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Gutsherr und Bauer als Berufsgenossen

Im Dokument ALEXANDER VON TOBIEN (Seite 65-96)

Wenn auch die livländischen Großgrundbesitzer die von ihnen geschaffene Struk­

tur der Agrarverfassung im großen und ganzen für zweckmäßig erachteten, so waren die führenden Männer, wie wir sehen werden, sich doch darüber klar, daß das Haupt­

element der gegebenen Zustände, die Grundbesitzverteilung, einer Korrektur bedürfe, die jedoch nur im Rahmen zweier Grundsätze zulässig sei.

Der erste Grundsatz war der: jede staatliche Enteignung mit zwangsmäßiger Landverteilung ist verwerflich, weil sie das Privateigentum antastet.

Das zweite Axiom lautete: nur die vom bekannten deutschen Volkswirt Wilhelm Roscher für Mitteleuropa und besonders für den Osten als die wirtschaftlich beste empfohlene Bodenverteilung ist auch den Ostsseeprovinzen angemessen: die Mischung von großen, mittleren und kleinen Gütern, wobei die mittleren überwiegen1.

Die Zersplitterung der größeren Güter würde, das war eine von keiner maßgeben­

den Seite ernstlich bestrittene Ansicht, einen untrüglichen Kultuirückschritt bedeuten:

der Großgrundbesitz vertrete erfahrungsmäßig an erster Stelle den technischen Fort­

schritt in der Landwirtschaft, vermöge in Zeiten der Krisis Kornreserven zu bilden, sei der Arbeitgeber, den die auf Verdienst angewiesene Landbevölkerung gar nicht missen könne, verbürge, wenn kapitalkräftig, eine geordnete Waldwirtschaft und liefere für die Selbstverwaltung des flachen Landes das wertvollste Personal2.

Die in Livland, wie in den baltischen Nachbarprovinzen allgemein festgewurzelte Auffassung, daß der Großgrundbesitz unentbehrlich sei, weil in ihm der Lehrmeister für den bäuerlichen Mittel- und Kleinbetrieb stecke 3, deckte sich vollkommen mit den Erfahrungen Westeuropas, namentlich Deutschlands 4.

Dort gilt ein patriarchalisch verwalteter größerer Landwirtschaftsbetrieb, der vom Eigentümer selbst geleitet wird, als eine unerläßliche Ergänzung der bäuerlichen Einzelhöfe 5. Und Sismondi, der Genfer Sozialpolitiker (1773—1842), erklärt mit

1 Wilhelm Roscher: „Nationalökonomik des Ackerbaues", 13. Auflage von H. Dade, Stuttgart, 1903, S. 221. Aereboe: Agrarpolitik, Berlin 1928, Verl. Parey.

2 E. von Oettingen: „Zur livländischen Agrarfrage", Denkschrift der „Ökonomischen Sozietät", veröffentlicht in der „Baltischen Wochenschrift für Landwirtschaft, Gewerbefleiß und Handel" her­

ausgegeben von der Kaiserlichen Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät", Dorpat, Jahrgang 1906, Nr. 36, und im Bericht über die Verhandlungen der Kaiserlichen Livländischen Gemein­

nützigen und Ökonomischen Sozietät vom Jahre 1906, S. 17 ff.

3 Oskar Grosberg: „Am Ausgange einer kulturträgerischen Mission", Rigasche Rundschau. Nr. 178, vom 13. Aug. 1926, abgedruckt in den „Baltischen Blättern", Berlin, 1. September 1926, Nr. 26.

4 Dr. Carl Johannes Fuchs: „Die Grundprobleme der deutschen Agrarpolitik in der Gegenwart", Stuttgart 1913, S. 19. Aereboe, Agrarpolitik.

5 Le Play (1806—1882) bei:

Heinrich Herkner: „Die Arbeiterfrage", 3. Auflage, Berlin 1902, S. 93.

