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Das Überschreiben der leibbezogenen Raumtheorie In der Literatur finden sich unterschiedliche Begründungen dafür, warum

Im Dokument Nebenbei Raum (Seite 41-48)

Umfang und Aufbau

1. Die psychologische Perspektive auf den architek- architek-tonischen Raum

1.1 Ursprünge: der Automatismus der Raumwahrneh- Raumwahrneh-mung

1.1.3 Das Überschreiben der leibbezogenen Raumtheorie In der Literatur finden sich unterschiedliche Begründungen dafür, warum

chen Aspekten des Wahrnehmungsvorgangs zogen es nach sich, dass auch architektonischer Raum als ein Gesprächspartner des Körpers betrachtet wurde. Mit dem schwindenden Einfluss der Psychologie auf die Ästhetik und die Architekturtheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden diese Aspekte unter anderen Gesichtspunkten weitergedacht, stehen aber selbst nicht mehr im Fokus der Forschung.

1.1.3 Das Überschreiben der leibbezogenen Raumtheorie

greift auch Hartle auf. Er beschreibt am Beispiel von Siegfried Giedions

„Raum, Zeit, Architektur“37, wie der Haupttheoretiker der Moderne und gleichzeitig Wölfflin-Schüler den Bewegungsraum seines Lehrers weiter-denkt und ihn zu einem Verkehrsraum entwickelt. Tatsächlich lässt sich Hartles Analyse an zahlreichen Planungen und Visionen moderner Archi-tekten zu „autogerechten Städten“ nachvollziehen. Der zunehmende Ver-kehr der Stadt bringt automatisch funktional-räumliche Anforderungen mit sich. Mit dem Raumbegriff der Einfühlungstheorie hat dieser Verkehrsraum nicht mehr viel zu tun.

Daneben widmet sich Hartle einem weiteren Hauptthema der Moderne, den sozialen Aspekten von Raum: Auch hier überschreibe die hereinbrechende Moderne, die sich den Wohnbedingungen der breiten Masse und damit auch dem Thema sozialen Wohnungsbaus widmete, den zweckfreien psychologi-schen Raumbegriff mit gesellschaftspolitipsychologi-schen Aspekten:

„Durch die avantgardistische Architekturtheorie mit ihrer Besinnung auf soziale Funktionen erfährt das Denken räumlicher Gestaltung eine soziale Konkretion, die ihm im Ästhetizismus am Ende des 19. Jahrhun-derts fehlt und die auch in der ursprungsphilosophischen Pointierung von ›Raum‹ aus dem Blick gerät.“38

Ein weiterer Grund für die Sackgasse, in der sich die psychologische Raum-theorie in dieser Zeit wiederfand, kann im Subjektivismus gesehen werden.

Dieser bezog sich einerseits auf die Betrachtungsweise, andererseits aber auch auf den Anspruch an Allgemeingültigkeit, der in der Literatur der Ein-fühlungstheoretiker oftmals formuliert wird. Bei Robert Vischer ist das äs-thetische Empfinden davon abhängig, dass ich im betrachteten Objekt die gleichen Organisations- und Gestaltungsprinzipien wiedererkenne, die auch dem menschlichen Körper zugrunde liegen:

37 Giedion (1965) .

„Worauf aber beruht nun angesichts von festen Formen und abgesehen von ihrer Helligkeit und Farbe die Verschiedenheit der Zuempfindung?

Ich glaube, man darf dreist antworten: auf der Ähnlichkeit oder Unähn-lichkeit des Objektes zunächst mit dem Bau des Auges, weiterhin aber mit dem Bau des ganzen Körpers. Die horizontale Linie ist befriedigend, weil unser Augenpaar eine horizontale Lage hat.“39

In dieser Art der Argumentation skizziert Vischer konsequent eine Kategori-sierung von Formen, Farben und Verhältnissen, welche dem Bau des

menschlichen Körpers entsprechen und uns deshalb angenehm erscheinen:

In rhythmisch durch ähnliche Elemente gegliederten Räumen würden wir unsere eigenen harmonischen Bewegungen wiedererleben. Ein Kreis sei des-halb angenehm, weil er rund ist wie unser Auge. Und schließlich könne ein Traum von einer Spinne im Dach unseres Hauses zu Kopfweh führen.40 Auf-gabe des Künstlers könne es also nur sein, Formen zu schaffen, die uns diese Einfühlung aufs Beste ermöglichten und dadurch Werke zu schaffen, welche die Göttlichkeit des Universums in Form übersetzten.41 Eine Argumentati-onsweise, die zu solchen Aussagen kommt, wirkt aus heutiger Sicht aufgrund fehlender Nachweise und Referenzen spekulativ und subjektiv.

