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Der leibbezogene Raumbegriff

Im Dokument Nebenbei Raum (Seite 37-41)

Umfang und Aufbau

1. Die psychologische Perspektive auf den architek- architek-tonischen Raum

1.1 Ursprünge: der Automatismus der Raumwahrneh- Raumwahrneh-mung

1.1.2 Der leibbezogene Raumbegriff

Um die gleiche Zeit äußert sich der Kunsthistoriker August Schmarsow zum Verhältnis von Körper und Architektur. Auch für ihn steht das persönliche Erleben des Raumes im Mittelpunkt der architektonischen Schöpfung. Wäh-rend für Vischer und Wölfflin der Körper selbst die Grundvoraussetzung der Wahrnehmung ist, so wird bei Schmarsow die Bewegung des eigenen Kör-pers durch den Raum zum zentralen Moment der Raumwahrnehmung:

„Die Ortsbewegung in der dritten Dimension erst bringt uns die Aus-dehnung zum unmittelbaren Erleben. Die Entfernung kann ich ab-schreiten und abtasten, den Raum vor mir kann ich Stück für Stück zu-rücklegen. Nachdem ihn meine vorwärts blickenden Augen schon im Voraus überschaut haben, ordnen sich nun erst beim Durchwandeln die Einzelheiten in ihrem tatsächlichen Abstand zueinander, bewähren nach dem bloßen Augenschein nun erst ihre volle Realität, eben als Körper im Raum wie ich selber.“25

In seinem Bemühen, die Architektur als Kunst zu definieren, widmet sich Schmarsow stärker als Wölfflin der Wahrnehmung des architektonischen Raumes. In dieser Konzentration auf die Architektur als Kunst der „Raum-gestaltung“ entsteht erstmals eine Beschreibung, wie durch den Prozess der Wahrnehmung Raum als eine Anschauungsform entsteht:

24 Wölfflin, Cepl (1999) S.21.

25 Schmarsow (1903) S.104. Vgl. hierzu auch: Hartle (2008) und Schmarsow, Ikonomou (1998) S.13.

„Die psychologische Tatsache, daß durch die Erfahrungen unseres Ge-sichtssinnes, sei es auch unter Beihülfe [sic] andrer leiblicher Faktoren, die Anschauungsform des dreidimensionalen Raumes zu Stande kommt, nach der sich alle Wahrnehmungen des Auges und alle anschaulichen Vorstellungen der Phantasie richten, ordnen und entfalten, - dieser Tat-bestand ist auch der Mutterboden der Kunst, deren Ursprung und We-sen wir suchen.

Sobald aus den Residuen sinnlicher Erfahrung, zu denen auch die Mus-kelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut wie der Bau unseres ganzen Körpers ihre Beiträge liefern, das Resultat zusammen-schießt, das wir unsere räumliche Anschauungsform nennen, - der Raum, der uns umgiebt [sic], wo wir auch seien, den wir fortan stets um uns aufrichten und notwendig vorstellen, notwendiger als die Form un-sers Leibes, - sobald wir uns selbst und uns allein als Centrum dieses Raumes fühlen gelernt, dessen Richtungsaxen [sic] sich in uns schnei-den, so ist auch der wertvolle Kern gegeben, das Kapitel gleichsam des architektonischen Schaffens begründet […]. Raumgefühl und Raum-phantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in einer Kunst; wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurz-weg als R a u m g e s t a l t e r i n bezeichnen.“26

In dieser Konzentration auf das Verhältnis von Betrachter und umgebendem Raum manifestiert sich eine Definition von Raum, welche Johan Frederik Hartle treffend als „leibbezogenen Raumtheorie“ betitelt. Sein Essay „die Räume“ ist einer von zahlreichen Publikationen, welche sich in den letzten Jahren mit der Entstehung dieses heute noch zentralen Raumbegriffs in der Architektur auseinandersetzen. Diese jüngeren Untersuchungen27, deren schiere Anzahl auf die Wichtigkeit dieser Ansätze für die heutige Architek-turtheorie hindeutet, fördern dabei eine Reihe von Beschreibungen der Raumwahrnehmung zu Tage, welche sich untereinander nicht unähnlich sind.

Hartle sieht den Ursprung des leibbezogenen Raumbegriffs bei Wölfflin, wenn er schreibt: „Aufgrund unserer leiblichen Situierung im Raum, so war

26 Schmarsow (2002) S.323-324.

27 Hartle (2008), vgl. hierzu auch: Fecht, Kamper & Albrecht (2000), Wagner (2004),

Mallgra-die These, Mallgra-die sich seit Wölfflin in zunehmender Komplexität mit dem ge-bauten Raum verbindet, nehmen wir jenen (quasi) unmittelbar wahr, indem wir uns bewegen und dabei selbst immer schon räumlich verfaßt sind.“28 Zur Unterstützung zitiert er aus Wölfflins Dissertation: „Um das räumliche Ge-bilde ästhetisch zu verstehen, müssen wir diese Betrachtung sinnlich miter-leben, mit unserer körperlichen Organisation mitmachen.“29

Während bei Wölfflin der Raum dem Betrachter jedoch eher gegenübersteht, wird er bei Schmarsow vom Raum umgeben. Dies ist ein wesentlicher Unter-schied, auf den auch der Architekturtheoretiker Ullrich Schwarz hindeutet.30 Er verweist dabei auch auf die Kritik von Schmarsows Zeitgenossen Her-mann Sörgel, die der Architekt und Kulturphilosoph 1921 in seinem Buch