Recht: „Um die wirtschaftliche und geistige Kultur der Landbevölkerung zu ent­

wickeln, ist eine gewisse Zahl von Landedelleuten wünschenswert. Sie werden als der, nächst den Bauern, wichtigste Stand im Staat betrachtet1" Wer unsere Heimat­

geschichte kennt und vorurteilslos beurteilt, wird sich der Ansicht Sismondis, auf Liv­

land und seine Schwesterprovinzen bezogen, anschließen müssen. Hierzu zwingt schon

•allein der lange und schwere Kampf, den unser Landadel mit dem Zarismus und russi­

schen Nationalismus um die geistige und wirtschaftliche Kultur unseres Bauern­

standes geführt hat. In dieser Hinsicht dachten deutsche, lettische und estnische Heimatgenossen vor dem Umbruch neuester Zeit gleich und ließen sich nicht durch nationale Chauvinisten irre machen, die von den Slawophilen oder der russischen Bureau-kratie im Dienste des Leitsatzes: „divide et impera" aufgepeitscht waren. Demo­

kratisch Gesinnte, die der Lehre: „alles fürs Volk durch das Volk" huldigten, mochten freilich keinen Gefallen daran finden, daß der ostseeprovinzielle deutsche Adel, ebenso wie der Englands, eine Herrenkaste bildete2, die in der inneren Politik des Landes maßgebenden Einfluß ausübte. In der Tat fand die historisch begründete Bedeutung der baltischen Aristokratie ihr Analogon in der englischen. Kein Adel der Welt hat sich noch in der Neuzeit eine sozial so einflußreiche Stellung in den Grenzpfählen seines Landes zu bewahren gewußt, wie der englische und der baltische. So ähnlich indes beide Landstände in ihrer gefestigten einflußreichen Gesellschaftsordnung auch waren, so unterschieden sie sich doch andererseits merklich in ihren Rechten und Gewohnheiten.

Eine von der übrigen Gesellschaft rechtlich losgelöste aristokratische Kaste hat es in England, im Gegensatz zum europäischen Kontinent, nie gegeben. Gleichheit der bürgerlichen Befugnisse ist von jeher Grundprinzip der englischen Verfassung gewesen 3. Die soziale Ungleichheit, die trotzdem den englischen Adel über die anderen bürger­

lichen Gesellschaftsklassen des Inselvolkes hinüberhebt und die formale Rechtsgleich­

heit illusorisch macht, wird durch die außerordentlich feste aristokratische Sitte und den hohen Vermögensstand bedingt. Der englische Adel verfügt über einen unge­

heuren Grundbesitz, der allmählich durch Kauf und Heirat in wenigen Händen vereinigt ist4 Der Landlord lebt auf prachtvollem Herrensitz im Genuß eines fürstlichen Ein­

kommens, denn arm sein heißt in England: „nicht tugendhaft sein" 5. Von keiner geregelten Arbeit beschwert, beschäftigt sich der Landlord mit Jagd, Sport und Politik, ohne zum landwirtschaftlichen Nutzen seines großen Besitzes viel beizutragen. Er hat sich aus einem selbst wirtschaftenden Großgrundbesitzer in einen bloß landwirt­

schaftlichen Großrentner umgewandelt, der die Gebäude, Umfriedungen und ganz große Entwässerungsanlagen herstellen und in Ordnung halten läßt. Im übrigen herrscht

1 Herkner: Ebenda S. 90.

2 Wilhelm Dibelius: „England", 1. Band, 4. Auflage, Leipzig und Berlin 1925, S. 126.

3 Dr. Eduard Fischel: „Die Verfassung Englands", Berlin 1862, S. 37 ff.

4 Dibelius: a.a.O., S. 125.

;5 Fischel: a.a.O. S. 38.