Ähnlich wie Vischer argumentiert auch Wölfflin in seiner Bewertung von schlechter und guter Gestaltung. Ein messbarer Maßstab der Bewertung von Architektur ist für Wölfflin die Atmung:

„Kräftige Säulen bewirken in uns energische Innervationen, nach der Weite oder Enge der räumlichen Verhältnisse richtet sich die Respirati-on, wir innervieren, als ob wir diese tragenden Säulen wären und atmen so tief und voll, als wäre unsre Brust so weit wie diese Hallen, Asymmet-rie macht sich oft als körperlicher Schmerz geltend, uns ist, als ob uns ein Glied fehlte oder verletzt sei, ebenso kennt man den unleidlichen Zu-stand, den der Anblick gestörten Gleichgewichts hervorruft usw.“42

39 Vischer (2007) S.44.

40 Vischer (2007) S.45-46, S.48.

41 Vischer (2007) S.63-64.

42 Wölfflin, Cepl (1999) S.12.

Den von Vischer angeführten Formkriterien wie Symmetrie und Harmonie kommt bei Wölfflin keine Bedeutung zu. Ein symmetrischer Würfel bei-spielsweise ist für ihn dumm, plump und gutmütig. Seine Seiten seien alle gleich lang, er wolle nichts, strebe nirgendwohin. Der goldene Schnitt hinge-gen stellt für ihn das ideale Verhältnis zwischen Ruhe und Streben dar.43 Seine Bewertungen sind dabei oftmals absolut und bedürfen offenbar keiner weiteren Rechtfertigung. Wie wenn er beispielsweise schreibt: „Es ist wichtig, sich klar zu machen, daß eine Pressung niemals ästhetisch wirksam sein kann.“44

Diese überaus allgemeingültig formulierten Bewertungen weisen auf den erzieherischen Auftrag hin, welcher den Künsten in dieser Zeit beigemessen wurde. Es scheint als komme dem Künstler aufgrund seiner besonderen Fä-higkeiten die Aufgabe zu, die Masse der Menschen zu Gutem und Schönem zu erziehen. Bei Wölfflin findet sich dazu die befremdliche Feststellung:

„In diesem psychologischen Tatbestand ist die Verwandtschaft des mo-ralischen und des ästhetischen Gemütszustands begründet. Das ‚Mitlei-den‘, das jener voraussetzt, ist psychologisch der gleiche Prozess, wie das ästhetische Mitfühlen. Daher sind große Künstler bekannter Weise im-mer auch ‚gute Menschen‘, d. h. dem Affekt des Mitleids in hohem Gra-de unterworfen.“45

Für eine seriöse Unterstützung solcher Postulate fehlten zu dieser Zeit si-cherlich auch die heutigen Forschungswerkzeuge, welche eine experimental-psychologische, empirische Erforschung des Wahrnehmungsvorgangs im Gehirn ermöglicht hätten. Folglich wird die Einfühlungstheorie an dieser Stelle in hohem Maße spekulativ und ist mit den heutigen Ansprüchen an eine wissenschaftliche Argumentation auf der Grundlage von aussagekräfti-gen Beweisen unvereinbar.

43 Wölfflin, Cepl (1999) S.26f.

44 Wölfflin, Cepl (1999) S.37.

Diese Kritik liegt auch Edmund Husserls phänomenologischem Ansatz zu Grunde, der in der Philosophie die Wahrnehmungs- und damit auch die Raumtheorie der Einfühlung ablöst. Diesen Übergang thematisieren Thomas Friedrich und Jörg H. Gleiter in ihrer Textsammlung zur Einfühlung und Phänomenologie:

„Aus der Erfahrung stammende Gesetze, wie die der empirischen Psy-chologie, resultieren aus induktiver Verallgemeinerung von Einzeltatsa-chen der Erfahrung, das heißt ihr Charakter ist vage und ein Anspruch auf Notwendigkeit nicht gegeben. Die Gesetz der Logik aber, wie sie zum Beispiel in der Mathematik gegeben sind, haben dagegen den Geltungs-anspruch apodiktischer Evidenz.“46

