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Die livländiscbe Bauernbefreiung und die russische Presse»

Im Dokument ALEXANDER VON TOBIEN (Seite 55-65)

Nicht die Agitation Merkels, sondern die Bundesgenossenschaft mit dem jungen Zaren Alexander I., „dem Freunde der unterdrückten Menschheit", führte Friedrich von Sivers zu Beginn des neuen Jahrhunderts zu neuen Taten und ließ eine frucht­

bare Epoche livländischer Agrargeschichte ihren Anfang nehmen.

Der theoretische Liberalismus, dem Alexander I. huldigte6, kam dem Gedanken­

gange der livländischen Reformfreunde, die sich um Friedrich von Sivers scharten, entgegen 7 - Das Ergebnis war die Bauernverordnung vom Jahre 1804 und deren Er­

1 „Testimonia Auctorum de Merkelio, das ist: Paradiesgärtlein für Garlieb Merkel", Köln, bei Peter Hammer, 1806.

Als Verfasser dieses Pamphlets gibt Eduard Winkelmann: „Bibliotheca Livoniae historica"

Berlin 1878, Nr. 10 839 an: W Neumann und K. A. Varnhagen von der Ense. Merkels Stellung in der deutschen Literatur hat neuerdings behandelt Müller-Jabusch: „Thersites", „Erinnerungen des baltischen Journalisten Garlieb Merkel", „Deutsche Verlagsanstalt für Politik und Geschichte, Berlin 1921.

2 Tobien: „Die Agrargesetzgebung usw." I, S. 346 ff.

3 Ebenda S. 347.

4 Ebenda S. 407, Anmerkung.

5 Wie z. B. von Georg Wihgrabs (Vigrabs) in seinem Buch: „Garlieb Merkel. Die Letten". Riga, 1924;

vergleiche dagegen Woldemar Wulffius: „Garlieb Merkel, Carl Schirren und Georg Wihgrabs"

„Rigasche Rundschau" vom 26. März 1925.

6 Th. Schiemann: „Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Erster Band: Kaiser Alexander I.

und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit". Berlin 1904 S. 59.

7 Tobien: „Die Agrargesetzgebung usw." I, S. 158 ff.

gänzung vom Jahre 1809, die die Gutsuntertänigkeit, oder Schollenpflichtigkeit der Bauern von ihren Auswüchsen befreite und in ein Rechtssystem brachte. Diesen beiden Schöpfungen der Ritterschaft gebührt der Ruhm, die Leibeigenschaft in Livland aufgehoben und durch eine Erbuntertänigkeit ersetzt zu haben, die milder war als die der preußischen Bauern1.

War das endlich Erreichte die Frucht mehrjähriger Bemühungen des von Friedrich von Sivers beeinflußten Landtages, also ein Erzeugnis rein livländischen Ursprunges, so wurde das anders, als Alexander I., „der die Formen der Freiheit liebte, wie man ein Schmuckstück liebt"2, auf den genialen Gedanken kam: zwischen Großrußland und den Ostseeprovinzen eine Trennungslinie zu legen, damit er ein Gebiet gewönne, in dem er ungestört seine liberalen Gedanken verwirklichen könne3. Er bewog erst den Adel Estlands, dann den Kurlands und Livlands, den an die Scholle gefesselten Bauern die staatsbürgerliche Freiheit zu verleihen4.

Dieser fruchtbare, auf Dezentralisation der agrarpolitischen Entwicklung in seinem Reiche abzielende Gedanke, ist auch von den Nachfolgern Alexanders I. auf dem Kaiserthron festgehalten und zwar so gründlich verwirklicht worden, daß die Gestaltung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen nicht die mindeste Ähnlichkeit mit dem Verlauf der Bauernbefreiung in Großruß­

land aufwies. Hier separierte, wohlarrondierte, umfangreiche Pachthöfe5, die, durch den „Leihezwang" dem Nießbrauch des Bauernstandes gesichert, dank der die Pächter schützenden Gesetzgebung 6 so lange im bäuerlichen Individualbesitz erhalten wurden, bis sie auf Grund privatrechtlich vereinbarter Ablösung nach und nach in das dienst­