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er über rechtlose, ihres Landes beraubte Landarbeiter und verpachtet seinen Besitz in Parzellen mittlerer Größe. Der Pächter versieht die gesamte Arbeit und trägt das eigentliche Risiko des landwirtschaftlichen Betriebes1. Einen freien Bauernstand gibt es in England nicht mehr. Gemeinheitsteilungen, die berüchtigten „Einhegungen", hauptsächlich aber der Auskauf, haben ihn verdrängt. Der Auskauf, an dem sich das städtische Kapital stark beteiligte, hat besonders im 18. Jahrhundert und nach dem Abschluß der napoleonischen Kriege stattgefunden, dauerte aber bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts fort2. Die entwurzelten Bauern wanderten in die Städte und haben dort das Großstadtproletariat Englands geschaffen3.

Wesentlich anders war die Entwicklung in Liv-, Est- und Kurland. Hier bildete die verwaltungsrechtlich und daher auch gesellschaftlich maßgebende Aristokratie einen enggeschlossenen Kreis, das „Indigenat", dem das Ständerecht vom Jahre 1845 außerordentlich wertvolle Rechte, so namentlich die Landtagsfähigkeit und die Steuer­

hoheit, zugeeignet hatte 4. Die außerhalb dieses engen Kreises stehenden, zwar den rus­

sischen Reichsadel besitzenden, aber nicht dem Indigenat angehörenden „non indigenae"

errangen insoweit, als sie Rittergüter besaßen, freilich nach und nach die meisten Vor­

rechte ihrer bevorzugten Standesgenossen 5, mußten sie aber mit den bürgerlichen und bäuerlichen Eigentümern von Rittergütern teilen, vor denen sie nichts voraus hatten und mit denen sie die gesellschaftlich minder angesehene Klasse der „Landsassen"

ausmachten. Nivellierte auch die Zeit die Vorrechte des Indigenatsadels und traten auch nicht selten ihm Zugehörige durch die Wahl eines bürgerlichen Lebensberufes in den Gelehrtenstand, in den Kreis der Geistlichkeit, oder auch in die Beamten- oder Kaufmannschaft über, so blieb doch immerhin das Band, das die „Indigenen"

oder „Mitbrüder" umschloß, in seiner rechtlichen und gesellschaftlichen Wirkung bestehen.

Anders in England, wo es rechtens ist, daß die einen bürgerlichen Beruf er­

greifenden jüngeren Söhne adliger Häuser den Adelstitel verlieren und eine dem Buchstaben nach zwar bürgerliche, tatsächlich aber zwischen Bürgertum und Adel stehende Mittelschicht bilden 6.

Weit wesentlicher als dieser rein äußerliche Unterschied zwischen dem Adel

1 Dibelius: a.a.O. S. 124.

2 Dr. W. Hasbach: „Die englischen Landarbeiter in den letzten hundert Jahren und die Einhegungen", Band LIX der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Leipzig 1894.

B. Skalweit: „Die englische Landwirtschaft", Heft 37 der Berichte über Landwirtschaft, heraus­

gegeben vom Reichsamt des Innern, Berlin 1915, S. 15 ff.

Professor Dr. M. Sering: „Politik der Grundbesitzverteilung in den großen Reichen", Heft 9 der Veröffentlichung des Königlich-Preußischen Landes-Ökonomie-Kollegiums, Berlin, Parey 1912, S. 14.

3 Dibelius: „England" S. 125.

4 Tobien: „Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrhundert" II. S. 30 ff.

5 Band I, S. 631 und 391.

6 Dibelius: a. a. 0. S. 127.

hier und dort ist jedoch der, daß der baltische Landedelmann und Großgrundbesitzer nicht wie der englische Landlord als Rentner in seinem prachtvollen Schlosse saß und sich ohne eigene Arbeit der Jagd, dem Sport und der Politik hingab. Seit dem Zusammenbruch des altlivländischen Ordensstaates (1561) lebte der baltische Land­

edelmann der Landwirtschaft, der er sich um so mehr mit voller Hingabe widmete, als es galt, das in den fortwährenden Kriegen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts ver­

wüstete Land wieder fruchtbar zu machen und die Bauernschaft hochzubringen. Kein Adel der Welt ist vom Schicksal vor so schwierige Aufgaben gestellt worden, wie der baltische, namentlich der livländische und der estländische, deren Territorien von der Kriegsfurie weit mehr heimgesucht wurden, als das „Gottesländchen" Kurland.

