscheinen, die selbst nicht süchtig sind. Für den Nationalsozialismus sind sie wiederholt nachgewiesen worden (vgl. z.B.

Bergsdorf 1979b). Für die Sowjetunion zeigt Kupina 1995 am Beispiel des Akade- miewörterbuchs von Ušakov (Tol'kovyj slovar' russkogo jazyka, 1935-1940) das Eindringen der Sprachlenkung in den vermeintlich neutralen Bereich wissenschaftli- eher Lexikographie, die sich im gegebenen Fall als willfähriges Vehikel stalinisti- scher Ideologeme erweist (s.o. II. 1.2.). Aber selbst bei diesen eindeutigen Versu- chen der Sprachlenkung ist m.E. die tatsächliche Distanz des Senders zum Inhalt des von ihm gesteuerten Diskurses und seinen sprachlichen Formen fraglich. Ge- nausowenig wie die Wirkung von Manipulationsversuchen mit Sicherheit festzustel- len ist, kann umgekehrt ausgeschlossen werden, daß nicht Manipulationsversuche die Welterfahrung und das Denken derer beeinflussen, die eigentlich manipulieren wollen. Gerade im Politischen zeigt sich die angesprochene Wechselwirkung zwi- sehen den institutionellen Bedingungen für Kommunikationssituationen und

Dis-• Dis-•

kursinhalten (ggf. Ideologien) sowie den Überzeugungen der Diskursteilnehmer und ihren Intentionen und Handlungen (vgl. II. 1.4.). In diesem Wechselwirkungsprozeß sind Aktanten besonders aktiv oder eher passiv, keinesfalls aber können sie sich ihm vollständig entziehen. Da sich Sprache in Lexik, Syntax und Rede in diesem Prozeß diskursabhängig entwickelt, stellt sie sich, wie Straßner (1987: 16) bemerkt,

“nicht als ein unveränderliches oder unveränderbares Kommunikationsinstrument dar, sondern als Resultat eines konkret gesellschaftlichen Verwertungsprozesses.”

Für Dieckmann (1975: 31) sind es die “ideologischen Weltbilder, die ihre Spuren in der Sprache hinterlassen haben.” Für das Russische in der Sowjetunion weist besonders Kupina 1995 solche ideologischen Spuren in der Auswertung syntagmatischer Begriffsbildungen im Wörterbuch von Ušakov (s.o.) nach. Ein

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deutliches Beispiel gibt Kupinas Beobachtung zur semantischen Darstellung des Begriffs Idee, die exemplarisch für die in der sowjetischen langue de bois markante Transformierung ursprünglich philosophischer Termini in politische Termini ist. “ V sobsivenno ßlosofskie koncepty vtorgaetsja političeskaja semantika, kotoraja prim itiviziruet ich ...: Ideia. ... V ideal ist ičeskoj filosofu - umopostigaemaja večnaja suščnost’ predmeta, javlenija. ... Osnovnoj, suščestvennyj princip mirovozrenija. Gospodstvuiuščie idei. Političeskie idei. B o r’ba za idei: ШеаГ (Kupina 1995: 25)

Die in der Sprache zu findenden Spuren einer Ideologie sind m.E. aber nicht nur (mehr oder weniger) sichtbares Resultat, sondern ihrerseits wieder wirkend auf Denken und Handeln der Sprachbenutzer (vgl. Bergsdorf 1983: 32; vgl. Eppler

1992: 242). Der beschriebene Prozeß ist vereinfacht in folgendem Zitat zusammen- gefaßt: “Einerseits ist ... Sprache abhängiges Instrument politischen Wollens und Handelns; andererseits wird Reflexion, d.h. Verständnis und Selbstverständnis poli- tischen Wollens und Handelns nur durch Sprache möglich. ... Bezüglich des Ver- hältnisses zwischen Sprache und Politik läßt sich also von einer Wechselwirkung sprechen, in der beide Seiten einander auf bestimmte Weise bedingen” (Gaier 1971 :

13).