freie, unbeschränkte Privateigentum der Zeitpächter übergingen. Dort Feldgemein­

schaft mit Gemeindebesitz 7 und Zwangsablösung, eine Struktur, die zwar eine Art persönlichen Besitzes gestattete, nicht aber den auf eigener Scholle sitzenden, unab­

hängigen Bauer, wie er Westeuropa und den Ostseeprovinzen eigentümlich ist, auf­

kommen ließ 8.

Daß dieses, von den russischen Zuständen so grundverschiedene, germanischem Wesen entsprechende Ergebnis ostseeprovinzieller Sonderentwicklung das Mißfallen der im panslawistischen Fahrwasser segelnden einflußreichen russischen Publizistik, die wir kennen gelernt haben 9, erregte, entsprach ihrem Programm. Damals wurde

1 Ebenda S. 237 ff. und 269.

2 Urteil seines vertrauten Freundes des Fürsten Adam Czartoryski; Schiemann: a. a. 0. S. 59.

3 Schiemann: a.a.O. S. 495.

4 Tobien: „Die Agrargesetzgebung usw." I, S. 288 ff.

5 Der Durchschnitt der Bauernhöfe in Livland betrug 49,82 ha, Tobien: „Die Agrarverfassung des festländischen Livland". Riga 1906 (russisch).

0 Tobien: „Die Agrargesetzgebung usw." II, S. 277 u. 284 ff.

7 A. A. Tscliuprow: „Die Feldgemeinschaft", Heft XVIII der Abhandlungen aus dem staatswissen­

schaftlichen Seminar zu Straßburg 1902.

s W. D. Preyer: „Die russische Agrarreform", Jena 1914, S. 43.

* Band I, S. 121 ff.

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der ungeteilte Kommunalbesitz am Boden als die neue Formel der Zivilisation gepriesen, die die Slawophilen den Ostseeprovinzen um so mehr aufzuzwingen trachteten, als sie hier die verhaßten Rechtsgebilde westeuropäischer Lebensformen zu zerstören versprach*. Die rechtliche und administrative Sonderstellung Liv-, Kur- und Est­

lands sollte ja, wie wir wissen, vernichtet, die Gleichheit mit dem russischen Reich in der Organisation, in den Institutionen, Gesetzen, womöglich sogar in der Sprache und im Glauben hergestellt werden 2. Hierzu konnte in der Tat die neue Formel der Zivilisation, wenn verwirklicht, am schnellsten führen, denn sie hätte am radikalsten das Fundament der ostseeprovinziellen Eigenart vernichtet: die deutsche Grundbesitz­

form. Nicht also im Sinne agrarrechtlicher und wirtschaftlicher Erneuerung, sondern im Dienste spezifisch großrussischer politischer Ziele wünschten die Slawophilen den russischen Gemeindebesitz, den „Mir", in den baltischen Provinzen zwangsweise einge­

führt zu sehen 3. Diese durch die Tagespresse vermittelte Strömung war jedoch nicht von langer Dauer, denn gar bald vollzog sich eine große Wandlung in der öffentlichen Meinung Rußlands. Seit der schweren Mißernte des Jahres 1867 wurden immer mehr Stimmen laut, die das Zurückgehen der russischen Landwirtschaft und des bisherigen Volkswohlstandes tief beklagten4. Daher wurde im Jahre 1872 eine große Enquete-Kommission zur Untersuchung der Lage der Landbauern niedergesetzt 5. Die von ihr vernommenen Sachverständigen sprachen sich fast einstimmig dahin aus, daß der Gemeindebesitz mit seinen Umteilungen als wesentliche Ursache der schlimmen Lage der Bauern anzusehen sei, denn der unsichere Besitzstand habe die sorgloseste Bear­

beitung des Bodens zur Folge6. Dieses Ergebnis der sorgfältigen Untersuchung führte selbst die Anhänger des Gemeindebesitzes zu dem Bekenntnis, daß die bisher geprie­

sene großrussische Grundbesitzform die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt habe 7. uVon jetzt an war zwar von der Übertragung des „Mir"8, d. h. des Gemeinde­

1 Adolph Wagner: „Die Abschaffung des privaten Grundeigenturas" Leipzig 1870, S. 23; Johannes v. Keußler: „Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland", I. Teil, 1876, S. 265.