Das der Aristokratie Liv-, Est- und Kurlands beschiedene Geschick ist es aber gerade gewesen, das in ihr nicht minder wie in der Englands die Führernaturen hat erstehen lassen, die dazu berufen und geeignet waren, nicht nur eine lebensfähige Agrarver­

fassung zu schaffen und eine blühende Landwirtschaft ins Leben zu rufen, sondern auch das eigene Volkstum und das seiner Mündel, der Esten und Letten, in dem ihm vom Moskowitertum aufgedrungenen Kulturkampf rein zu erhalten. Dieser große Erfolg ist nicht zum wenigsten dem Umstände zu danken, daß der baltische Adel bis zu dem Zeitpunkt, da die estnisch-lettische Agrarrevolution ihm den Boden unter den Füßen fortzog, auch in den schwersten, durch feindliche Verwüstungen bedingten Zeiten der Not bodenständig und seinem Lebensberuf, der Landwirtschaft, treu ge­

blieben ist. Ganz anders wie der englische Landlord, der räumlich weit entfernt von seinen bäuerlichen Hintersassen „auf fürstlichem Anwesen Hof hält" \ hat der bal­

tische Landedelmann, der Leiter seines landwirtschaftlichen Großbetriebes, den per­

sönlichen Kontakt mit dem Landvolk zu allen Zeiten aufrechterhalten. Er war dessen Lehrmeister nicht nur auf ökonomischem Gebiet, sondern auch in der Kom­

munalverwaltung. Wenn der Este wie der Lette es in der Landwirtschaft und im Gemeindeleben zu etwas gebracht hat, so dankt er das dem deutschen Gutsherrn und dem deutschen evangelisch-lutherischen Pastor, der mit dem Landedelmann Hand in Hand zu gehen pflegte. Der rege Bildungstrieb des Landvolkes bewog den Letten wie den Esten, dem Tun und Treiben auf dem Herrenhof das abzulauschen, was seiner bäuerlichen Wirtschaft bekömmlich sei. Der in der rauhen Schule des Lebens gestählte Charakter des livländischen Bauern befähigte ihn dazu, die praktischen Lehren des gutsherrlichen Großbetriebes auf seinem Hofe und die im Pastorat und in der Kirche vernommenen Unterweisungen in seinem Hause zu verwerten. Bei dieser Führung gedieh er wirtschaftlich und intellektuell so gut, daß die Frage auf­

geworfen werden konnte: ob der gutsherrliche Großbetrieb oder der bäuerliche Mittel­

betrieb intensiver bewirtschaftet werde? Wenn es auch sowohl in Livland wie in Kurland Bauernhöfe gab, die sich nur durch ihren Umfang von den Gutshöfen unter­

1 Dibelius: a.a.O. S. 126.

Tobien, Ritterschaft II. 4

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schieden1, diesen aber in der Kultur des Ackers nicht nachstanden2, ja sogar ein­

zelne, Betriebskapital entbehrende und daher mit „Halbkörnern" oder „Hälftnern" 3

