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Vorgehen bei der Auswahl und Technikimplementierung

7.8 Kurzporträts: Dokumentation und Künstliche Intelligenz

7.8.1 Kurzporträt Dokumentation: „Os amigos de Sempre“, Portugal

Beim portugiesischen „Os Amigos de Sempre“ („Freunde für immer“) handelt es sich um eine kommunale sozial-wirtschaftliche Einrichtung in dem Ort São João da Talha im Großraum Lissabon, die im Jahr 2009 gegründet wurde und einen Schwerpunkt ihrer Aufmerksamkeit auf die soziale In-tegration und Teilhabe der Pflegeempfangenden legt. Zu den Angeboten der Einrichtung gehören stationäre Pflege, Tages-pflege und die Unterstützung älterer Menschen im eigenen Haushalt sowie Angebote für Familien in herausfordernden (Pflege-)Situationen. Die stationäre Pflege umfasst 20 Dop-pel- und sechs Einzelzimmer. Von den insgesamt rund 50 Pflegeempfangenden sind weniger als zehn lediglich leicht in ihrer Selbstständigkeit beeinträchtigt, während die weite-ren etwa jeweils zur Hälfte mittel bzw. stark unterstützungs-bedürftig sind.

Die rund 40 Pflegefachpersonen sind zu 90 Prozent Frauen und zu 10 Prozent Männer. Der Anteil ausländischer Fach-personen liegt bei rund einem Drittel, der von Vollzeitstel-len bei 100 Prozent.

Mit Blick auf die Ausbildung (Dzhankarashvili Lemos da Silva Alves Vieira 2017) zeigt sich das folgende Bild: Rund 10 Pro-zent der Beschäftigten verfügen über das höchste Niveau 4 (1.200 Stunden Ausbildungsdauer), fast 80 Prozent über Ni-veau 3 (900 Stunden) und gut 10 Prozent über NiNi-veau 2 (500 Stunden). Das niedrigste Niveau 1 (300 Stunden) ist nicht vertreten.

Die Einrichtung „Os Amigos de Sempre“ setzt seit dem Jahr 2016 eine digitale Pflegedokumentation ein; diese er-folgt mittels einfach zu bedienender, dezentral installier-ter Touchscreens. Die Pflegefachpersonen wurden in die be-darfsbezogene Auswahl des Systems und seine Einführung einbezogen und dabei vom Hersteller begleitet. Bestehende Prozesse wie die Übergabe wurden an die neuen, technisch gestützten Möglichkeiten angepasst, ebenso wurden techni-sche Schulungen vorgenommen.

Die Geschäftsführerin der Pflegeeinrichtung beschreibt die Effekte des Systems im Interview als sowohl qualitativ wie auch quantitativ signifikant. Durch die integrierte und

pa-heres Maß an persönlicher Zuwendung und Betreuung er-griffen werden.

Mit Hilfe der Datenerfassung und Visualisierung ist es dem Pflegepersonal möglich, die pflegebedürftigen Personen in einer Pflegeeinrichtung zu lokalisieren und/oder zu iden-tifizieren, indem Änderungen der körperlichen Aktivität in Echtzeit erkannt werden. Darüber hinaus werden die Steue-rungszentrale (PC) und die entsprechende Smartphone-App zur Darstellung der durch maschinelles Lernen verarbeite-ten Daverarbeite-ten verwendet. Ziel ist nicht nur die Echtzeiterfassung des individuellen Zustands. Personen, die aufgrund eines sich verschlechternden Zustands pflege- und hilfsbedürftig sind, können auf diese Weise anhand der vom Armband er-fassten Sensordaten identifiziert werden, aber ebenso ist es auch möglich, den Personaleinsatz bedarfsspezifisch zu pla-nen, damit Personen mit einem prognostizierten Risiko eine sofortige Versorgung und/oder ein hohes Maß an Aufmerk-samkeit erhalten, während Menschen, denen es gemäß der KI-basierten Datenanalyse gut geht, mit einer geringeren In-tensität auskommen können. Insbesondere in Zeiten hoher Belastung des Pflegepersonals (z. B. die Covid-19-Pandemie) könnte dies zu einer psychischen und physischen Entlastung führen, indem die Arbeitsbelastung der Pflegenden reduziert und das Stressniveau mittels des Fernmonitorings deutlich gesenkt wird. Die prädiktive Datenanalyse ermöglicht es, Prioritäten auf der Grundlage individueller/kollektiver Ge-sundheitszustände und der damit verbundenen Bedürfnisse zu setzen. Auch wenn es im Rahmen des vorliegenden Por-träts nicht möglich war, eine evidenzbasierte Überprüfung diese Kausalkette vorzunehmen, lässt sie eine hohe Plausi-bilität erkennen.