2 Band I S. 173 ff. und Baron C. Recke: „Die baltische Agrarreform und Herr Professor Kawelin", Balt. Monatsschrift 30. Bd., 1883, S. 752.

3 Als Kuriosum mag hier angemerkt werden, daß die Übertragung des russischen Gemeindebesitzes auch auf Livland bereits im Jahre 1803 und zwar von einem livländischen Edelmann, dem Grafen Lud­

wig Anton Münnich, Enkel des russischen Feldmarschalls Burchard Christoph Graf Münnich, bean­

tragt wurde; dieser, dem denkwürdigen Landtage vom Jahre 1803 übergebene Antrag wurde indes keiner Beachtung gewürdigt; Fr. Bienemann: „Der russische Gemeindebesitz als Deliberandum des livl. Landtages", „Baltische Monatsschrift", 30. Band, 1883 S. 834 ff.

4 Julius Eckardt: „Rußlands ländliche Zustände seit Aufhebung der Leibeigenschaft. Drei russische Urteile." Leipzig 1870.

5 Unter dem Vorsitz des Ministers der Reichsdomänen Peter Walujew; siehe Band I, S. 93 ff.

6 Keußler: „Zur Geschichte und Kritik" usw. 2. Teil, 1. Hälfte, 1882, S. 5 und 70.

7 Derselbe: a.a.O. I. Teil S. 269.

8 Wladimir Simkhowitsch: Art. „Mir" im Handwörterbuch der Staatswissenschaft 3. Auflage 1910 Band 6, S. 714 ff.

besitzes mit Feldgemeinschaft, auf die Ostseeprovinzen nicht mehr die Rede, allein die hier organisch erwachsene Agrargesetzgebung blieb dennoch auch weiterhin der Gegenstand heftigster Angriffe, denn die slawische Weltanschauung vermochte sich nun einmal nicht mit der, der baltischen Grenzmark eigenen, agrarischen Struktur germanischen Charakters zu befreunden.

So ist namentlich Juri Samarin \ der an der Ausarbeitung des Emanzipations­

gesetzes für das russische Reich regen Anteil genommen hat und dem die Agrargeschichte Livlands kein unbekanntes Gebiet war, nie müde geworden, wenigstens die Normierung der Pachtpreise und in weiterer Folge die Zwangsablösung des Bauernlandes in den Ostseeprovinzen zu fordern, obgleich er stets ein Gegner der russischen Zwangsent­

eignung gewesen und geblieben ist2. Seine äußerst abfällige Beurteilung der ostsee­

provinziellen, insonderheit der livländischen Agrargesetzgebung, gipfelte in dem an die Regierung gerichteten Vorwurf, daß sie „nach so glücklicher Lösung der Agrar­

frage in Rußland" den Zeitpunkt verpaßt habe, die früher in Livland begangenen Fehler einigermaßen zu verbessern und hier die „Sache mit denselben Augen anzu­

sehen, wie sie im Jahre 1861 auf die inneren Gouvernements des Reiches geblickt habe" 3, d. h. das „sichergestellte Recht der Nutznießung des Bauernlandes in voll­

ständiges Eigentumsrecht zu verwandeln"

Das Verlangen Samarins war also darauf gerichtet: diejenigen Grundsätze des Reichsgesetzes vom 19. Februar 1861, die in Rußland eine „glückliche Lösung der Agrarfrage" gezeitigt haben sollten, auf die Ostseeprovinzen ausgedehnt zu sehen.