bewirtschaftete Gutshöfe übertrafen, so blieb im Ganzen doch der Großbetrieb dem Kleinbetrieb ökonomisch überlegen. Neue Arbeitsmethoden und moderne Maschinen gelangten zuerst auf den Gutshöfen zur Anwendung, wo Edelvieh in steigendem Maße gehalten, eine rationelle Wiesenwirtschaft betrieben und eine größere Kapitalmenge investiert wurde. Der bedeutende Unterschied in den durchschnittlichen Erträgen an Korn und Hackfrüchten auf den Gutsfeldern einerseits und den Bauernfeldern andererseits sprach schon zu Gunsten der Großbetriebe4. Mehr vielleicht noch wog die Tatsache, daß die Güter 9,05 %, die Bauernhöfe dagegen 21,62 % wilde Weide aufwiesen5. Im Gegensatz hierzu die Behauptung aufzustellen, der Großgrundbesitz Liv- und Kurlands sei kulturfeindlich gewesen, was aus der ihm eigenen geringen Ackerproportion (18,99 %) hervorgehe, die von der der Kleingrundbesitzer (37,62 %) um fast das Doppelte übertroffen werde 6, ist unberechtigt. Ihr liegt eine irrtüm­

liche Berechnung zugrunde. Soll der Kulturstand der landwirtschaftlichen Groß-und Kleinbetriebe einander gegenübergestellt werden, so ist natürlich vom Umfange des landwirtschaftlich genutzten Landes allein, nicht aber vom Gesamtumfange auszugehen, wobei fälschlich Bodenkategorien wie Wald, Sümpfe, Gewässer, Unland, Impedimente (Wege usw.) in die Berechnung einbezogen werden, die mit der Land­

wirtschaft als solcher nichts zu tun haben. Wird in dieser logischen Weise verfahren, so ergibt sich, daß in Livland 45,77 % der Ökonomieländereien auf Acker entfallen, wobei das Bauernland dem Hofslande gegenüber nur um ein Geringes schlechter da­

steht 7 Völlig verfehlt ist es, erst das Verhältnis des Ackers zu Wald und Unland zu berechnen und dann den Schluß zu ziehen: der relativ große Anteil der Ritter­

güter am Unlande rühre von ihrer übermäßigen Größe her 8. Der umgekehrte Schluß dagegen ist der allein richtige, daß der allzugroße Umfang der Rittergüter durch die Zugehörigkeit unproduktiven Landes zu diesen bedingt wurde 9.

1 Oskar Grosberg: „Am Ausgange einer kulturträgerischen Mission", a.a.O.

2 Gustav von Stryk: „Die Landwirtschaft in Livland", veröffentlicht von der Livl. Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät, S. 5.

3 Tobien: „Die Agrargesetzgebung" II, S. 357.

* Hamilcar Baron Foelkersahm: „Die Entwickelung der Agrarverfassung Livlands und Kurlands und die Umwälzung der Agrarverhältnisse in der Republik Lettland". Greifswalder staatswissenschaftliche Abhandlung, Greifswald 1923, S. 54 ff.

5 Foelkersahm: a.a.O. S.58 und Walters: „Lettland", S.201, wo dieselben Zahlen angeführt, doch natürlich zu Ungunsten der Großbetriebe verwertet werden.

6 Dr. F. Mager: „Kurland", Heft 2 der Veröffentlichungen des geographischen Instituts der Albertus-Universität zu Königsberg, Hamburg 1920, S. 68; danach Walters: „Lettland". S.201.

7 Ernst Baron Campenhausen-Loddiger: „Ein Beitrag zur Agrarstatistik Livlands", Riga, 1911, S. 23.

8 Wie Walters: „Lettland" S. 203, Mager folgend, tut.

9 Foelkersahm: a.a.O. S.58.

Ungeachtet ihrer kulturellen Überlegenheit gestaltete sich jedoch die Land­

wirtschaft der Großbetriebe keineswegs rentabler, als die der Kleinbetriebe.

Unter den vor dem Weltkriege gegebenen Bedingungen war eine zureichende Verzinsung des im Landbau investierten Kapitals ausgeschlossen. Der Kornabsatz nach Westeuropa wurde durch die deutschen Kornzölle sehr erschwert, der lokale Absatzmarkt durch die Überschwemmung mit Brotkorn aus dem Gebiet der schwar­

zen Erde, eine Folge der Differenzialtarife russischer Eisenbahnen, nahezu verschlossen.