Das auf den beschriebenen Technologien beruhende Sys-tem wurde ursprünglich für Pflegeeinrichtungen entwickelt.

Erste stationäre Pflegeheime in San Francisco (USA) und Yo-kohama (Japan) haben das System als Pionieranwender ein-geführt. Parallel dazu haben sich zwei weitere Anwendungs-bereiche herausgebildet:

• Der erste ist die Integration in häusliche und ambulante Pflegeeinrichtungen. Hier können die genannten Tech-nologien insbesondere zur Ermittlung und Bewertung der ADL älterer Menschen eingesetzt werden, die prinzipiell ein eigenständiges Leben führen können oder zumindest nicht so stark eingeschränkt sind, dass sie einer ständi-gen Pflege/Betreuung bedürfen. In der ambulanten Pflege hilft die prädiktive Mustererkennung, durch frühzeitige Hinweise auf sich abzeichnende risikobehaftete

Kom-7.8.2 Kurzporträt Künstliche Intelligenz in der Pflege, USA

Die hier vorgestellten Technologien, die von einem im Jahr 2016 in San José, Kalifornien, gegründeten Unternehmen ge-nutzt werden, zielen darauf ab, den Gesundheits-/Fitness-status einer pflegebedürftigen Person durch Analyse der kör-perlichen Muster bei Routineaktivitäten des täglichen Lebens (ADL), wie Essen, Körperpflege, Schlafen und Bewegung, zu ermitteln. Die Datenanalyse und der Algorithmus des ma-schinellen Lernens ermöglichen die Prognose von Verände-rungen des Gesundheits-/Fitnessstatus; der Vorhersagehori-zont beträgt ein bis vier Wochen. Zur Durchführung solcher Analysen werden Sensorarmbänder in der Größe und Form einer Armbanduhr, eine Plug-and-play-Kommunikations-box für die drahtlose Verbindung und die Datenübertragung sowie ein cloudbasierter Server für die Datenbank und die Datenauswertung mittels künstlicher Intelligenz genutzt.

Die Daten können auch über eine Smartphone-App verar-beitet, aggregiert und angezeigt werden.

Das genutzte Sensorarmband ist preisgünstig, wasserdicht und stoßfest. Es kann ohne Batteriewechsel bis zu zwei Mo-nate ohne Unterbrechung verwendet werden. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Nutzung durch Patient:innen und Senior:innen, da herkömmliche Smart Watches und Fit-nessarmbänder in der Regel nach einigen Tagen wieder auf-geladen werden müssen – eine Anforderung, die von vie-len pflege- und hilfsbedürftigen Menschen nur schwer zu erfüllen ist. Die Daten werden mit Hilfe eines Beschleuni-gungssensors erfasst, der die körperliche Aktivität misst und spezielle Muster der ADL wie das Essen (typische Armbewe-gungen beim Portionieren der Nahrung und der Zuführung zum Mund) erkennt. Darüber hinaus ist eine Notruffunk-tion integriert und eine Lokalisierung über Bluetooth/WLAN möglich. Durch die Beurteilung typischer Aktivitätsmuster auf der Grundlage maschinellen Lernens werden ADL-Pro-file für die mit dem Armband ausgestattete Person erstellt.