„Architektur Ästhetik“ veröffentlicht. Sörgel summiert Wölfflins Architek-turdefinition als „Kunst körperlicher Massen“31 und setzt dagegen Schmar-sows „Architektur ist Raumgestaltung“32. Dazu schreibt er: „Die Kunst der körperlichen Massen ist die Plastik. Hier kommt es nur auf die Außenfläche an, hier ist das vorherrschende Gesetz die Konvexität. Anders bei der Archi-tektur, wo das Gesetz der Konkavität zugrunde liegt, und der Kern das ur-sprüngliche ist.“33

28 Hartle (2008).

29 Wölfflin, Cepl (1999) S.11. Dieses Zitat stammt aus einem Zusammenhang, in dem Wölf-flin selbst Johannes Volkelts „Symbolbegriff in der neueren Ästhetik“ analysiert: Volkelt (1876). Hartle schreibt dazu: „Wenn Wölfflin der architektonischen Raumauffassung eine quasimimetische Gestalt gibt, so nicht nur weil Bauwerke beseelt werden und Analogien von Baukörper und eigenem Körper geschaffen werden, sondern vor allem weil die Erfahrung des räumlichen Gebildes eine umfassend leibliche Angelegenheit ist.“ Hartle (2008).

30 Schwarz (2000).

31Wölfflin, Rose (1926) S.63.

32 Sörgel (1998) S.206. Als wörtliches Zitat existiert dieser Ausspruch bei Schmarsow meines Wissens nicht. Allerdings finden sich an verschiedenen Stellen sehr ähnliche Formulierungen.

So z.B. in o.g. Zitat: „[…]wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als R a u m g e s t a l t e r i n bezeichnen.“ Schmarsow (2002) S.324. Oder auch hier: „Und diese Stationen führen von der K ö r p e r b i l d n e r i n , Plastik und Tektonik, zur R a u m g e s t a l -t e r i n , Archi-tek-tur.“ Schmarsow (1903) S.104. Diesen Vergleich von Wölfflins und Schmar-sows Raumbegriff greift auch Kirsten Wagner auf: Vgl. hierzu Wagner (2004).

33 Sörgel (1998) S.206. Vgl. hierzu auch: Schwarz (2000) S.82.

Schließlich findet sich auch bei Theodor Lipps - dem letzten starken Vertre-ter der Einfühlungstheorie - eine Beschreibung, welche von einem im Raum befindlichen Betrachter ausgeht:

„Hier interessiert uns nun aber noch speziell der irgendwie geformte körperliche, d.h. der begrenzte dreidimensionale Raum. Dieser kann ausgefüllt sein oder leer. Ist er ausgefüllt, so ist auch die Masse, abgese-hen von der Form, lebendig; umgekehrt ist aber auch die Form des geo-metrischen Körpers lebendig, abgesehen von seiner Ausfüllung. So ist etwa der von den Wänden eingeschlossene Raum lebendig. Er ist es ganz und in allen seinen Teilen.“34

Wird der Betrachter, wie hier beschrieben, IN den Raum gestellt, so folgt daraus, dass Raum als ein Hohlraum oder Volumen beschrieben wird, wel-ches den Betrachter umgibt und dessen Wahrnehmung unmittelbar im Wechselspiel zwischen Nervensystem und Form und Struktur der Architek-tur hervorgebracht wird.

Die beiden hier beschriebenen, aus der Einfühlungstheorie hervorgegange-nen Aspekte - die leibliche Unmittelbarkeit des Wahrnehmungsprozesses und der darauf aufbauende, leibbezogene Raumbegriff - bilden eine wichtige Grundlage für die Architekturpsychologie generell und damit auch für vor-liegende Arbeit. Dass sie aus heutiger Sicht eine Selbstverständlichkeit des architektonischen Raumbegriffs bilden zeigt, dass sie sich auch in der Archi-tekturtheorie verwurzelt haben.35 Sie sind eine logische Folge der physiologi-schen und psychologiphysiologi-schen Forschungen des ausgehenden 19. und begin-nenden 20. Jahrhunderts. Die Erkenntnisse zu den unmittelbaren

34 Lipps (2003) S.159.

35 Dazu schreibt Ullrich Schwarz: „Auf den ersten Blick mag es trivial erscheinen, den Raum als zentrales Moment des Architektonischen zu thematisieren, unterstellt das heutige All-tagsverständnis fast schon eine selbstverständliche Implikation des Räumlichen im Architek-tonischen. Die wissenschaftliche Literatur ist sich allerdings weitgehend einig in dem Urteil, dass die Kunstgeschichte und die Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts die Kategorie des Raumes als selbständige entweder gar nicht kennen oder zumindest nicht als Leitkategorie einsetzen.“ Schwarz (2000) S.82. Dieses Zitat führt auch Kirsten Wagner an. Vgl. hierzu:

chen Aspekten des Wahrnehmungsvorgangs zogen es nach sich, dass auch architektonischer Raum als ein Gesprächspartner des Körpers betrachtet wurde. Mit dem schwindenden Einfluss der Psychologie auf die Ästhetik und die Architekturtheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden diese Aspekte unter anderen Gesichtspunkten weitergedacht, stehen aber selbst nicht mehr im Fokus der Forschung.

1.1.3 Das Überschreiben der leibbezogenen Raumtheorie

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