Der Niedergang der Flachs- und Spirituspreise kam hinzu, kurz, die ostseeprovin­

zielle Landwirtschaft sah sich in ihrer Existenz auf das schwerste bedroht1. In den Großbetrieben ließen sich wohl die Roherträge durch geeignete Maßnahmen, zu denen in erster Linie Entwässerungsanlagen gehörten, steigern, allein die erhöhten Roherträge riefen keine entsprechende Reineinnahme hervor. Der Hauptgrund hierfür war in der rapiden Steigerung der Arbeitslöhne gegeben 2, die ihrerseits durch den Zug der Landbevölkerung in die Stadt bewirkt wurde und viel Anlaß zu Erör­

terungen gab3.

Nicht anders ging es den Mittelbetrieben. Wie die wirtschaftliche Lage des bäuerlichen Hofbesitzers vor dem Weltkriege war, lehrt eine Studie, die den im Kreise Dorpat belegenen Kleingrundbesitz zum Gegenstande hat4. Danach standen die Bauernhöfe im Kreise Dorpat trotz recht günstiger Bodenverhältnisse 5 an der Grenze

•der Rentabilität, weshalb deren Eigentümer ein schweres Durchkommen hatten6. Mußten sich schon die Eigner bäuerlicher Höfe in dem von der Natur nicht übel ausgestatteten Kreise Dorpat empfindliche Beschränkungen auferlegen, so konnte das in denjenigen Teilen Livlands, wo die Bodenverhältnisse ungünstig sind, nicht anders sein 7. In Kurland, das sich eines weit besseren Bodens und namentlich auch eines günstigeren Klimas erfreut8, mochten intensiv betriebene bäuerliche Wirtschaf­

ten besser gedeihen.

In dieser prekären Lage half sich der Großgrundbesitz durch gesteigerte

Milch-1 E. von Oettingen: a.a.O. S. 337.

2 G. von Rathlef-Tammist: „Wirtschaftsgeschichte eines livländischen Gutes, dargestellt in Grund­

lage buchmäßiger Daten von 1880—1914" Dorpat 1914, S. 1 ff.

3 Tobien: „Die Agrarzustände Livlands in der Beleuchtung des Herrn Semzew" Riga, 1908, S. 68 ff.

4 Dr. phil. Alexander Eisenschmidt: „Der Kleingrundbesitz des Kreises Dorpat. Ein Beitrag zur Kenntnis der technischen Organisation und wirtschaftlichen Lage des estnischen Kleingrundbe­

sitzes", Dorpat 1910.

5 Ebenda: S. 35.

« Ebenda: S. 104 und 111.

7 Zu den von der Natur begünstigten Landkreisen gehören die Kreise: Dorpat, Fellin und Wolmar, zu den von der Natur vernachlässigten: Werro, Walk, Wenden, auch teilweise Riga; siehe die Qualität des Ackers bei Campenhausen: „Ein Beitrag zur Agrarstatistik Livlands". Die kartographischen Darstellungen Nr. 7 und 8.

3 M. von Blaese: Obertaxator des kurländischen Kreditvereins: „Skizze der landwirtschaftlichen Verhältnisse Kurlands in „Kurland", Heft 27 der „Schriften zur Förderung der inneren Kolonisation", Berlin 1918, S. 16 ff.

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Produktion, die jedoch nur dort ertragreich war, wo die geographische Lage den Pro­

duzenten einen Absatz der Milch oder ihrer Produkte zu Ausnahmepreisen gestat­

tete1. Daher konzentrierte sich die Landwirtschaft Liv- und Kurlands hauptsäch­

lich auf Futtergewinnung und Viehhaltung. Der baltische, durch keine Agrarzölle geschützte, durch das Differenzialprinzip, das die russischen Eisenbahnkorntarife beherrschte, schier erdrückte Landwirt baute sein Korn, selbst das Winterkorn, haupt­