Und diese Forderung wagte er in demselben Zeitpunkt zu stellen (1869), da bereits in den russischen Tagesblättern, Wochen- und Monatsschriften liberaler Richtung die Klagen über die schweren Mißerfolge der russischen Bauernbefreiung eine stehende Rubrik bildeten 4.

Ebensowenig jedoch wie Samarins Anschauung von der so „glücklichen Lösung der Agrarfrage" Großrußlands in der russischen Publizistik Bestätigung fand, wurde von dieser dessen Ansicht über die bösen Folgen geteilt, denen die „ohne Land be­

freiten" Zeitpächter livländischer Bauernhöfe ausgesetzt sein sollten. Der als Autorität auf dem Gebiete russischer Agrargeschichte geschätzte Fürst A. Wassiltschikow5

wußte vielmehr die Lage der ostseeprovinziellen Bauernwirte, die ihre Höfe zu eigen

1 Band I, S. 132.

2 Tobien: „Agrargesetzgebung usw." II, S. 235.

3 Julius Eckardt: „Juri Samarin's Anklage gegen die Ostseeprovinzen Rußlands", Übersetzung nebst Kommentar, Leipzig 1869, S. 75.

4 Keußler: a.a.O. 2. Teil 1. Hälfte, S. 200.

5 Fürst Alexander Illarionowitsch Wassiltschikow, geb. am 18./30. Oktober 1818 in Petersburg, war Adelsmarschall von Nowgorod, gehörte 1872 der Walujewschen Kommission (siehe oben S. 38) an, war 1876 Präsident der Petersburger Abteilung des Slawischen Komitees, gest. 14. Oktober 1881. A. S.

Wengerow: ,,Kritisch-biographisches Lexikon russischer Schriftsteller und Gelehrter" Bd. IV, Peters­

burg 1895, S. 176 (russisch).

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erworben hatten, als wohlgesichert zu bezeichnen und die landwirtschaftliche Ent­

wicklung Liv- und Kurlands als der des westlichen Europa gleichwertig zu rühmen Allein als ein echter Slawe, der der Anschauung zu huldigen pflegte, daß jeder Landbewohner ebensogut das Recht auf ein Stück Land, wie auf die zum mensch­

lichen Leben notwendige Atmosphäre habe, beklagte er das Los der unbesitzlichen Landarbeiter in den Ostseeprovinzen und warnte davor,die Höhe der landwirtschaftlichen Kultur in diesem Lande als ein Beweis des Gedeihens der ganzen Landbevölkerung zu erachten. Die Behäbigkeit der Bauernwirte vollends als ein Merkmal des Wohl­

ergehens der gesamten Landbevölkerung anzusehen, wäre, so sagte Fürst Wassilt­

schikow, ebenso fehlerhaft, wie den Gesundheitszustand eines Landes nach der Zahl der Gesunden, ohne die Kranken und Gestorbenen in Rechnung zu ziehen, bemessen zu wollen. Der Hinweis auf die Blüte der Bauernwirtschaft sei gleichbedeutend mit dem auf landwirtschaftlichen Ausstellungen beliebten Verfahren: besonders in die Höhe geschossene Kornhalme zu exponieren, ohne mitzuteilen, wieviele solcher Halme es im Felde gegeben habe. Diese geistreich erscheinenden Äußerungen des Fürsten wurzelten in der slawischen Weltanschauung, daß die germanische individuelle Grund­

besitzform, die in den Ostseeprovinzen Rußlands herrsche, die im Interesse der Ge­

samtheit zu erstrebende Verteilung des Grundbesitzes im allgemeinen und des kleinen im besonderen nicht verbürge. Sie, die das vor Mobilisierung geschützte Bauerngut zeitige, sei ein aristokratisches Gebilde, das zwar die oberen und mittleren Grund­

besitzer in ihren wirtschaftlichen Interessen zusammenschließe, gleichzeitig aber zwi­

