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Planmäßig-rationales Handeln

9.1 Hintergrund: Höheres Entlastungs- Entlastungs-potenzial durch Technologien in

innovationsfähigen Einrichtungen

Physische und psychische Belastungen sind in der Pflege ver-gleichsweise hoch, was sich insbesondere in hohen Fehlzei-ten niederschlägt (vgl. Kapitel 7). Sollen die ArbeitskosFehlzei-ten in der Pflege reduziert werden – vor allem durch die Reduktion von Fehlzeiten, aber auch durch kapazitäre Entlastungen in Form von Arbeitszeitersparnissen –, gilt es somit, die Ar-beitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, d. h., Entlas-tungspotenziale durch den Einsatz digitaler Technologien zur Entfaltung zu bringen. Die Interviews mit Pflegefachkräften, dem Controlling und im Bereich Innovation/Digitalisierung zeigten weitgehend einheitlich eine tendenzielle Verbesse-rung sowohl der Arbeits- als auch der Pflegequalität durch einen bewussten und planvollen Technologieeinsatz.

Die Fallstudien legen nahe, dass der Erfolg einer Techno-logie an bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen ge-knüpft ist. Dabei wird ein Phänomen sichtbar, das auch aus Unternehmen in anderen Sektoren bekannt ist: Technologie muss auf einen organisationalen Kontext treffen, der gene-rell durch eine hohe Innovations- und Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet ist und der auf drei gut ausgeprägten Kapi-tal-Typen beruht (Alwert 2006; Hartmann et al. 2014):

Strukturkapital (Ermöglichung von Flexibilität und Ei-genverantwortung bei der Durchführung der Arbeit)

Humankapital (Wissensorientierung und die Fähigkeit, mit flexiblen Strukturen umzugehen)

• Beziehungskapital (Kooperation mit externen Partner:innen über Organisationsgrenzen hinweg).

In diesem Kapitel wird das gesamtgesellschaftliche Nutzen-potenzial innovativer Pflegetechnologien beleuchtet. Es ist davon auszugehen, dass derartige Technologien zur Entlas-tung der Pflegefachpersonen tatsächlich auch im Hinblick auf Kostenersparnisse im Gesundheitssektor bewertet wer-den können – etwa, wenn sie dazu beitragen, die Arbeits-qualität des Pflegepersonals zu verbessern und dadurch krankheitsbedingte Fehlzeiten zu reduzieren sowie die Ver-dichtung der Arbeitszeiten zu verringern.

Ausgangspunkt für die Einschätzung übergreifender ökono-mischer Effekte ist die aus den Fallstudien abgeleitete An-nahme, dass Einrichtungen, die Pflegetechnologien einfüh-ren, über spezifische Eigenschaften verfügen: Eigenschaften, die auch ganz allgemein innovative und anpassungsfähige Organisationen auszeichnen und die dazu führen, dass die Potenziale der Technologien auch wirklich gewinnbringend für alle Beteiligten eingesetzt werden können. Unter Rück-griff auf prägnante Beobachtungen aus den Fallstudien zur Wirkung der Pflegetechnologien (vgl. Kapitel 7) werden zwei dezidierte quantitative Wirkungsabschätzungen zu übergrei-fenden Effekten des Einsatzes von Pflegetechnologien vorge-stellt. Dabei werden ausgewählte Sekundärdaten als Ist-Zu-stand herangezogen (vgl. Abschnitt 3.1). Ziel ist es, auf dieser Basis die Beobachtungen und semiquantitativen Einschät-zungen zu den Effekten eines Einsatzes von Pflegetechnolo-gien zu extrapolieren und damit einen approximierten Kann-Zustand zu beschreiben. Auf diese Weise können potenzielle gesamtgesellschaftliche bzw. -ökonomische Reduktionen von Fehlzeiten und Arbeitszeiteinsparungen näherungsweise quantifiziert (besser: dimensioniert) werden.