Über eine Vergleichsreihe der in Echtzeit aktualisierten Pro-file über einen bestimmten Zeitraum lassen sich Abweichun-gen vom berechneten Normalzustand erkennen, die auf eine sich vollziehende Zustandsänderung hinweisen. Auf diese Weise entdeckt das System selbst kleine Anomalien, die als Zeichen einer Verschlechterung des Gesundheitszustands für das Pflegepersonal aufgrund wechselnder Betreuungen oder Schichtbetriebs oft nicht wahrnehmbar sind. Je nach Status-veränderungen und individuellen Bedingungen können dann Maßnahmen wie medizinische Compliance, Akut-/Präventi-onstherapie, spezielle Trainings und Übungen sowie ein

hö-ihrer körperlichen Aktivität während der Aktivitäts- und Ruhephasen innerhalb eines Zeitraums von 24 Stunden.

Die Kombination von Remote-Technologie, Künstlicher Intelligenz und Analytik bietet funktionelle Werkzeuge zur Beurteilung pflegebedürftiger Patient:innen. Derar-tige Lösungen können in Zukunft eine Rolle spielen, um eine wirksame Telemedizin bei der Vorhersage des klini-schen Ergebnisses von Patient:innen zu erleichtern, die eine genaue Überwachung benötigen, z. B. nach der Ent-lassung aus dem Krankenhaus.

Schlussfolgerungen

Die beschriebenen Technologien und Systeme demonstrie-ren den Nutzen von Künstlicher Intelligenz und Datenana-lyse in der Patienten und Krankenpflege. Insbesondere die Fähigkeit, klinische Ereignisse durch Messung der körper-lichen Aktivität vorherzusagen, ist ein Schritt in Richtung prädiktive Gesunderhaltung und Prävention. Technisch ge-sehen geht es hier um kostengünstige Methoden und prakti-sche Konzepte, bei denen physikaliprakti-sche Parameter Hinweise auf zukünftige klinische Ergebnisse liefern (Erhalt oder Ver-schlechterung des Gesundheitsstatus). Die Daten basieren auf körperlicher Aktivität, auf deren Grundlage sensitive und spezifische Modelle Muster und ihre Dynamik abbilden kön-nen; auf diese Weise können sie objektive Hinweise auf Ano-malien und Interventionsbedarf liefern. Dennoch sind solche Systeme möglicherweise nicht für alle Patient:innen geeig-net – wenn es um Aktivitätsmuster geht, können bestimmte Personen mit Demenz aufgrund ihrer besonderen Gewohn-heiten und ihres Verhaltens aus dem verwendeten Analyse-schema fallen.

Nach unserer Einschätzung – die nicht durch eine prakti-sche Fallstudie vor Ort untermauert wird, sondern auf Schil-derungen zur Funktionsweise der Technologien in der Praxis und auf Plausibilität beruht – dürfte das Entlastungspoten-zial für professionell Pflegende im stationären und ambulan-ten Bereich sowie für pflegende Angehörige als signifikant einzustufen sein. Ein umfassendes und systematisches Vor-gehen in der (Gesundheits-)Versorgung mit starker Berück-sichtigung der individuellen Bedürfnisse ist möglich, wenn ein „fragiler“ Status mehr Pflege bzw. Betreuung erfordert als ein „stabiler“. Mit einer raschen und sofortigen Benach-richtigung der pflege-/unterstützungsbedürftigen Personen können Pflegeschichtpläne und Familienpflege im Voraus angepasst werden, um die gesamte physische und psychische Belastung zu reduzieren.

plikationen im Vorfeld unterstützende bzw. interventive Maßnahmen zu ergreifen. Die Muster können vom Pfle-gepersonal oder von pflegenden Angehörigen leicht er-kannt werden. Die Online-Überwachung und Analyse der ADL durch KI / maschinelle Lernverfahren kann das Si-cherheitsempfinden für die Betreuenden und Angehö-rigen über eine Echtzeit-Smartphone-App („Ich kann sehen, dass es meinen Eltern insgesamt gut geht“) er-höhen und ermöglicht es, die Aktivitäten der betreffen-den Personen rund um die Uhr nachzuvollziehen („Ich muss nicht um zwei Uhr nachts umherhetzen, weil ich in Sorge bin und überprüfen will, ob alles in Ordnung ist“).