schen diesen und den verschiedenen Klassen der bäuerlichen Stellenbesitzer und Landarbeiter eine Kluft schaffe, die ebenso trennend sei, wie die Scheidewand, die einst die Grafen und Barone von den Städtern und Bürgern isoliert habe. Die Folge solcher Differenzierung sei die, daß die landarme oder landlose Bevölkerung in die Städte ziehen müsse, wo sie der Demagogie anheimfalle, während die Eigentümer der Bauern­

güter das konservative Element der Großgrundbesitzer ungesund vermehre. Die hieraus erwachsende Sachlage gestalte sich um so gefahrvoller für den Staat, als die beiden, sich gegenüberstehenden Parteien gleicher Stärke seien. Die germanische individuelle Grundbesitzform sei zwar in landwirtschaftlicher Hinsicht der kollekti­

vistischen, wie namentlich dem großrussischen,,Mir" unbestreitbar überlegen, allein sie stelle doch eine nie versiegende Quelle der Entstehung des ländlichen Proletariats dar.

Der Westen weise daher keineswegs einen größeren Volkswohlstand und eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im allgemeinen auf, als der Osten. In Livland und Estland, wo die Häuslerwirtschaft stetig um sich greife, drohe die Entstehung irländi­

scher Zustände und zwar um so mehr, als die Konsolidation des großen und mittleren Grundbesitzes auf Kosten des Kleingrundbesitzes sich hier ebenso rasch vollziehe, wie in Deutschland. Dort wie überall, wo die germanische Rasse das Übergewicht

1 Fürst A. Wassiltschikow: „Der Grundbesitz und die Landwirtschaft in Rußland und anderen europäischen Staaten", I. Bd. St. Petersburg 1876 (russisch), S. 35, 645—648.

habe, herrsche die Ansicht, daß eine kleine Zahl selbständiger und gesicherter Grund­

besitzer einer großen Zahl landarmer und unversorgter Bauern vorzuziehen sei. Der großrussische „Mir" dagegen bedeute begrifflich eine höhere, vielleicht sogar eine etwas übertriebene Bekräftigung des Eigentumsrechtes und des Familienzusammen­

schlusses. Er unterstelle zwar alle Gemeindegenossen den gleichen Lebensbedingungen, vereinige sie aber andrerseits zur Wahrnehmung ihrer Interessen den Gutsbesitzern und dem Staate gegenüber, gewöhne sie an einheitliche Beurteilung allgemeiner Fragen und lasse doch jedem das Seine zukommen1

Fürst Wassiltschikow gehörte zu denjenigen übereifrigen Anhängern des „Mir", die mehr romantisch-sentimental, als den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend, den in der bäuerlichen Gemeinde waltenden Gemeingeist überschätzten2. Er stellte die soziale Seite des russischen Emanzipationsgesetzes vom 19. Februar 1861 an die Spitze und übersah vollkommen die wirtschaftlichen Schäden, die eine so verzweifelte und schon zu seiner Zeit zugestandene Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft hervorgerufen hatte. Seinen Ausführungen, wie denen seiner Gesinnungsgenossen lag die irrtümliche Meinung zugrunde, daß nur der mit Grundbesitz, wenn auch mini­

malem, ausgestattete Landbewohner kein Proletarier sei, und weil die germanische, auch in den Ostseeprovinzen herrschende Grundbesitzform nicht jedem Landbewohner ein Anrecht auf die Nutzung eines Stückes heimatlichen Bodens zuwies, erschien sie ihm schlechtweg verwerflich.

Ähnlich urteilte Konstantin Kawelin, dessen Anschauungen unserer Berück­

sichtigung wert sind, weil er zu den hervorragendsten Agrarhistorikern Rußlands gehörte 3.