Entlastungspotenzial durch Technologien wird hier offen-bar weitestgehend ausgeschöpft. Interessanterweise gehen hohe „Akkufüllstände“ nicht zwangsläufig mit einer hohen Verbleibewahrscheinlichkeit bis zur Rente einher. Die Ursa-chen unterscheiden sich; sie korrelieren nicht zwangsläufig mit einer wahrgenommenen hohen Arbeitsbelastung oder -unzufriedenheit, sondern können auch persönlicher Natur sein. Eine höhere Wechselwahrscheinlichkeit mag in sol-chen Fällen eher ein Zeisol-chen einer grundsätzlisol-chen Offen-heit und Flexibilität sein, auch noch einmal neue Berufswege einzuschlagen. Bei aller Vorsicht in der Interpretation schei-nen also Einrichtungen mit einer hohen Innovations- und Anpassungsfähigkeit und einem höheren Digitalisierungs-grad, verbunden mit einer förderlichen Organisationskultur, auch Arbeitsbedingungen bereitzustellen, in denen sich die Mitarbeiter:innen wohl und leistungsfähig fühlen.

Der Einsatz von Pflegetechnologien wirkt sich in den unter-suchten Fällen überwiegend positiv auf die Ausführung der Aufgaben aus; diese können somit zumindest in Teilen ef-fizienter, effektiver, zufriedenstellender und auch siche-rer ausgeführt werden (vgl. Tabelle 20). Nur eine Pflege-fachperson in den Niederlanden gibt an, die Arbeit könne nicht zufriedenstellender und sicherer ausgeübt werden, was sich jedoch nicht negativ auf ihre Gesamtzufriedenheit aus-wirkt. Insgesamt zeichnet sich ab, dass in bereits innovati-ven und anpassungsfähigen Organisationen im Regelfall ein Diese Kapital-Typen sind insbesondere bei Unternehmen

stark ausgeprägt, die bereits durch eine fortgeschrittene Di-gitalisierung gekennzeichnet sind (Bovenschulte et al. 2018).

Die Kapital-Typen gelten gleichzeitig als Kriterien „guter Ar-beit“ (ebd.); insbesondere das Strukturkapital spiegelt sich auch in den Arbeitsressourcen des Demand-Resource-Mo-dells wider (vgl. Abschnitt 4.2). Zusätzlich zu diesen Kapital-Typen muss eine Organisationskultur vorherrschen, die ge-prägt ist durch positive Dynamik, Offenheit und Förderung der individuellen Kompetenzen sowie Eigenverantwortlich-keit, um die flexiblen, Freiräume bietenden Strukturen auch gewinnbringend nutzen zu können. Andernfalls wird Eigen-verantwortung schnell zur Belastung (Voß 1998).

Die interviewten Pflegefachpersonen verfügen über eine gute Konstitution und Leistungsfähigkeit, wenn es um die beruf-lichen Anforderungen in den Einrichtungen geht; Indikator sind „(hohe) Füllstände des persönlichen Akkus“ (vgl. Ta-belle 19). Die Innovationsmanager:innen aller untersuchten Fälle verorteten ihre Einrichtung bei den proaktiven „Early Adopters“. Im Einklang damit zeichneten sich die Pflege-fachpersonen insgesamt durch eine hohe Arbeitszufrieden-heit aus – mit Ausnahme zweier der befragten Pflegefach-personen in einem Fall in Deutschland. In vier Fällen wird demgegenüber sogar von Pflegefachpersonen betont, die eingeführten Technologien trügen direkt zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit („hoher Akkufüllstand“) bei – das

TABELLE 19 Angaben der Pflegefachpersonen zur Arbeitsqualität tanteLouise

(NL)

Lundby-escentret (DK)

Lergården (DK)

Villa Cathay (CA)

Ev. Heim-stiftung (D)

Breipohls Hof (D)

Hösseringen (D)

Arbeits-zufriedenheit

sehr zufrieden zufrieden sehr zufrieden zufrieden zufrieden sehr zufrieden sehr zufrieden

sehr zufrieden sehr zufrieden k. A. zufrieden zufrieden zufrieden/

sehr zufrieden

sehr zufrieden

sehr zufrieden zufrieden sehr zufrieden

Akku füllstand 80 % 80 % 95 %2 80 %2 50 % 90 % 90 %

100 %2 85 % 95 % 75 % 65 % 80 % 80 %2

90 % 95 % 80 %

Noch bis zur Rente arbeiten können

ja nein1 ja nein1 nein ja ja

ja nein k. A. ja ja3 ja ja

ja ja ja

1 Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass die Antwort nicht auf das Arbeitsumfeld zurückzuführen ist, sondern persönliche Gründe hat.