Ähnlich wie in einer stationären Pflegeeinrichtung kön-nen auch professionelle Pflegekräfte in der ambulanten Pflege von der Technologie profitieren, da es möglich ist, diejenigen Personen zu identifizieren, die eine persönli-che Betreuung benötigen. Dies kann zu einer erheblipersönli-chen Verringerung von Stress führen, insbesondere in aktuel-len Engpasssituationen (hoher Krankenstand des Pflege-personals o. Ä.).

• Die zweite Anwendung, für die die Technologien genutzt werden können, bezieht sich auf die klinische Versor-gung von Patient:innen, die sich in der Entlassung und im Übergang ins häusliche Umfeld befinden. Derzeit (Stand Sommer 2020) wird an der Universität Stanford eine ent-sprechende klinische Studie durchgeführt, um entlassene Patient:innen zu Hause zu überwachen. Die fortgeschrit-tene Analytik und ein Algorithmus für maschinelles Ler-nen zur körperlichen Aktivität bewerten den Status dieser Personen auch hier in Echtzeit, um im Falle von Kompli-kationen im häuslichen Umfeld eine gezielte Interven-tion einzuleiten. Das System kann Fehlalarme reduzieren und Hinweise für Familienmitglieder liefern (Zustands-darstellung via App), um das Krankenhaus im Falle einer Verschlechterung des klinischen Zustands zu alarmieren.

Der quantitative, datengesteuerte Ansatz zur Aufzeich-nung und Analyse der körperlichen Aktivität durch das technische System ermöglicht Prognosen des klinischen Ergebnisses; derartige Abschätzungen mittels Telefon- oder Videoanruf sind für Familienmitglieder und auch für medizinisches Fachpersonal schwierig, zeitaufwendig und nur ungenau möglich. Die hier beschriebene Tech-nologie ermöglicht die zielgenaue Identifizierung derje-nigen Patient:innen, bei denen eine hohe Wahrschein-lichkeit besteht, dass sie innerhalb der nächsten 14 Tage ernsthafte gesundheitliche Probleme bekommen wer-den, und zwar auf der Grundlage einer Mustererkennung

Da die Technologien das Potenzial besitzen, möglicherweise sehr weitgehende Auskünfte über den zukünftigen Zustand eines bedürftigen Menschen zu machen, muss es für jeden Einzelfall ein strenges Regime für Datenschutz und -nut-zung geben: Wer darf welche Art von Daten und von wem verwenden? Die Fähigkeiten der Datenanalyse und der KI ebnen den Weg zu neuen digitalen Pflegeumgebungen, er-fordern aber auch umfassende Schutzmaßnahmen gegen-über den Patient:innen und deren Angehörigen sowie den Pflegefachpersonen.

Neben diesen grundlegenden Fragen muss in Zukunft ein nahtloser „digitaler Workflow“ mit Drittanbietern inter-operabel sein, um eine schnelle Integration mit elektroni-schen Patientendatensystemen und anderen (interagieren-den) Komponenten zu ermöglichen. Die Anwendungsbreite derartiger Systeme zeigt bereits jetzt, dass die Grenzen zwi-schen stationärer und ambulanter Versorgung (einschließ-lich auch akutmedizinischer Maßnahmen) im Hinblick auf die technische Unterstützung weiter verschwimmen werden.

8.1 Ländervergleich: Pflege und digitale