sächlich nur um des Nutzens willen, den es dem Viehstall brachte. Die in Nord-livland und Estland starke Ausdehnung des Hackfruchtbaues, namentlich die An­

pflanzung von Kartoffeln zu Brennereizwecken, diente mit ihrer Schlempe in erster Reihe dem Viehstall2. Auf dieser Bahn der notgedrungenen Umstellung und Neu­

ordnung der Betriebsmethode ging der Großgrundbesitzer voran und wies dem Kleingrundbesitzer den einzuschlagenden Weg. Er konnte das, weil er kapitalkräf­

tiger war als der bäuerliche Hofbesitzer, und er war kapitalkräftiger, weil er über Waldungen verfügte, deren Erzeugnisse sich dauernd einer guten Konjunktur er­

freuten. So erfüllte der deutsche Rittergutsbesitzer im Baltikum auch eine wirt­

schaftliche Mission und schuf die Grundlage des hohen Kulturzustandes, der dem lettischen Volk einen geachteten Platz unter den Völkern Europas gesichert hat3. Fortpflanzer der von den Rittergütern 4 ausgehenden landwirtschaftlichen Ausbildung war in erster Linie die Elite der Bauernschaft, die Gesamtheit der Eigner von etwa 40 000 Bauernhöfen, der in der stufenweisen Hinüberleitung von der Frone zur Pacht, von der Pacht zum Eigenbesitz eine zwar harte, aber doch vortreffliche Schulung zuteil geworden war5. Dieser in schwerer Arbeit und großer Sparsamkeit gestählten

„Auslese" war der Sinn für rationelle Feldarbeit und Wirtschaftsführung ebenso ins Blut übergegangen, wie die freilich bedächtige Aneignung neuer, von den Gütern aus­

strahlender Methoden. Ergebnis der guten, wenn auch nicht gerade sanften Schu­

lung war, daß, wie der livländische Gouverneur General Sinowjew sich ausdrückte, die Bauernwirte Livlands eine so hohe Stufe des Wohlstandes erreichten, „wie sie für den Bauern eines der inneren Gouvernements auch nicht einmal denkbar ist", Die überaus günstige Entwicklung schrieb er dem Umstände zu, daß die Gutsherren den Bauern für den Auskauf ihrer Pachthöfe Bedingungen gestellt hätten, „wie sie so günstig wohl kaum jemals dem Bauernstande gemacht worden sind" Des weiteren betonte er, daß die beständige Konkurrenz mit der vollkommeneren Wirtschaftsführung der Großgrundbesitzer den Bauern daran gewöhnt habe, seine ganze Kraft auf ma­

terielle Interessen zu konzentrieren. Diese markante Tatsache bezeichnete Sinowjew mit den lapidaren Worten: „Das Fehlen des Gemeindebesitzes hat dem livländischen

1 E. von Oettingen: Denkschrift, S. 24.

2 Stryk: „Die Landwirtschaft in Livland", S.II.

3 Oskar Grosberg: „Am Ausgange einer kulturträgerischen Mission", a.a.O., Sclilußworte.

4 Tobien: „Die Agrarzustände in der Beleuchtung des Herrn Semzew", S. 10.

5 Grosberg: a. a. O.

Bauer die Erkenntnis anerzogen, daß er sich auf niemand zu verlassen habe, als auf sich selbst. Das hat der Entwicklung seines Individualismus und Egoismus Vor­

schub geleistet und hierdurch seine Selbständigkeit erhöht"1.

Aber nicht nur Sinowjew rühmte den Wohlstand der bäuerlichen Aristokratie Livlands, sondern auch im Landvolk selbst wurde die Zeit der fortschreitenden Ab­

Aber nicht nur Sinowjew rühmte den Wohlstand der bäuerlichen Aristokratie Livlands, sondern auch im Landvolk selbst wurde die Zeit der fortschreitenden Ab­

Im Dokument ALEXANDER VON TOBIEN (Seite 65-96)