2 Auf Nachfrage betont die PFP, dass sie den hohen Akkufüllstand auch aufgrund der Technologien hat.

3 Auf Nachfrage würde sich die PFP wünschen, nicht bis zur Rente im Job arbeiten zu müssen, da sie nach einer Trennung nun 80 Prozent arbeitet (vorher 50 Prozent).

ginn der Arbeitszeit effizienter vorbereitet werden und da-durch schneller erfolgen. Somit steht da-durch die verbesserte und versachlichte Kommunikation, die Stärkung der Partizi-pation und auch Zeiteinsparungen (Wegfall von Wegezeiten) insgesamt mehr Zeit für die eigentliche Pflege zur Verfügung.

Diese Angaben werden fast gleichlautend im Kurzporträt der portugiesischen Pflegeeinrichtung bestätigt und sind mit Blick auf die Zeiteinsparungen nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ miteinander vergleichbar (s. u.).

hoher Arbeitsstandard vorherrscht, sodass weitere Neuerun-gen mitunter keine zusätzlichen – wahrNeuerun-genommenen – Ef-fekte bewirken. Das könnte die teilweise unscharfen Muster bei der Bewertung von Technologieeinführungen erklären:

Wo Dinge gut laufen, fallen Verbesserungen nicht mehr so sehr ins Gewicht.

Aber was ist es genau, das hinter diesen Verbesserungen in der Arbeitsqualität durch Pflegetechnologien steckt? Der Fall Hösseringen (Interview mit der IT-Fachkraft/Controlling) gab hier interessante vertiefende Einblicke: Insbesondere die verbesserte Dokumentation der Pflegeleistungen gibt den Pflegefachpersonen offenbar Souveränität und trägt zur Re-silienzstärkung bei; sie schafft eine Evidenzbasis, die den Fachkräften Sicherheit verleiht und Krisen im Arbeitsalltag vorbeugt. Basierend auf intelligenten und vernetzten Doku-mentationssystemen, kann eine partizipative und trans-parente Schichtplanung erfolgen, und Belastungen können gleichmäßiger verteilt werden. Durch die effiziente Einbe-ziehung aller Beteiligten in die standardisierten Prozesse wird die Kommunikation zwischen den Pfleger:innen unter-einander und mit den Pflegeempfangenden gestärkt. Da die Pflegefachpersonen ihr zur Dokumentation genutztes Tablet mit nach Hause nehmen dürfen, können Übergaben zu

Be-TABELLE 20 Inwieweit wirkt sich der Einsatz der Technologie/n auf die Aufgaben aus? (Angaben Pflegefachpersonen) tanteLouise

(NL)

Lundby-escentret (DK)

Lergården (DK)

Villa Cathay (CA)

Ev. Heim-stiftung (D)

Breipohls Hof (D)

Hösseringen (D)

Effizienter k. A. trifft eher zu trifft eher zu teils/teils teils/teils teils/teils trifft eher zu trifft eher zu trifft eher zu trifft eher zu teils/teils trifft eher zu trifft voll zu

trifft voll zu k. A.

Effektiver k. A. trifft eher zu trifft eher zu teils/teils trifft eher zu teils/teils trifft voll zu

teils/teils trifft eher zu trifft eher zu teils/teils trifft eher zu trifft eher zu

trifft eher zu trifft zu

Zufrieden-stellender

trifft zu trifft eher zu teils/teils k. A. teils/teils trifft eher zu trifft voll zu

trifft gar nicht zu1

trifft eher zu teils/teils k. A.2 trifft eher zu trifft eher zu

trifft eher zu trifft zu

Sicherer trifft zu trifft eher zu trifft zu k. A. teils/teils trifft eher zu trifft eher zu

trifft gar nicht zu trifft zu teils/teils trifft zu trifft eher zu trifft voll zu