Kawelin rühmte den deutschen Bewohnern der Ostseeprovinzen nach, daß sie als „Anpflanzer europäischer Kultur", und weil sie Rußland die nützlichsten Männer auf allen Gebieten des Wissens und des bürgerlichen Lebens schenkten, sich ein

1 Wassiltschikow: a.a.O. S. 715ff., 732, 751 ff., 777, 833, 837 und 843.

2 Keußler: a.a.O. 3. Teil, 1887, S. 296 ff.

3 Geboren am 4./16. November 1818 in Petersburg, gestorben daselbst am 3./15. Mai 1885, war er einer der bedeutendsten Gelehrten Rußlands, der als Historiker, Jurist und Philosoph hohes Ansehen in seinem Yraterlande genoß. Er studierte in Moskau 1835—1839 die Rechtswissenschaften, trat 1842, weil seine Eltern ihm die Beschreitung der gelehrten Laufbahn, als unaristokratisch, verwehrten, in Petersburg in den Dienst des Justizministeriums, wo er sich dem Kreise der „Westler" anschloß, der bekanntlich die westliche Kultur der östlichen vorzog. Im Jahre 1844 erwarb er an der Universität Moskau den Grad eines Magisters der Rechtswissenschaften und dozierte dort von 1844—1848. Von 1848—1857 diente er wieder in verschiedenen Ministerien in Petersburg und wurde auf Fürsprache der Großfürstin Helene Pawlowna (Band I, S. 144) 1857 Lehrer des Großfürsten-Thronfolgers Nikolai Alexandrowitsch (gestorben 1865) und Professor an der Petersburger Universität, die er verlassen mußte, weil er das Verfahren der Regierung gegen die revoltierenden Studenten mißbilligte. In den Jahren 1862—1877 ohne amtliche Stellung, entwickelte er eine vielseitige Schriftsteller ei und widmete sich dem Brief­

wechsel mit hervorragenden Persönlichkeiten, so z. B. mit Editha von Rahden (Band I, S. 146). Er starb 1885 als Professor der militär-juridischen Akademie in Petersburg. Russisches Biographisches

Lexikon (russisch), St. Petersburg 1897, S. 358—373.

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großes Verdienst erworben hätten, das nie vergessen werden dürfe und eine glänzende Seite in der unparteiischen russischen Geschichtschreibung einnehmen werde1 Allein auch er vertrat in der Beurteilung der ostseeprovinziellen Bauernbefreiung denselben Standpunkt wie Wassiltschikow. Zwar gestand er freimütig zu, daß die Bauernbe­

freiung in den Ostseeprovinzen ,,ohne Sprünge und Erschütterungen und daher glück­

lich" vollzogen worden sei, im Gegensatz zu Großrußland, wo sie einen so „unglück­

lichen Ausgang genommen habe" 2. Er bekannte willig: ein Vergleich der Wirkungen des Emanzipationswerkes hier und dort falle so sehr zugunsten der Ostseeprovinzen aus, daß ein Russe sich „in die Zunge beißen und errötend schweigen müsse" 3. Aber auch er gab dennoch der Überzeugung Ausdruck, daß dank den in Großrußland ein­

gehaltenen Grundsätzen der Bauernbefreiung die Bedingungen für die weitere Ent­

wicklung dort günstigere seien, als in den Ostseeprovinzen. In Rußland werde alsbald die Solidarität zwischen den großgrundbesitzenden Klassen und den Massen der länd­

lichen Bevölkerung leicht und freiwillig zustande kommen und sich als Eckstein in das Gebäude des gesellschaftlichen und politischen Lebens einfügen. Der Staat habe die Leibeigenschaft mit ihren Wurzeln ausgerissen und ihr ein für allemal dadurch ein Ende gemacht, daß jede juristische und ökonomische Abhängigkeit der Bauern und Landarbeiter von den Gutsbesitzern von vornherein zerstört worden sei. In den Ost­

seeprovinzen dagegen sei man bei halben Maßnahmen stehen geblieben, habe nicht die durch die Leibeigenschaft hervorgerufene Krankheit geheilt, sondern nur deren Form geändert. Die früheren anormalen Beziehungen zwischen den großgrundbesitzenden und den niederen Klassen der Landbevölkerung seien in wirtschaftliche Abhängigkeit und in einen sozialen Kampf übergegangen, der als Damokles-Schwert über den be­

sitzenden Klassen schwebe4.