Um seine Kritik zu verdeutlichen, zieht Husserl einen Vergleich zwischen dem Gehirn und einer Rechenmaschine. Diese funktioniere zwar nach be-stimmten mechanischen Regeln, die aber nicht die Arithmetik erklären könnten, für deren Ausführung die Maschine gebaut worden sei. Insofern könnten die Regeln, nach denen das Denken verläuft, so wie es die Psycholo-gie untersuche, nicht die Normen des Denkens erklären.47 Diese Kritik wird auch in den eigenen Reihen der Psychologen wahrgenommen, wie sich der Gestaltpsychologe Kurt Koffka später erinnert:

„How could […] the laws of sensation and association, which then com-posed the bulk of scientific psychology, ever explain the creation or

46 Friedrich, Gleiter (2007) S.20.

47 „Das Beispiel der Rechenmaschine macht den Unterschied völlig klar: Die Anordnung und Verknüpfung der hervorspringenden Ziffern wird naturgesetzlich so geregelt, wie es die arithmetischen Sätze für ihre Bedeutung fordern. Aber niemand wird, um den Gang der Maschine physikalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze heran-ziehen. Die Maschine ist freilich keine denkende, sie versteht sich selbst nicht und nicht die Bedeutung ihrer Leistungen.“ Husserl (1980) S.67-68. Vgl. hierzu auch: Friedrich, Gleiter (2007) S.21.

joyment of a work of art, the discovery of truth, or the development of a great cultural movement like that of the Reformation?“48

Die Unzufriedenheit mit der Aussagekraft ihrer Disziplin, die daraus auch für die Psychologen resultierte, führt Koffka als einen maßgeblichen Grund für die Entstehung der Gestalttheorie an, von welcher hier noch ausführli-cher die Rede sein wird.

Husserl hingegen löst den Konflikt, indem er mithilfe seiner „phänomenolo-gischen Reduktion“ die Welt der real existierenden Dinge ausklammert und nur die Phänomene betrachtet, wie sie uns erscheinen. Die Phänomenologie, die Husserl dadurch begründet, verlagert das Interesse auf den Erkenntnis-gewinn durch das Denken. Während dabei die Wahrnehmung weiterhin eine zentrale Rolle spielt, tritt der unmittelbare Wahrnehmungsprozess - die Verarbeitung von Reizinformationen durch das Nervensystem - als eine ausgeklammerte Grundbedingung in den Hintergrund der Betrachtungen.49 Aus heutiger Sicht ist offensichtlich und wird sich auch im Folgenden zeigen, dass sich die Psychologie nach den 1920er Jahren zwar weiterhin als Wissen-schaft behauptet. Ihre breite Ausstrahlung, insbesondere auf die philosophi-sche Disziplin der Ästhetik und die Architekturtheorie verliert sie jedoch vorerst. Die hier in Kürze erörterten Gründe dafür lassen sich so zusammen-fassen, dass von der Untersuchung der menschlichen Psyche durch empiri-sche Methoden keine wesentlichen Impulse für die Lösung der anstehenden

48 Koffka (1935) S.19. Übersetzung durch den Verfasser: „Wie könnten […] die Gesetze der Empfindung und Assoziation, die damals den Großteil der wissenschaftlichen Psychologie ausmachten, jemals die Erschaffung eines Kunstwerks, die Freude daran, die Entdeckung von Wahrheit oder die Entstehung einer bedeutenden kulturellen Bewegung wie der Reformation erklären?“

49 Vgl. hierzu: Friedrich, Gleiter (2007) . An anderer Stelle beschreibt Husserl sein Denkmo-dell so: „Wir bewegen uns ja im Rahmen der phänomenologischen Reduktion, in dem alle objektive Wirklichkeit und objektive Kausalität ‚eingeklammert‘ ist. Nicht die als Wirklichkeit hingenommene Welt mit ihren animalischen Wesen und ihren Kausalitäten, sondern nur die Phänomene davon, die Dingphänomene, die Menschenphänomene usw. in ihrer

Intentionali-theoretischen und praktischen Herausforderungen mehr erwartet werden konnten. Diese Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus auf andere Aspekte des Raums bringt es mit sich, dass die Beschäftigung mit der Interaktion zwischen Nervensystem und räumlicher Umgebung in der Architektur in den Hintergrund tritt. Weder in der Architekturtheorie noch in der Psycho-logie lassen sich danach nennenswerte Versuche finden, den Bereich der Raumwahrnehmung weiter zu untersuchen. Eine Ausnahme bildet dabei Rudolf Arnheim, der als Schüler der Berliner Gestaltpsychologen der expe-rimentellen Psychologie treu bleibt und seine Kunst- und später auch Archi-tekturpsychologie systematisch auf deren empirischen Untersuchungen auf-baut.

Im Dokument Nebenbei Raum (Seite 41-48)