trifft eher zu trifft zu

1 Auf Nachfrage ist sie aber trotzdem zufrieden.

2 Auf Nachfrage erklärt die Pflegefachkraft, keine Antwort geben zu können, weil sie es schon immer so mache.

2017, S. 25).10 Wie die Ergebnisse der im Rahmen der vorlie-genden Studie durchgeführten Fallbetrachtungen nahelegen, hat der Einsatz von Pflegetechnologien das Potenzial, die Ar-beitszufriedenheit in der Pflege zu verbessern, sofern der Technologieeinsatz mit einer flexiblen, offenen und eigen-verantwortlichen (dabei aber die Mitarbeiter:innen stärken-den) Organisationskultur/Arbeitsorganisation einhergeht.

Somit bieten Pflegetechnologien die Möglichkeit, durch eine erhöhte Arbeitszufriedenheit auch die hohen Fehlzeiten in der Pflege zu reduzieren, damit die Engpasssituation zu ent-schärfen und den Sozialstaat zu entlasten.

Unter Berücksichtigung der oben genannten Kapital-Typen sowie des Zusammenhangs zwischen deren starker Ausprä-gung und der Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Tech-nologien ergeben sich spezifische Pflegekonstellationen.

Diese zeichnen sich durch eine hohe Leistungsfähigkeit der Beschäftigten, ihre Arbeitszufriedenheit (selbstbestimmtes Arbeiten) und ein unterdurchschnittliches Fehlzeitenniveau aus. So liegt der Schnitt von krankheitsbedingten Fehltagen pro Pflegefachperson und Jahr in Breipohls Hof, einer der be-trachteten inländischen Einrichtungen, nur bei 21,70 AU-Ta-gen für das Versicherungsjahr 2019 und damit rund fünfein-halb Tage unter dem hier referenzierten Bundesdurchschnitt.

Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Organisations-, Kompetenz-, Team- und Kulturentwicklung – hier wer-den oftmals Begriffe wie „Spirit“ und „Mindset“ genannt – zentrale Elemente der Verbesserung sind. Bei Hösseringen lag der vergleichbare Wert bei 21,80 AU-Tagen für das Jahr 2020.11 Der Durchschnittswert über beide Einrichtungen be-trägt somit 21,75 AU-Tage pro Person und Jahr.

Für die Effekte der Einführung digitaler Technologien in der Pflege im Hinblick auf eine Reduktion von Fehlzeiten wird

10 Im Sozio-oekonomischen Panel werden die Gesamtkrankheitstage erfragt – sowohl mit als auch ohne Krankschreibung.

11 Zu beachten ist, dass die von Krankenkassen berichteten AU-Tage üblicherweise nicht mit betriebsinternen Zahlen vergleichbar sind.

Letztere erfassen meist nur die tatsächlichen Arbeitstage, während Erstere auch Nicht-Arbeitstage wie Wochenenden und Feiertage mit einbeziehen (Meyer et al. 2018). Breipohls Hof konnte freundlicher-weise beide Werte zur Verfügung stellen, bei den anderen beiden deut-schen Einrichtungen konnten nur die AU-Werte basierend auf den tatsächlichen Ausfalltagen berichtet werden. Er lag in Hösseringen bei 11,8 AU-Tagen für das Jahr 2020 (Januar bis einschließlich September).

Hochgerechnet auf das ganze Jahr ergeben sich somit 15,72 „Netto“-AU-Tage. Breipohls Hof berichtete 21,70 „Brutto“-AU-Tage und 15,65

„Netto“-AU-Tage für das Jahr 2019. Die „Netto“-AU-Tage entspre-chen umgerechnet 72,12 Prozent der Brutto-AU-Tage. Übertragen auf Hösseringen ergeben sich somit rechnerisch (15,72*100)/72,12 = 21,80

„Brutto“-AU-Tage. Die Evangelische Heimstiftung berichtete noch niedrigere Ausfalltage; dies sei jedoch durch das junge Gründungsalter des aktuellen Teams und damit durch die überdurchschnittliche Moti-vation der Teammitglieder begründet.

9.2 Gesellschaftliche und ökonomische