Wie ersichtlich, warf Kawelin der ostseeprovinziellen Bauernbefreiung den Mangel sozialpolitischer Ziele vor, der es zugelassen habe, daß die ganze bäuerliche Bevölkerung nicht durch Zuweisung von Land sichergestellt worden sei. Und „nach den Begriffen des russischen Volkes", sagt er, „ist es ein großes Unglück, weder Haus und Hof, noch Hab und Gut zu besitzen. Einen solchen Unbesitzlichen bemitleiden alle, und jeder­

mann blickt auf ihn von oben herab. Haben wir den Stand solcher besitzloser Arbeiter nötig? Die ungeheure Mehrzahl der russischen Landwirte antwortet zusammen mit mir: nein!" 5.

In diesen Worten gipfelte das abfällige Urteil Kawelins über die Agrarzustände der Ostseeprovinzen, und Wassiltschikow dachte nicht anders.

Seitdem diese beiden, als Autoritäten auf dem Gebiete der russischen

Agrarge-1 K. D. Kawelin: „Die Bauern-Emanzipation und Herr von Samson-Himmelstjerna" „Europäischer Bote" (russisch) V. Band 1883, S. 31 ff., übersetzt von Erwin Bauer, Reval 1883, S. 1.

2 Derselbe: a.a.O. S. 42 des Originals, S. 19 ff. der Übersetzung.

3 A. a. 0. S. 41 des Originals, S. 17 der Übersetzung.

4 A. a. 0. S. 23 ff. der Übersetzung.

5 A. a. 0. S. 55 der Übersetzung.

schichte geltenden Gelehrten in dem Vorhandensein einer großen Anzahl landloser Leute den wesentlichen, genau genommen den einzigen, Mangel des ostseeprovinziellen Befreiungsaktes 1 erkannt zu haben glaubten, erhoben ihre Epigonen häufig und gern dieselbe Anklage. Hierbei verfielen sie jedoch gleich ihren beiden Lehrmeistern in Fehler, die ihren Grund in der russischen Denkweise hatten.

Der eine Fehler war der, daß ihr Urteil über gegebene Zustände weniger aus sachlichen Erwägungen hervorging, als vielmehr das Ergebnis vorgefaßter theoretischer Anschauungen war2. Der zweite Fehler lag im Mangel historischen Sinnes und in der Überschätzung des Wertes theoretischer Konstruktion. Als die Folge aprioristischer Denkweise und des Fehlens historischer Erkenntnis ergab sich die Aufstellung von Forderungen, die praktisch undurchführbar waren. Zu den Postulaten dieser Art ge­

hörte vor allem das der gleichmäßigen Zuweisung von Land an alle Bauern, dessen Erfüllung das Aufkommen eines ländlichen Proletariats verhindern werde, wie die Slawophilen lehrten.

Heute wissen wir, daß diese Lehre klägliches Fiasko erlitten hat, denn die Feld­

gemeinschaft mit ihrem Rechtsanspruch eines jeden Dorf genossen auf ein Grundstück in der Flur, führte in ihrer Konsequenz gerade zur Unterdrückung der Individualität und in weiterer Folge zur Unterbindung der Wirtschaftlichkeit des einzelnen Ge­

nossen. Gab es auch in Rußland keine landlosen Leute, so waren doch die mit Land versorgten Bauern so bettelhaft gestellt, daß sie sich in einer weit größeren Zwangs­

lage befanden, als die Landlosen Livlands, die ihre Arbeit ungehindert überall, wo

lage befanden, als die Landlosen Livlands, die ihre Arbeit ungehindert überall, wo

Im Dokument ALEXANDER VON TOBIEN (Seite 55-65)